Nach der offiziellen Version, die gleichzeitig eine Legende ist (in der russischen Politik waren diese zwei Wörter schon immer Synonyme), wird behauptet, Putin habe seit seiner Kindheit vom KGB geträumt, und zwar nachdem er die Spionage-Kultserie Siebzehn Augenblicke des Frühlings gesehen und eine Vorstellung von den allmächtigen Geheimdiensten entwickelt habe.
Die zwölf Folgen der Serie wurden erstmals 1978 im sowjetischen Fernsehen ausgestrahlt. Der Protagonist ist ein Maulwurf, ein sowjetischer Spion, der sich als Standartenführer Stierlitz ausgibt, jedoch nach seinem sowjetischen Pass, den er tief in einem Moskauer Safe verbirgt, Maxim Maximowitsch Issajew heißt und den Rang eines Obersts trägt. Julian Semjonow, der Autor dieser Geschichte, war ein einflussreicher sowjetischer Journalist, der Gerüchten zufolge in enger Verbindung mit dem KGB der UdSSR stand.
In Wirklichkeit konnte Stierlitz-Issajew mit dem Komitee für Staatssicherheit gar nichts zu tun haben. Als Maulwurf, das heißt als nomineller Deutscher und Diener des Dritten Reichs, hätte er für die sowjetische Aufklärung arbeiten müssen. Dennoch hielt die Mehrheit der sowjetischen Fernsehzuschauer, die sich nicht allzu gut mit den Nuancen des Aufbaus und der Organisation der Geheimdienste auskannten, Stierlitz traditionell für einen KGB-Mann.
Die Schwarz-Weiß-Serie wurde unglaublich aufwendig gedreht – besonders was die nationalsozialistische Symbolik und die Uniformen betraf. Nach der Erstausstrahlung von Siebzehn Augenblicke des Frühlings fanden in den großen sowjetischen Städten Fanclubs der Hitler’schen Symbolik zusammen, die im Bann des Stylings à la Hugo Boss standen. Das altersschwache sowjetische Regime bekam davon jedoch nicht allzu viel mit. In dieser Periode der sowjetischen Geschichte litt das Regime an einer krankhaften Unterschätzung der Ästhetik und weigerte sich beharrlich, deren mögliche Überlegenheit über die Ethik in Betracht zu ziehen, ganz zu schweigen von den Vorteilen der Schönheit gegenüber einem System sowjetischer ideologischer Dogmen, die so trist waren wie das Novemberwetter.
Eine besondere Augenweide war der Protagonist selbst – Stierlitz in der Darstellung des legendären sowjetischen Schauspielers Wjatscheslaw Tichonow. Hunderttausende von Frauen in der gesamten Sowjetunion verliebten sich nach Siebzehn Augenblicke in Tichonow. Man überschüttete ihn mit romantischen Briefen. Nach offiziellen biografischen Angaben machte die Serie auf Putin den größten und unauslöschlichen Eindruck. Angeblich diente sich WWP sogar aus eigener Initiative bei den Sicherheitsorganen an. Dann kam er in die angesehene Erste Hauptabteilung des KGB der UdSSR (Außenabwehr) und wurde nach Dresden gesandt, als Direktor des sowjetischen Kulturhauses auf der Radeberger Straße.
Es gibt übrigens auch andere Versionen, die nicht weniger überzeugend wirken. Putin hat nie unmittelbar in der Aufklärung gedient – er war der sogenannten Fünften Hauptabteilung des KGB der UdSSR zugeordnet, die sich dem Kampf gegen Andersdenkende und der politischen Fahndung verschrieben hatte. Und Putins Hauptfunktion in Dresden war die Bespitzelung von sowjetischen Dienstreisenden und Studenten.
Ein schönes Märchen erzählt, dass Putin nach dem Fall der Berliner Mauer angeblich das Sowjetische Kulturhaus in Dresden vor Pogromen und Plünderungen bewahrt hat. Aber das ist wohl tatsächlich nur ein Märchen. Der KGB-Karriere des 37-jährigen Majors drohte Ende der 1980er-Jahre das Aus, als er sich mit einem DDR-Bürger namens Klaus Zuchold anfreundete. Sie tranken zusammen Bier, trieben Sport, plauderten über dies und jenes. Und dann stellte sich Ende 1989 heraus, dass Zuchold nicht nur für die Stasi arbeitete, sondern auch für den BND.
Zuchold gab dem westdeutschen Geheimdienst die Namen von fünfzehn Mitarbeitern der Geheimdienste der UdSSR preis, die er von niemand anderem als Putin erfahren hatte. Unseren Helden rettete nur der nahende Zerfall der UdSSR. Er wurde aus Dresden abkommandiert und bekam eine offenkundig erniedrigende Tätigkeit zugewiesen – als Assistent des Prorektors Juri Moltschanow an der Leningrader Universität. Und wäre die Sowjetunion nicht zusammengebrochen und hätte es nicht Anatoli Sobtschak gegeben, wäre Putin bis heute nicht mehr als ein kleiner Bediensteter.
Dennoch ist Putins wichtigster DDR-Freund, über den es gesondert zu sprechen gilt, ein anderer: Matthias Warnig. Der 57-Jährige ist heute eine der einflussreichsten Personen nicht nur auf dem russischen Energiesektor, sondern auch in der russischen Politik im weitesten Sinne. Warnig, den nach der geläufigsten Version 1990 ausgerechnet Klaus Zuchold mit Wladimir Putin bekannt gemacht hat, ist heute Mitglied des Direktorenrats des Energieunternehmens Nord Stream. Nord Stream setzt eines der Lieblingsprojekte von Putin im Energiebereich um – die Gasleitung Nordstrom, die auf dem Grund der Ostsee verläuft. Damit kann Russland als Gasexporteur endlich seine Abhängigkeit von den Transitländern Ukraine und Belarus abschütteln, die ständig versuchen, Putin ihre zusätzlichen Bedingungen zu diktieren. Darüber hinaus ist Warnig nicht-leitendes Mitglied der Bank Rossija, nicht-leitendes Mitglied des Direktorenrats der VTB Bank, der Firma Rosneft und UC RUSAL von Oleg Deripaska(Nr. 14 auf der Forbes-Liste)sowie Aufsichtsratsvorsitzender der Transneft.
Wie die Zeitschrift Forbes schreibt, hat Matthias Warnig bei der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR gedient, die den Ruf hatte, eine der besten der Welt zu sein. Nachdem er für das Wachregiment Feliks Dzierżyński rekrutiert worden war – in die Eliteeinheit des Ministeriums für Staatssicherheit –, hatten die Anwerber der Stasi Interesse an dem stämmigen jungen Mann aus einer gebildeten Familie gezeigt. Nach seinem Wehrdienst immatrikulierte er sich an der Hochschule für Ökonomie (daher sein Spitzname Ökonom). In seiner freigegebenen Stasi-Akte, die Journalisten des Wall Street Journal einsehen durften, steht geschrieben, er habe in einem fünfjährigen Kurs gelernt, wie man in das westliche Bankensystem eindringt.
Danach wurde er ein ausgezeichneter Anwerber, der »methodisch keine Ideologie, sondern seine Freundschaften« nutzte, um andere zur Mitarbeit zu bewegen, erklärte sein ehemaliger Vorgesetzter. Und tatsächlich, unter dem Deckmantel einer Handelsvertretung in Düsseldorf stellte Warnig schnell die nötigen Kontakte her, unter anderem zur Dresdner Bank, und machte wertvolle Dokumente zugänglich.
Warnigs Anwalt stritt ab, dass sein Mandant die Absicht gehabt habe, in die Dresdner Bank einzudringen. Doch Mitarbeiter der Stasi-Unterlagenbehörde konnten einen Teil der bei der Liquidierung des Ministeriums für Staatssicherheit gelöschten Festplatten mit seinen Berichten wiederherstellen.
Als Deutschland wiedervereinigt wurde, bekam Warnig einen Posten bei der Dresdner Bank. 1990 stellte ihn der damalige Vorstand Bernhard Walter ein, der damals für die Aktivitäten der Bank in Osteuropa zuständig war. Auf Nachfrage von Forbes verweigerte Walter eine Antwort, und im Interview mit dem Manager Magazin 2005 behauptete er, von der Geheimdienstvergangenheit des »Referenten aus dem Wirtschaftsministerium der DDR« nichts gewusst zu haben; Warnig habe sich ihm erst einige Jahre später offenbart. Als 1995 das Verfassungsgericht die ehemaligen Agenten aus der Verantwortung für ihre Spionage entließ, hatte sich die Frage endgültig erledigt.
1991 fuhr der Mitarbeiter der Dresdner Bank nach Sankt Petersburg, um die Eröffnung einer Vertretung vorzubereiten. Dafür nutzte Warnig seine Bekanntschaft mit Putin, dem Vorsitzenden des Komitees für Außenbeziehungen der Stadtverwaltung, das über die Genehmigung für die Eröffnung von Büros ausländischer Firmen zu entscheiden hatte.
Mit der Zeit verdichteten sich die Beziehungen zwischen Warnig, der Dresdner Bank und Putin und nahmen einen privateren Charakter an. Die Bankergattin Irene Pietsch, Ljudmila Putinas deutsche Freundin, erinnert sich in ihrem Buch Heikle Freundschaften. Mit den Putins Russland erleben, wie Letztere 1994 einen schweren Autounfall hatte. Sie erzählt, dass ein hochgestelltes Mitglied »einer großen deutschen Bank ihre Behandlung in einer [deutschen] Klinik ermöglichte«. Aber auch mit der Familie Pietsch verband die Putins ein besonderes Verhältnis, allerdings nur so lange, bis Putin Präsident wurde. Familie Pietsch brachte den Putins einige (den sowjetischen Bürgern der 1980er-Jahre) verbotene Früchte des Kapitalismus nahe und bereitete Wladimir Wladimirowitsch damit auf seine Rolle des »Burger King« vor, des bürgerlichen Königs, des ersten auf dem russischen Thron innerhalb der Geschichte des klassischen europäischen Verbrauchertums, der Anfang der 2000er-Jahre freiwillig oder unfreiwillig das Entstehen der Klasse der russischen Bildungsbürger guthieß. Auch er selbst wäre ein typischer Vertreter dieser Klasse, gäbe es da nicht die Last monarchischer Verpflichtungen, die ihm die Familie von Boris Jelzin mitleidlos aufgebürdet hat.
Irene Pietsch erwähnte also eine Familie von Ostdeutschen in Moskau, »die Putin [bereits] in Dresden kennengelernt hatte« und deren Oberhaupt, ein hochgestellter Bankmanager, Ljudmila Putinas Behandlung organisiert hatte. Diese Aussage spricht eher dafür, dass sie sich bereits in Dresden kennengelernt hatten statt in Sankt Petersburg.
Währenddessen legte die Dresdner Bank in Petersburg ordentlich zu. Zu ihren Kunden gehörten nach Warnigs Aussagen das Nowgoroder Chemieunternehmen Akron von Wjatscheslaw Kantor (heute die Nummer 39 in der Forbes-Liste), Kirishinefteorgsintez von Wladimir Bogdanow (Nummer 34) sowie Severstal von Alexei Mordaschow (Nordstahl; Nummer 3). Die Bank verschmähte auch kleinere Transaktionen nicht. 1995 kaufte sie zugunsten einer Schweizer Firma einen Anteil am Grand Hotel Europa.
Dennoch zog es die deutschen Banker vor allem zu größeren Operationen hin. Als Gazprom auf den westlichen Markt drang, indem das Unternehmen 1 Prozent als American Depository Receipts auswarf, waren DrKW und Morgan Stanley die Organisatoren. 1997 erhielt das Monopol eine Kreditlinie über 2,5 Milliarden Dollar von einem Konsortium unter der Leitung der Dresdner Bank für den Bau der Erdgasleitung Jamal nach Europa und zog die DrKW als Berater für die Ausgabe von Wandelobligationen über 3 Milliarden Dollar hinzu.
Warum zog Gazprom die Dresdner Bank und ihre Tochter anderen oft vor? Der ehemalige Chef von Gazprom, Rem Wjachirew, erinnert sich daran, dass sie »die besten Bedingungen boten«. Die Politik der Dresdner Bank wird verständlich, wenn man sich die öffentlichen Ausschreibungen Ende der 1990er-Jahre anschaut. Als zum Beispiel die Föderale Agentur für die Verwaltung von Staatsvermögen Russlands 1998 die Privatisierung von Rosneft vorbereitete, gewann die DrKW gegen die Londoner NatWest Securities das Rennen, weil sie für ihre Arbeit zweieinhalb Mal weniger verlangte.
War es nur das Geld? Nicht umsonst nennt der Chefexekutivdirektor der Deutschen Bank Russland, Igor Loschewski, Warnig einen »einzigartigen Relationship-Banker«. Die Dresdner Bank und Warnig als ihr Manager waren in der Lage, den Bedürfnissen des Staates gerecht zu werden. Hier einige Beispiele.
Anfang der 2000er-Jahre brauchte Wladimir Putin, der einen Krieg gegen einige Oligarchen (vor allem gegen Michail Chodorkowski) angezettelt hatte, einen Bankier, der bereit war, seinen Ruf und juristische Konsequenzen zu riskieren. Die Schlacht begann mit der Übernahme des Fernsehsenders NTW durch Gazprom im Jahr 2000. Nach erlangtem Sieg wurde Gazprom-Media trotzdem nicht froh – monatlich mussten nun 7 Millionen Dollar für den Sender aufgebracht werden. Daher wollte die Chefetage wenigstens einen Teil der Firma zum Verkauf ausschreiben, und man fand auch potenzielle Käufer: die Alfa-Group, Interros, die Meschprombank und die deutsche Kirch-Gruppe. Man wurde zwar nicht handelseinig, dennoch wurde eine Schätzung der Aktiva vorgenommen.
Zunächst beauftragte man die Deutsche Bank mit der Schätzung, wechselte dann aber bald zu einem Taxierer der Dresdner Bank, erinnert sich Loschewski, der damals bei der Deutschen Bank arbeitete. Warum? »Die vernünftige Verbindung von hervorragenden persönlichen Verbindungen sowie die Preisvorstellungen« hätten dabei eine Rolle gespielt, erklärte er. Das bedeutete: Keine Arbeit – keine Bezahlung, denn Gazprom hatte nicht vor, die Deutsche Bank für einen unerledigten Job zu bezahlen. Warnig zeigte sich dennoch als Meister des Kompromisses. Er bestand darauf, dass die Bank Geld bekommen sollte, der Deal war schließlich nicht ihretwegen geplatzt. Schließlich war also auch die Deutsche Bank zufrieden, erinnert sich Loschewski: Man hatte das Risiko einer Rufschädigung vermieden und trotzdem Geld verdient.
In Putins Umfeld wuchs das Vertrauen in Warnig. 2003 wurde der Bankier Mitglied des Direktorenrats der Bank Rossija, die Freunden des Präsidenten gehörte. Er war freundlich zu den Hauptaktionären und ein achtbarer Direktor mit Verbindungen zu anderen internationalen Banken. An Rossija verkaufte Gazprom 2004 den Eigenversicherer Sogaz, ein Unternehmen, das daraufhin schnell neue Kunden in Form von staatlichen Firmen gewann und wuchs. Über Sogaz erlangten sie die Kontrolle über Leader JSC, die über 43 Prozent der Gazprombank verfügte. Als der Aufsichtsratschef von Rossija, Juri Kowaltschuk, später Fernsehsender sowie Reklame- und Zeitungsvertriebe aufgekauft hatte, wurde er mit seiner Bank zum Medienmogul.
Warnigs Loyalität wurde jedoch erst mit dem »JUKOS-Fall« so richtig auf die Probe gestellt, als das Imperium von Michail Chodorkowski wegen Steuerschulden unter den Hammer kam. Zunächst stand 2004 das Herzstück von JUKOS, die Juganskneftegaz, zum Verkauf. Die Regierung bestellte die DrKW als Gutachter. Diesen Auftrag erhielt Warnigs Bank ohne eine vorherige Ausschreibung. »Ich bin nicht sicher, ob viele Investitionsbanken daran hätten teilnehmen wollen wegen des Risikos einer Rufschädigung«, meint die Analytikerin von Standard & Poor’s Elena Anankina.
Indem sie sich der Begutachtung von Juganskneftegaz annahm, geriet die Dresdner Bank in eine heikle Situation. Nimmt man den Marktwert, ist der Auftraggeber unzufrieden. Senkt man den Preis, wird es einem die Wirtschaftswelt wohl kaum vergessen können. Die Dresdner Bank zog sich aus der Affäre, wenn auch nicht sonderlich elegant: Sie schätzte Juganskneftegaz auf 18,6 bis 21,1 Milliarden Dollar, jedoch ohne die Schulden zu berücksichtigen. Aber die Dresdner Bank war auf Nummer Sicher gegangen: Unter Berücksichtigung der Steuerforderungen konnte der Wert des wichtigsten Förderunternehmens JUKOS (Juganskneftegaz) auf 10,4 Milliarden Dollar sinken. Im Falle des Verkaufs eines Minderheitenpakets wurde ein Diskont von 15 bis 60 Prozent vorgesehen.
Selbstverständlich zogen die Beamten letztere Variante vor: 76,8 Prozent von Juganskneftegaz (100 Prozent gewöhnlicher Aktien) wurden für 8,6 Milliarden Dollar verkauft. Käufer wurde die Eintagsfliege Baikalfinanzgroup, die wenige Tage später von Rosneft aufgekauft wurde. Der Vorstandsvorsitzende von JUKOS, Steven Theede, nannte den Verkauf von Juganskneftegaz einen »von der Regierung organisierten Diebstahl als politischen Racheakt«. Dieselbe Einschätzung (»Raubüberfall am helllichten Tag«) gab Andrei Illarionow ab, der damals Putins Berater in Wirtschaftsfragen war.
Aber der Dresdner Bank wurden keine Vorwürfe gemacht, erinnert sich der ehemalige Jurist von JUKOS, Dmitri Gololobow: »Die Schätzung der Bank war marktnah, da gibt es nichts zu bekritteln.« Warnigs Bemühungen wurden honoriert. Die Dresdner Bank übernahm eine Beraterfunktion bei der anstehenden Verschmelzung des erstarkten Rosneft mit Gazprom (die dann aber doch nicht zustande kam). Warnig hatte danach noch des Öfteren staatliche Interessen zu befriedigen. 2005 war er beteiligt an der Syndizierung eines Kredits über 7,5 Milliarden Dollar für die staatliche Rosneftegaz. Für das Geld kaufte die Firma bei ihren »Töchtern« 10,74 Prozent der Aktien von Gazprom. Ein weiteres Jahr später war die Dresdner Bank Mitorganisator des Börsengangs von Rosneft.
Es scheint, als sei Warnig ein überaus erfolgreicher Mann: Er ist einflussreicher Chef der Nord Stream, der schnell wachsenden Gazprom Schweiz, Mitglied der Direktorenräte dreier großer staatlicher Unternehmen mit überschaubaren Funktionen. Dieses idyllische Bild wurde zerstört, als die En+ Group unter der Kontrolle von Oleg Deripaska Warnig in den Direktorenrat von UC Rusal holte. Der deutsche Fachmann für versteckte, stille Transaktionen fand sich wieder in der Hölle eines Korporationskrieges der größten Aluminiumfirma der Welt.
Dennoch wäre es naiv, wie viele zu glauben, dass Putin es war, der Warnig Oleg Deripaska aufgezwungen hat. Es war eher anders herum. Viele Jahre hatte Deripaska als Hauptaktionär von Rusal politische Rückendeckung durch die Familie Boris Jelzins erhalten: Im Jahr 2001 heiratete der Geschäftsmann Polina, die Tochter von Jelzins Schwiegersohn Walentin Jumaschew, der grauen Eminenz im Kreml. Man nannte ihn daraufhin verdientermaßen »Chefschwiegersohn« und »doppelter Schwiegersohn«. Doch zum Ende des letzten Jahrzehnts wurde offenbar, dass die elitäre Ehe bröckelt. 2011 wurde die Frage nach einer Scheidung von Oleg und Polina hochaktuell. Umso mehr, als Jumaschews Tochter schon einen neuen Freund hatte – Dmitri Rasumow, Top-Manager der Firma ONEKSIM, die von Michail Prochorow kontrolliert wird, einem Minderheitenaktionär von UC Rusal und Deripaskas Gegner. In diesem Fall brauchte man Warnig als Schutzschild und als direkten Kommunikationskanal zu Putin.
Aber das ist alles nur Geschäftemacherei, wenn auch in großem Maßstab. Von einer Wiedergeburt sowjetischer Geheimdienste auf russischem Territorium kann auf keinen Fall die Rede sein. Damit erinnert der amtierende Präsident der Russischen Föderation mit seiner KGB-Geschichte eher an Harry Pendel aus John le Carrés bekanntem Roman Der Schneider von Panama als an James Bond, den Geheimdienst-Superman Ihrer Royal Highness.
Bekanntlich wird Harry Pendel, ein Schneider, der Anzüge für den Präsidenten der zentralamerikanischen Republik Panama näht, von der britischen Aufklärung angeworben, die ihm mit kompromittierendem Material konfrontiert: dem Beweis, dass der Schneider entgegen eigener Aussagen nie ein Atelier in der Londoner Savile Row betrieben habe – dem Gral der Schneiderkunst. Lange Zeit gibt sich Pendel als Spion aus, der scheinbar vertrauliche Informationen bezüglich des Präsidenten von Panama liefern kann, tatsächlich aber nur seine Kleidergröße kennt. Schließlich gelingt es Pendel, seinen Anwerber davon zu überzeugen, er kontrolliere ein Netz von Aufständischen, die den Verkaufsvertrag des Panamakanals an China zunichtemachen und durch die Organisation der Verschwörung viel Geld bekommen könnten. Nur durch ein Wunder schlägt die Situation nicht in einen Krieg um.
Zur Außenaufklärung hatte Putin immer ein vorsichtiges, argwöhnisches, zeitweise auch herablassendes Verhältnis. Vermutlich ging er sogar davon aus, der russische Auslandsnachrichtendienst (Nachfolger des PGU im KGB der UdSSR) habe Artjom Borowik die Papiere über seine Kindheit ausgehändigt. Denn eine der ersten großen Kaderentscheidungen Putins als Präsident war im Mai 2000 die Auswechslung des Direktors für Außenaufklärung Wjatscheslaw Trubnikow (eine Kreatur von Jewgeni Primakow) gegen Sergei Lebedew (ehemaliger sowjetischer Resident in der DDR). Und 2007 machte Putin den Ex-Ministerpräsidenten Michail Fradkow (genannt Winnie Pooh) zum Chef der Aufklärung – für die Veteranen im Ruhestand war das nur ein schlechter Witz.
Unter Fradkow erreichte die Degradierung der russischen Außenaufklärung endgültig einen skandalösen Zustand: Es kam zum »Chapmangate« (benannt nach der lockeren Frauenperson und Spionin russischer Staatszugehörigkeit Anna Chapman), als einige Menschen, die in keinerlei Verbindung zur Außenaufklärung standen, von amerikanischen Geheimdiensten als russische Spione verhaftet wurden. Danach stellte sich heraus, dass man auf ihre Namen einfach nur große Summen abgeschrieben hatte, jedoch keiner von ihnen einer ernsthaften Spionagetätigkeit nachgegangen war. Die Mittel waren also einfach gestohlen worden. Ungeachtet dessen haben Moskau und Washington den Fall vertuscht, und Fradkow durfte absurderweise seinen Posten behalten.
Putin ist der Totengräber des echten sowjetischen KGB, er ist der schwarze Rächer, den die Geschichte auserkoren hat, den Geheimdienst mit all seinem totalitären Glanz zu Fall zu bringen. Wer das nicht versteht, kann weder Putins Vergangenheit noch seine Gegenwart oder Zukunft angemessen analysieren.