Kapitel 8: Auf der Suche nach einem Bruder – Roman Abramowitsch

Putin hat eine Stärke, die viele unterschätzen. Wie Jelzin glaubt er an die Loyalität und nicht nur daran, dass zwischenmenschliche Beziehungen von eigennützigen Manipulationen beherrscht werden. WWP fand in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre in Moskau nicht nur die neue Liebe eines Vaters, sondern auch die eines Bruders. Sein Bruder wurde Roman Abramowitsch, ein postsowjetischer Geschäftsmann par excellence und exemplarisches Geschöpf der kriminellen Privatisierung der Jelzin-Zeit.

Eigentlich hatte Abramowitsch Anfang 1999 den damaligen Verkehrsminister Nikolai Aksjonenko für Jelzins idealen Nachfolger gehalten. Mit der Zeit jedoch schwenkte er auf Putin um. Der Glaube des Magnaten, WWP würde die Seinen nicht verraten, spielte für Putins gehobene Karriere eine bedeutende Rolle.

Sein erstes Geld hatte Abramowitsch als Soldat der sowjetischen Armee gemacht. Er diente in der Nähe der Stadt Kirschatsch im Verwaltungsgebiet von Wladimir, also buchstäblich im Herzen von Zentralrussland. Die folgende Geschichte erzählte Jelzins Tochter Tatjana Djatschenko in ihrem Blog auf der Website der Rundfunkstation Echo Moskau, und wir haben keinen Grund, sie nicht zu glauben: Abramowitsch war der heimliche Anführer einer Gruppe von Soldaten gewesen, die einen Wald abholzen sollten und mit dieser körperlich schweren Arbeit die ansässigen Bauern beauftragten. Daraufhin hatte er einen Teil des Holzes für brauchbares sowjetisches Geld an eben diese Bauern verkauft und sich zum ersten Mal als Unternehmer in jeglichem Sinne dieses Wortes gezeigt.

Der Weg des erwachsenen Geschäftsmanns Abramowitsch begann mit der Genossenschaft Ujut, die Kinderspielzeuge aus einem gesundheitsschädlichen Kunststoff herstellte. Abramowitschs Partner Jewgeni Schwidler und Waleri Ojf wurden späterhin Top-Manager der Erdölfirma Sibneft, die auf Abramowitschs Initiative hin geschaffen und privatisiert wurde, und schließlich auch Milliardäre – und zwar jeder international zugelassenen Währung.

Den ersten Schritt zu echten, »ausgewachsenen« Geschäftserfolgen machte Abramowitsch jedoch 1992, wonach er von der Moskauer Staatsanwaltschaft des Raubes eines ganzen Eisenbahnzugs von 55 Tankwagen mit Dieselkraftstoff des Erdöl verarbeitenden Betriebs von Uchta beschuldigt wurde. Der Geschäftsmann verbrachte einige Tage hinter Gittern, aber die russischen Rechtsorgane waren schon damals wild auf alle möglichen Liebesgaben, und bald fragte niemand mehr nach dem Verbleib der 55 Tankwagen. Abramowitsch hingegen wandelte sich zum achtbaren Chef der Erdölfirma Nojabrskneftegaz.

1995 machte Michail Fridman, Inhaber des Alfa-Konsortiums und wichtigster Partner des Putin-Freunds Pjotr Awen, den 28-jährigen Abramowitsch (nach sowjetischen Maßstäben ein grüner Junge) mit dem damals mächtigen Boris Beresowski bekannt, einem der Architekten von Jelzins zynischem Sieg 1996. Die Bekanntschaft wurde auf den Karibischen Inseln geschlossen, wohin die vier – Beresowski, Abramowitsch, Fridman und Awen – von Moskau mit einem Privatjet geflogen waren.

Sie fragen sich, warum man dafür einen 14-Stunden-Flug auf sich nehmen muss? Der klassische russische Geschäftsmann jener Zeit würde Folgendes antworten: In Russland kann man geheime Angelegenheit nicht laut besprechen, alles wird abgehört, ringsum sind Feinde. Die eigentliche Antwort lautet indes ganz anders. Es gibt das russische Wort pont, das man ungefähr übersetzen kann als »Aktion zur Demonstration der eigenen Erlesenheit«. Diejenigen, die innerhalb weniger Jahre von Bettlern zu Milliardären aufgestiegen waren, wollten die anderen – und vor allem sich selbst – davon überzeugen, dass ihnen das schnell erworbene Geld quasi übernatürliche materielle Möglichkeiten eröffnet hatte. Die Sibneft-Frage auf den Karibischen Inseln zu diskutieren war wirklich cool. Im dreckigen und verschneiten Moskau wäre dasselbe Gespräch dagegen so banal gewesen wie ein Witz mit Bart.

Beresowski und Abramowitsch beschlossen, für sich die Erdölfirma Sibneft auf Grundlage eines Teils der Aktiva des staatlichen Rosneft zu gründen. Wie das alles vor sich ging, erzählten sie in aller Ausführlichkeit bei ihrem Gerichtsprozess 2011 in London, bei dem Beresowski versuchte, vom anderen 5,6 Milliarden Dollar zu erstreiten, die dieser für die Aktien des Unternehmens angeblich nicht vollständig bezahlt hatte. Die Verpflichtungen der Partner waren recht genau benannt. Beresowski hatte es übernommen, von Boris Jelzin den Erlass über die Schaffung von Sibneft zu erwirken und für den Schutz des Unternehmens auf der Ebene der föderalen Macht zu sorgen. Abramowitsch sollte die Loyalität der regionalen Machthaber und des in Sibneft zu übernehmenden Unternehmensmanagements sowie der örtlichen Gangster erwirken.

Und jeder erfüllte seine Aufgaben, auch wenn die Ex-Partner sie dann unterschiedlich interpretierten: Beresowski behauptete, er sei bei Sibneft ein vollberechtigter Partner gewesen, dem 50 Prozent des Eigentums und Gewinns zustanden, und Abramowitsch meinte, ihm gehörten 100 Prozent der Firma und Beresowski sei lediglich die Funktion einer kryscha, also eines Gewährleisters der formellen und informellen Sicherheit dieser Star-Partnerschaft zugekommen.

Dank des Londoner Prozesses, der für Beresowski im September mit einer totalen Niederlage endete, wird das russische Wort kryscha mittlerweile oft auch ohne Übersetzung benutzt und geht langsam in viele Sprachen ein, ähnlich wie zuvor Sputnik, Perestroika oder Pogrom. Bauernopfer von Sibneft wurde jedenfalls der Chef des Omsker Erdöl verarbeitenden Schlüsselbetriebs, Iwan Lizkewitsch, der 1995 überraschenderweise beim Baden im Irtysch ertrank. Lizkewitsch hatte sich gegen die Gründung einer neuen Erdölfirma ausgesprochen und auch ganz sicher gegen die Einbeziehung des von ihm geleiteten Betriebes.

WWP war nie ein Mörder, aber er schaffte es immer rechtzeitig, die Augen zu schließen. »Ich mache jetzt die Augen zu, und dann seid ihr alle weg.« Das betrifft natürlich nicht nur den glücklosen Lizkewitsch, den der amtierende russische Präsident sicherlich längst vergessen hat, sondern auch die Häuser, die 1999 in einigen russischen Städten explodierten, woraufhin der zweite Tschetschenien-Krieg ausbrach, der Putin an die Macht brachte. Und es betrifft sicher noch vieles andere mehr.

Ursprünglich schmiedete ihr Waisenstand Putin und Abramowitsch zusammen – beide waren ohne einen richtigen Vater aufgewachsen und hatten ihre Eltern in den höheren Rängen der damaligen Staatsordnung gefunden. Und wer versteht eine Waise besser als eine andere Waise? Zudem hatten sie ähnliche Funktionen übernommen – den Starken dieser Welt zu besonderem Komfort zu verhelfen. Putin trug Sobtschaks Aktentasche, Abramowitsch grillte auf Jumaschews Datscha Schaschlikspieße, denn dort versammelte sich die offizielle und inoffizielle Hautevolee aus Jelzins Umgebung zum Ausspannen.

Was immer man auch sagt, Roman Abramowitsch ist bis zum heutigen Tag der einflussreichste Geschäftsmann in Russland. Er kann sich alles erlauben. Als Putin Präsident war, wurde Abramowitsch 2001 formal Gouverneur des Autonomen Kreises der Tschuktschen, der nordöstlichsten Region Russlands. In der Permafrostzone mit geringer Bevölkerungsdichte beträgt das mittlere Einkommen eines Erwachsenen nicht mehr als 50 Dollar im Monat. Seine staatlichen Verpflichtungen und die mit ihnen verbundenen Rituale hielten den Magnaten nicht davon ab, in London zu leben, sich Paläste, Flugzeuge und Jachten zu kaufen und Besitzer des Fußballclubs Chelsea zu werden.

Ungeachtet des Kinderglaubens vieler Beobachter, besonders jener aus dem Westen, Putin schätze einen derartigen Lebenswandel nicht, wurde Abramowitsch vom Kreml niemals kritisiert. Er war immer ein gern gesehener Gast, sowohl auf den pompösen Sitzungen des Staatsrats im Kreml als auch bei den informellen Empfängen Wladimir Putins in seiner Residenz Nowo-Ogarjowo. Und im Herbst 2012 bat der russische Präsident Roman Abramowitsch, sich als Vermittler im Streit zwischen den Aktionären der größten Metallurgiegesellschaft Russlands, der Aktiengesellschaft Norilski Nickel, zur Verfügung zu stellen. Die beiden Haupteigner, Wladimir Potanin und Oleg Deripaska, die über etwa gleich große Aktienpakete verfügen, konnten sich fünf Jahre lang nicht darüber einig werden, wie diese zu verwalten seien.

Nun erhielt Abramowitsch die Sperrminorität der Mega-Korporation, die es ihm ermöglichte, die Partner zu versöhnen und, falls erforderlich, ein schwerwiegendes Urteil auszusprechen, wer von ihnen in menschlicher Hinsicht im Recht war. Putin selbst hatte sich nicht entschließen können, als Vermittler aufzutreten, auch wenn die an diesem Streit Beteiligten das lange Jahre gehofft hatten.

Falls Abramowitschs ausdrückliche Ergebenheit gegenüber dem Judaismus keine Erfindung ist, wird er sicher für Putin beten, denke ich. Gerüchte darüber, dass der Tyrann dem Oligarchen zürnt, verbreitet in der Regel der Oligarch selbst: damit man ihn nicht allzu sehr beneidet. Und wenn doch mal jemand wirklich neidisch wird auf seinen Lebensstil, dann ist es Putin selbst. Denn der russische Präsident ist gezwungen, die vorsätzlich verschmutzten Gewässer des Schwarzen Meeres auf dem bescheidenen staatlichen Kutter Kawkas zu überschiffen.

Abramowitsch hingegen überquert den Weltozean auf Jachten des 22. Jahrhunderts. Im Sommer 2010 kam er zur Fußballweltmeisterschaft nach Südafrika auf einem »Kahn«, der kurz zuvor in der Hamburger Werft Blohm & Voss gebaut worden war. Die Eclipse misst 170 Meter Länge, und sie hat neun Decks und fünf Ausgänge, was sie zu einem der sichersten Ozeangefährte der Menschheitsgeschichte macht. Die Jacht ist sogar für den Fall eines großen Krieges gerüstet. Es gibt ein Raketenfrühwarnsystem sowie ein U-Boot und zwei Hubschrauber, falls jemand unerwartet die Flucht ergreifen muss. Ein besonderes Feature der Eclipse ist das »Antipaparazzi-System«, das jegliches Ansinnen aufdringlicher Fotografen, Genrebilder aus dem Leben Abramowitschs, seiner Familie oder von Gästen abzulichten, im Keim erstickt. Von derartigem Luxus kann Putin nur träumen.

Bereits 2004 wurde Abramowitschs Lifestyle zu einer europäischen Legende, und zwar während der Fußballeuropameisterschaft in Portugal. Er machte dadurch von sich reden, dass er jeden Abend in fünf verschiedenen Restaurants einen Tisch bestellte, aber nur eines von ihnen aufsuchte. Und für den Blumenschmuck im bekannten Lissaboner Lokal Gambrinus gab er 1 000 Euro aus, ohne überhaupt hinzugehen. 2009 wurde in amerikanischen Zeitungen eine Rechnung veröffentlicht, die ihm ein New Yorker Restaurant ausgestellt hatte. Vier Personen hatten für 50 000 Dollar gespeist, der Löwenanteil war für einen französischen Auslesechampagner ausgegeben worden.

»Putins Bruder« kann es sich hinter dem Steuer verschiedener Raritätsautos gut gehen lassen, wie zum Beispiel eines Ferrari FXX oder eines Rolls-Royce Corniche. Putin hingegen ist gezwungen, als scheinbar eingefleischter Autoliebhaber Reklame zu machen für die russische Billigmarke Lada Kalina, mit der er in Begleitung von Leibwächtern und Journalisten im Sommer 2011 durch Sibirien kurvte. Oder er muss das nicht existierende Hybridfahrzeug ё-mobil demonstrieren, die Erfindung eines russischen Geschäftsmanns, welche noch nicht produziert wird.

Auch wenn ich kein Paparazzo bin, habe ich trotzdem eine Story festgehalten. Es war im Sommer 2007 in Venedig, während der Biennale di Venezia. »Putins Bruder« kam dorthin auf seiner alten Jacht, die ein wenig schlechter ist als die Eclipse. Von den Ausmaßen her konnte es das Boot durchaus mit dem Ozean-Kreuzfahrtschiff aufnehmen, das ein paar Mal am Tag die Gewässer der venezianischen Lagune passiert. Die Jacht ankerte an einem günstigen Platz, direkt am bekannten Arsenale in der Nähe der Giardini, also dort, wo die Biennale stattfindet. Es konnte ja nicht sein, dass der russische Magnat weit entfernt vom Ziel seiner Reise anlegt! Noch weniger konnte er zulassen, dass Touristen und sonstige Gaffer nahe an seine Jacht treten und sie mit ihren unwürdigen Fingern berühren.

Deswegen wurde entgegen allen italienischen Gesetzen und venezianischen Gebräuchen die Anlegestelle des Boots mit einem Zaun abgegrenzt. Dieser hatte eine Pforte, in der sich ein Wachhäuschen mit einem Polizisten befand. Um diese Sondermaßnahme zum Schutz von Abramowitsch wenigstens irgendwie zu rechtfertigen, musste die Verwaltung von Venedig so tun, als würden Reparaturarbeiten durchgeführt. Lavori in corso!, drohte eine Aufschrift über dem Zaun, obwohl von Arbeiten dieser Art nichts zu sehen war.

Jedoch konnte nicht einmal der große Oligarch erreichen, dass man seinetwegen das Ausstellungsgelände für den Publikumsverkehr sperrt. Und so spazierte er in Jeans und T-Shirt durch die Gärten der Biennale, während das Glück dieser von der blauen Lagune durchwehten Minuten über sein undurchdringliches Gesicht huschte.

Auf all das muss WWP verzichten, egal wie reich, berühmt und mächtig er als Oberhaupt des weitläufigsten Landes der Welt auch sein mag.

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