Einleitung

Über Wladimir Wladimirowitsch Putin gibt es Dutzende Bücher, Tausende Artikel und Millionen interessanter, scheinbar kluger und zutreffender Bemerkungen, und zwar in allen Sprachen der Menschheit – von Deutsch bis Suaheli. Man könnte meinen, dass wir mittlerweile alles über diesen Mann wissen, abgesehen von dem, was prinzipiell nicht bekannt werden soll und was erst Jahre nach seinem politischen, physischen oder einem anderen, wissenschaftlich verifizierbaren Tod ans Licht kommt. Wozu dann noch ein weiteres Buch über ihn?

Dafür gibt es einen guten Grund.

Alle bisherigen Publikationen haben uns Putin nicht erklärt. Denn fast immer gehen sie von falschen Voraussetzungen und Vermutungen aus, nicht selten scheitern die Autoren auch an ihrer ideologischen Voreingenommenheit. Für die Mehrheit der Biografen des amtierenden russischen Präsidenten ist diese jedoch nicht äußerlich und marktorientiert, sondern erstaunlicherweise innerlich und ehrlich. Einige halten den zweiten demokratisch gewählten Präsidenten der Russischen Föderation für einen Retter und Erneuerer des Staates, für jemanden, der das Tor zu einer leuchtenden russischen Zukunft aufstößt. Und die Autoren passen alle Gegebenheiten aus Putins Leben, seien sie real oder fiktiv, dieser Einschätzung an.

Andere wiederum sind voller Wut und Hass auf den »Kreml-Tyrannen« und bezichtigen ihn der Zerstörung der jungen russischen Demokratie, auf deren Geschmack mein Land erstmalig Ende der 1980er-Jahre kam, als das scheinbar unerschütterliche Imperium von Lenin und Stalin buchstäblich im Handumdrehen zusammenbrach.

Sowohl die einen als auch die anderen sind im Unrecht – ob sie ihn nun vergöttern oder den Kreml-Herrscher hasserfüllt kritisieren. Keiner hat seinen Helden beziehungsweise Antihelden in erforderlicher Weise durchschaut. Ich werde es versuchen.

Dieses Buch wurde geschrieben, um auch die hartnäckigsten Mythen über Wladimir Putin zu widerlegen und ihn so zu zeigen, wie er ist, aus Staub und Erde, wenn auch nach vierzehn Jahren großer Macht von bester Qualität. Ich hoffe, Folgendes zeigen zu können:

•Putin war nie als Auslandsspion tätig, wovon alle Welt ausgeht. Mehr noch, er kann nicht einmal dem System des KGB der UdSSR zugerechnet werden. In diesem System war er ein Außenseiter. Der KGB hätte den künftigen Präsidenten der Russischen Föderation Ende der 1980er-Jahre fast zugrunde gerichtet, als er seine sowjetische Karriere zum Entgleisen brachte. Die politische Biografie Putins beginnt mit Anatoli Sobtschak, dem ehemaligen Vorsitzenden des Leningrader Stadtsowjets der Volksdeputierten (1990 bis 1991) und Bürgermeister der Stadt Sankt Petersburg (1991 bis 1996) – als leidenschaftlicher Gegner des Sowjetsystems und erklärter Antagonist und Zerstörer der Geheimdienstmaschinerie.

•Putin ist der wahre und getreue Nachfolger Boris Jelzins. Er hat den strategischen Kurs seines Vorgängers nicht zerstört, wie die russische (und internationale) liberale Öffentlichkeit gern äußert, sondern ihn, ganz im Gegenteil, bis an seine ursprünglich gesetzte, logische Grenze geführt. Jelzin sollte seinem Nachfolger vom Jenseits aus ebenso dankbar sein, wie er es auch im Diesseits war. Aber auch Putin hatte und hat allen Grund, dem ersten Präsidenten dankbar zu sein. Jelzin erwählte ihn im Sommer 1996 nach dem dramatischen Einbruch Sobtschaks bei den Bürgermeisterwahlen in Sankt Petersburg. Damals hatte das frisch gewählte Oberhaupt der ehemaligen russischen Hauptstadt im Norden, Wladimir Jakowlew, den einflussreichen Mitgliedern von Sobtschaks Clique die Tür gewiesen – allen voran Wladimir Putin. Daraufhin holten Jelzins Leute den leicht panischen Putin, der schmerzvoll ein erneutes Scheitern seiner gerade warmgelaufenen Karriere erwartete, nach Moskau. Und zwar in die Präsidialverwaltung auf einen Posten, der zwar klein war, seiner Karriere jedoch einen neuen Anstoß geben konnte. Jelzin im Jahr 1996 wurde für Putin das, was Sobtschak im Jahr 1990 für ihn gewesen war.

•Putin ist Geschäftsmann und ein Freund des Business. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Auslegung dieser These findet sich weiter unten.

•WWP (wie man den russischen Präsidenten auch nennt) hat weder die unter Jelzin entstandene Oligarchie noch den Einfluss der mächtigsten Unternehmer der 1990er-Jahre zerstört. Im Gegenteil – die Oligarchen der Jelzin-Zeit wurden unter Putin noch stärker und reicher. Es gibt einige Ausnahmen, aber sie bestätigen nur die Regel.

•Putin hat nie die für Russland legendäre Machtvertikale geschaffen, über die so viel geschrieben und gesagt wurde. Unter ihm entstand eine Horizontale der Macht, die aus einer unzählbaren Menge von Gewaltzentren besteht. In jedem dieser Zentren, die das große Geld mit der zivilen und staatlichen Bürokratie vereinen, entsteht die russische Macht, hier lebt sie und stirbt von Zeit zu Zeit ab. Von vielen Entscheidungen, die an den Knotenpunkten dieser Horizontalen getroffen werden, erfährt Putin als Letzter oder nie. Die Philosophen der Postmoderne würden ein solches Machtmodell »rhizomatisch« nennen, ein System­administrator »verlinkt«. Auf keinen Fall jedoch kann man von einer strengen Hierarchie sprechen, an deren Spitze Putin steht, so wie heute die Mehrheit der Menschheit denkt.

•Putin war nie ein Imperialist und ist es auch heute nicht. Er ist ein Kleinbürger, dem imperiale Ausmaße Angst machen, wenn es um Ideen, Konzepte, Maßnahmen, Gegenmaßnahmen oder andere langfristige Entscheidungen geht. Keines der bisherigen russischen Staatsoberhäupter hat so viel zum Zerfall des Russischen Imperiums und zur Umwandlung des Landes in einen Nationalstaat europäischen Musters beigetragen, wozu die freiwillige und unfreiwillige Diskreditierung von imperialen Symbolen gehört, die den Russen bereits in Fleisch und Blut übergegangen sind. Darin liegt ja das Paradox: Indem er die imperialen Symbole konserviert, setzte er die zügellose Kraft des imperialen Zerfalls frei.

•Putin ist antisowjetisch. Alles Graue und Grässliche, was an die Sowjetunion erinnert, ist ihm zuwider. Und sei es nur deshalb, weil er in der Tragödie der UdSSR ein Pechvogel war, während er im Vaudeville der Russischen Föderation ein mustergültiger Glücksritter wurde.

•Putin ist russophob. Und zwar ganz klassisch und par excellence, als habe er sich aus einer wissenschaftlichen Broschüre materialisiert. Das russische Volk betrachtet er äußerst kritisch, er traut ihm keine kontinuierliche schöpferische Tätigkeit zu. Putin meint, die Russen seien untätige Schwärmer. Wahrscheinlich würde er der These zustimmen, dass die Russen Heilige sein können, dabei aber unredlich sind, wie der russische Denker Konstantin Leontjew es formulierte. Wie aber soll man einen modernen Kapitalismus aufbauen, wenn es an der banalen, langweiligen, bourgeoisen Ehrlichkeit mangelt? Putin meint, sowohl die Macht als auch die Philosophie in Russland müssten deutsch sein. Bleibt nur die Frage, wie man das erreicht.

•Putin hat keinen der Kriege gegen Tschetschenien angefangen. Er hat weder Anna Politkowskaja noch Alexander Litwinenko umgebracht. Generell ist er kein Mörder, weder von seinen Intentionen noch von seiner Mentalität her. Und wenn er dennoch Mordbefehle ausgegeben hat oder davon wusste, dass sie einem seiner Freunde erteilt wurden, hat er dabei stets Augen und Ohren verschlossen.

•Putin ist kein Macho und kein atemberaubender Liebhaber. Er ist ein Held der geschlechtlichen Einsamkeit mit unklarer (oder wie man es gebildet ausdrückt: amorpher) Sexualität. Die Mehrzahl der Gerüchte über seine Eroberungen und Affären sind Werbetricks, die mal besser funktionieren (wie zum Beispiel die Affäre mit der Kunstturnerin Alina Kabajewa, an der niemand zweifelt) und mal schlechter (die Affäre mit der Sängerin Anna Netrebko, an der sogar die zweifeln, die wissen, dass es eine solche Opernsängerin gibt).

•Putin ist Idealist. Er glaubt aufrichtig, für das gegenwärtige Russland und unter den gegebenen Umständen ein guter Regierungschef zu sein – kein großartiger, kein glänzender, sondern ein ordentlicher und solider. Er hat weder das Land betrogen noch diejenigen, die ihn in sein Amt gebracht haben. Vielleicht hat er damit gar nicht so unrecht.

•Von Putin ist alles Mögliche zu erwarten, nur keine radikalen Reformen. Die vorherrschende Idee seiner Staatsführung ist, nichts zu »verschütten«, damit er, gemessen an einer gewissen Auswahl formaler Kriterien, nach seiner Regierungszeit nicht schlechter dasteht als vorher. Boris Jelzin gab ihm die Worte mit auf den Weg: »Behüten Sie Russland!«, und WWP hat das ganz wörtlich genommen, ohne darin einen Hauch von Ironie oder Zynismus zu sehen. Deswegen muss man sich die hundertsiebenundzwanzigste Beteuerung des russischen Präsidenten, es stünden »Veränderung des russischen Wirtschaftsmodells« oder »massenhafte Verhaftungen korrupter Beamten« an, gar nicht mehr anhören. Putin ist ein träger Herrscher. Nie würde er das Alte gegen etwas Neues tauschen, wenn das Alte immer noch funktioniert, selbst mit gewissen Störungen, und wenn es wie eine Ölpipeline und der Ölpreis den Erfolg sichert. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen von dieser These, zum Beispiel die Auflösung der Russischen Akademie der Wissenschaften, die von Putin und seinem Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew 2013 zielstrebig durchgeboxt wurde. Aber auch hier bestätigt die Ausnahme nur die Regel.

•Putin ist ein Hüter oder, wenn man so will, ein Bewacher. Von einem solchen Menschen darf man nicht erwarten, dass er die geschichtliche Entwicklung vorantreibt.

•Sein Leben lang hat Putin einen Vater und einen Sohn gesucht. Nicht im biblischen, sondern im einfachen, menschlichen Sinn. Was das genau bedeutet, wird später in diesem Buch behandelt.

•Putin ist ein artifizieller »kleiner Mann«, »ein klitzekleiner Held« der großen russischen Literatur. Daraus schöpft er seine Kraft, wenn diesen Gedanken bisher auch nur wenige nachvollziehen können.

•Es gibt nichts Absurderes als die Idee, man müsse Putin oder die esoterische »Putin-Bande« (deren Zusammensetzung niemandem genau bekannt ist) beim Gerichtshof von Den Haag oder anderswo anklagen. Der zweite wie auch vierte russische Präsident hat eher Mitleid verdient als ein Gerichtsverfahren. Und wenn bemitleidet zu werden für einen Mann das härteste Urteil ist, dann steht ihm ein Mitleidsgericht zu.

•Und schließlich das Wichtigste für den deutschen Leser: Auf dem russischen Thron saß noch nie ein Herrscher, der für Westeuropa passender und vorteilhafter gewesen wäre als Putin. Der pragmatische Teil Europas hat davon Gebrauch gemacht, der unpragmatische Teil hat diese Tatsache einfach übersehen.

Erinnern Sie sich an den Hollywood-Film The Man Who Wasn’t There der Brüder Ethan und Joel Coen? Die Hauptrolle wurde auf glänzende Weise von Billy Bob Thornton gespielt. Seinem Helden werden alle realen Vergehen und Fehler verziehen, aber man verurteilt ihn wegen eines Mordes, den er gar nicht begangen hat. Etwas in dieser Art versucht die Weltöffentlichkeit auch mit Putin zu machen.

Im Finale dieses Films stellt ein entfernter Verwandter des Protagonisten die rhetorische Frage: »What kind of man are you?« Auf diese Frage hat auch in Putins Fall seit seiner Inthronisierung niemand eine Antwort gefunden. Bereits im Februar 2000 auf dem Forum von Davos fragte die internationale Beobachterin und Kolumnistin des Philadelphia Inquirer, Trudy Rubin, die gesamte russische Delegation unter der Leitung des damaligen Ministerpräsidenten Michail Kassjanow, der imposant ist wie ein Vintage-Cadillac: »Who is Mister Putin?« Die Delegation blieb eine Antwort schuldig.

Wenn Sie die oben genannten Thesen glauben, brauchen Sie das Buch nicht weiterzulesen. Dann habe ich mein Ziel schon erreicht, und Sie und ich haben die Schlacht gegen die Zeit gewonnen, die Wladimir Putin übrigens dramatisch verloren hat. Seine besten Jahre, ab 47 bis etwa 60 und länger, hat er vollständig einer Sache gewidmet, die er nicht mochte: der Macht in Russland.



Sei es Krieg, sei es Pest, das alles wird bald enden


Ihr Richterspruch ist schon bekannt


Allein, wer kann den Schrecken wenden


Den wir den Lauf der Zeit genannt …

Anna Achmatowa

Wenn Sie aber weiterlesen wollen, dann tun Sie das unbedingt. Bevor wir uns die Last aufbürden, alle diese unglaublichen Thesen zu beweisen, stellen wir uns eine weitere, einleitende Frage: Wie kam WWP an der Wende des Jahrhunderts und des Jahrtausends überhaupt an die Macht?

Viele sogenannte Fachleute (im Wesentlichen Politologen) sind durch ein eindeutig konspiratives Denken befangen. Sie meinen, dass alle wichtigen historischen Entscheidungen im Verlauf eines tödlichen Kampfs mächtiger Clans um das große Geld und den Gebrauch tödlicher Waffen, um Viren und Gifte getroffen werden. Sie denken in den Kategorien einer Welt, in der die Freimaurer ständig die Rosenkreuzer schlachten und umgekehrt, die Rockefellers die Rothschilds und umgekehrt, und aus dieser endlosen Schlachterei schält sich letztlich die Weltmacht heraus, die sich von der Eingangshalle des Washingtoner Hotels Willard (wo, wie man meint, der moderne Lobbyismus entstand) bis in die Dschungel von Kambodscha erstreckt.

Deswegen gehen sie davon aus, dass Putin von einer geheimen KGB-Lobby in den Kreml geschleust wurde, welche die demokratischen »bösen« 1990er-Jahre überstehen konnte. Andere hängen ausnahmslos alles der Familie des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin an, die in Wladimir Putin unverhofft eine verwandte Seele erkannt hatte. Bei der Analyse derartiger Dinge halte ich mich an eine Regel, die ich ganz bescheiden das »Belkowski-Gesetz« nenne: In der Geschichte passiert immer das, was passieren muss.

Der bekannte russische Denker des 19. Jahrhunderts Konstantin Leontjew hat gesagt, dass die Zivilisation in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung qualitativ verschiedene Typen von Herrschern braucht. Wenn sich eine Zivilisation im Aufstieg befindet, wenn sie wächst und an Kraft gewinnt, braucht sie große Reformatoren und mutige Abenteurer, die in der Lage sind, die Geschichte voranzutreiben. In derartigen Epochen braucht man einen Titanen wie Prometheus, der bereit ist, den Göttern das Feuer zu stehlen, es den Menschen zu geben und im Kaukasus seine Leber dem Adler Ethon preiszugeben.

Wenn sich jedoch eine Zivilisation im Niedergang befindet, braucht sie einen Herrscher, der behutsam, langsam und skeptisch ist. Er kann und will den Prozess eher einfrieren als in Bewegung setzen. »Nichts verschütten«, so haben wir bereits die inoffizielle Devise von Präsident Putin definiert. Er will viel eher auf die Bremse treten als aufs Gaspedal und ist also kein Prometheus, sondern ein Titan mit einer anderen Bestimmung. Er ist der Bruder von Prometheus – Epimetheus. Nicht der, welcher das Feuer bringt, sondern der, welcher den Herd hütet, in dem dieses Feuer bereits brennt – damit es nicht erlischt.

Wie wir aus der altgriechischen Mythologie wissen, hat Prometheus die Menschheit mit aller Entschlossenheit vorangebracht, ohne an die Risiken und Gefahren für seine eigene Person zu denken. Erstens brachte er den Menschen das Feuer und gab damit den Startschuss für die Entwicklung von Industrie und Wirtschaft. Zweitens beraubte Prometheus nach Aischylos die Menschen ihrer Vorahnungen und gab ihnen dadurch – die Hoffnung. Und die Hoffnung ist das Wichtigste, was den Menschen in seinem gesellschaftlichen Dasein vorantreibt. Im Grunde genommen besteht die wichtigste Funktion jeder Macht, ob sie nun totalitär oder demokratisch ist, in der Reproduktion von Hoffnungen.

Für alle seine Heldentaten, die Prometheus für die Menschheit vollbrachte, wurde er bekanntlich von Zeus an den Berg Elbrus gekettet. Ganz anders stand es um Epimetheus. Nie verließ er seinen angestammten Ort und war stark, vor allem im Langsamdenken. Allerdings verfiel er der unglücklichen Idee, sich mit einer Dame namens Pandora zusammenzutun. Und die öffnete im entscheidenden Moment ihre Büchse, aus der alle Plagen auf die Welt kamen.

Putin wurde ein solcher Epimetheus auf dem russischen Thron. In jenem historischen Moment, als die Sonne der Zivilisation, die ihren Weg mit der Anwerbung der Waräger ins Nowgorod von 862 begann, zielstrebig auf ihren Untergang zustrebte. Und auch hier gibt es eine Pandora mit ihrer Büchse. Ausgerechnet unter Putin wurde Russland zu einem Land der totalen Korruption. Die Russen haben sich dermaßen an die korrupten Mechanismen gewöhnt, dass man nicht weiß, wie man ihnen das wieder austreiben soll – und zwar ganz unabhängig davon, wie lange der amtierende Präsident noch an der Macht sein und wer ihn ablösen wird.

WWP ist ein klassischer Endzeitherrscher. Man kann sich darüber freuen, man kann es bedauern. Aber ein Ende zeichnet sich auch dadurch aus, dass es frei von Emotionen sein sollte.

Ohne Putin wäre das imperiale Russland schneller zusammengebrochen als mit ihm. Er ist es jedoch auch, der als eingefleischter Antiimperialist diesen Zusammenbruch unumkehrbar gemacht hat. Durch seine Konservierung der imperialen Symbole tat er nichts gegen die Zerstörung des Imperiums selbst. Das mag dem einen oder anderen paradox erscheinen: Er hat den Zerfall des Imperiums aufgehalten und ihn gleichzeitig beschleunigt? Wir werden später darauf zurückkommen.

Nach Putin wird das Land völlig anders aussehen. Es wird vielleicht noch so heißen, aber im Inneren verändert sein. Wie? Weiß der Himmel. Mein Prognose: Anstelle des euroasiatischen Imperiums, welches das russische Volk hat ausbluten lassen, wird ein europäischer Nationalstaat entstehen.

Es gibt mittlerweile weder Zeit noch Raum für eine Fortsetzung der kräfteraubenden Geschichte der Gewalt. Der Wecker des Imperiums kann sein infernalisches, hysterisches Schrillen fortsetzen, wird aber damit nur erreichen, dass die schweren russischen Traumgespinste weitergeträumt werden.

Oft wurde Putin sowohl von Freunden als auch von Feinden mit Napoleon Bonaparte verglichen. Meiner Auffassung nach gibt es zwischen diesen beiden Führungspersonen, dem greisenhaften Hüter des Russischen Imperiums und dem Pionier einer europäischen Union, fast keine Gemeinsamkeiten. Bis auf eine.

Napoleon war ein großer Entscheider. Er konnte die Brücke von Arcole betreten, wo ihn der sichere Tod durch eine österreichische Kugel erwartete, und aus den Händen des Papstes in der Kathedrale Notre-Dame in Paris die eigene Krone empfangen, um eine Sekunde später das Schicksal von Millionen von Menschen zu verändern, die zwischen dem Golf von Biskaya und der Baltischen Bucht beheimatet waren. Dieser kleinwüchsige Korse sagte völlig im Ernst, wobei er sich ein helles Tränchen von den schwarzen Wimpern wischte: »Nie habe ich eine eigene Entscheidung getroffen, immer war ich eine Geisel der Umstände.«

Diese Worte würde Wladimir Putin wohl ohne jede Einschränkung unterschreiben.

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