Viele, sehr viele Menschen in Russland und außerhalb seiner Grenzen sind gewohnt, unserem Helden einen Standardsatz an Vorwürfen entgegenzuhalten. Wenn man sich nicht zu sehr in Details verliert, kann man diese Anschuldigungen im Großen und Ganzen in vier grundlegende Gruppen einteilen.
•Putin hat in Russland eine Art Diktatur von »Menschen mit Schulterklappen« geschaffen, womit vor allem Abkömmlinge des KGB-Systems der UdSSR und anderer sowjetischer Geheimdienste gemeint sind. Für diese »Diktatur« wurde eigens der Begriff »Militärokratie« erdacht – die Macht militarisierter Menschen.
•Wladimir Putin hat einen Hang zu politischen Morden – in erster Linie der Journalistin Anna Politkowskaja (Oktober 2006), des ehemaligen Majors des FSB von Russland Alexander Litwinenko (November 2006), des in Ungnade gefallenen Magnaten und Emigranten Boris Beresowski (März 2013).
•Putin hat eine selbst für die russische Geschichte beispiellose Korruptionsmaschinerie geschaffen, in der seine Freunde aus dem KGB der UdSSR oder aus dem Leningrad der sowjetischen Zeit die Schlüsselpositionen einnehmen.
•WWP arbeitet beharrlich und kontinuierlich an der Rekonstruktion eines neosowjetisches Imperiums – analog zu der 1991 untergegangenen UdSSR, in den Grenzen des postsowjetischen Raums (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft usw.)
Nach meiner Überzeugung kann man ohne eine Analyse und Widerlegung dieser Anschuldigungen weder Putin noch Putins Russland verstehen. Also: Die Militärokratie
Urheberin dieser Konzeption wie auch des Begriffs selbst ist die Soziologin Olga Kryschtanowskaja, Leiterin der sogenannten Lehranstalt für Eliten der Russischen Akademie der Wissenschaften sowie Direktorin des fiktiven Instituts für angewandte Politik (de facto existiert diese Quasi-Forschungseinrichtung gar nicht).
Mit der Entwicklung ihrer Theorie der Militärokratie begann Kryschtanowskaja 2003, und 2006/2007, als sich der Kampf um die Nachfolge von Wladimir Putin zuspitzte, hatte sie konkrete Formen angenommen. Dabei befanden sich einige einflussreiche internationale Massenmedien eine Zeit lang unter dem Eindruck des »militärokratischen« Diskurses. Hier einige Headlines aus den Jahren 2006/07:
»Militär und Sicherheitsoffiziere ›kolonisieren‹ die russische Elite« (Le Monde), »Geheimdienst gegen die ›Familie‹ (Berliner Zeitung, gemeint ist die Familie des ehemaligen Präsidenten Boris Jelzin), »Wie Putins Mitstreiter vom KGB die Macht in ihre Hände nehmen« (Der Spiegel), »Arbeit für kleine Jungs: Die neue ›Militärokratie‹ von Putin« (The Wall Street Journal).
Die Arbeit von Kryschtanowskaja basiert auf zwei quantitativen Ausgangsparametern, die sie der Öffentlichkeit präsentierte:
a) Zum Jahr 2006 wurden 70 Prozent (!) der bürokratischen Ämter in Putins Russland von »Menschen mit Schulterklappen« bekleidet, die der Militärgeist einer Körperschaft einte und verband, welcher auch ihre Psychologie und Mentalität bestimmt.
b) Zum Jahr 2001 konnten als Folge der dramatischen Finanzkrise von 1998, die einen erheblichen Einfluss auf den Zustand der russischen Wirtschaft ausgeübt hatte, nur 15 Prozent der Großunternehmer (Oligarchen) der Jelzin-Zeit ihren Einfluss wahren; 85 Prozent der Posten auf der Kommandoebene gingen an Vertreter des Putin-Gefolges über, die militarisierten Strukturen angehörten.
Die Autorin führt dabei keinerlei Belege für die Richtigkeit dieser Zahlen an und legt auch nicht dar, wie sie erhoben wurden. Das Einzige, was der Autor dieser Zeilen als ungefähre Antwort von Frau Kryschtanowskaja auf die direkt gestellte Frage nach den faktischen Quellen für ihre Theorie der Militärokratie bekam, war: Alle Beamten mit Lücken in der Biografie, also mit geringfügigen Leerstellen in ihren offiziellen CVs, sind eingefleischte Geheimdienstler. Sic! Das nennt sich also Soziologie. Oder auch wissenschaftliche Logik.
Ich wage zu behaupten, dass die Theorie der Militärokratie ein ausgemachter Bluff ist, der sich aus gewissenlosen Manipulationen von statistischen Angaben speist.
Erstens ist es eine recht zweifelhafte Herangehensweise, die Zugehörigkeit eines staatlichen Funktionärs zur Militärkaste auf Grundlage von Lücken in seiner Biografie festzustellen. Typisch sind solche »Leerstellen« in CVs für Menschen mit einer kriminellen Bilanzgeschichte und keineswegs für solche mit gigantischen Geheimdiensterfahrungen. Außerdem ist nicht erkennbar, dass sich im modernen Russland die Abkömmlinge des KGB-Systems der UdSSR für ihre Vergangenheit überaus schämen und gezwungen sind, wichtige Details ihrer Biografie zu verschweigen.
Zweitens haben im Unterschied zur Türkei von Atatürk, dem faschistischen Spanien oder einigen Länder Lateinamerikas die »Menschen mit Schulterklappen« des sowjetischen und postsowjetischen Russlands nie eine einheitliche Körperschaft mit gemeinsamen Interessen und einem standardisierten ethischen Kodex gebildet. Die Geheimdienste standen dem Innenministerium stets feindlich gegenüber, und jede dieser Strukturen hasste eigentlich das Militär, also das System des Verteidigungsministeriums Russlands. Sowohl die kommunistische als auch die postkommunistische politische Leitungsebene hetzte traditionell und bewusst die verschiedenen Zweige und Abteilungen der staatlichen Gewaltorgane gegeneinander auf, um zu verhindern, dass sie gemeinsam und solidarisch Anspruch auf die reale Macht erheben oder sich in kritischen Situationen illoyal verhalten. Man erinnert sich noch gut daran, wie im Oktober 1993, als Boris Jelzin den Obersten Sowjet der RSFSR auflöste, sich das damalige Ministerium für Staatssicherheit (der Rechtsnachfolger des KGB en miniature) eines Sturms des Parlamentsgebäudes, das Tausende von Menschen umringten, vorsichtig und höflich enthielt.
Dafür wurde der Befehl blutig und tadellos – unter Panzerbeschuss – vom Militär ausgeführt, das Jelzins Vertrauter, der Verteidigungsminister General Pawel Gratschow, befehligte. Die verschiedenen Strukturen sind also nicht imstande, eine wie auch immer geartete einheitliche Lobby zu bilden, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Und von einer »Militärokratie« als einem umfassenden Entscheidungssystem zu sprechen ist zumindest amüsant.
Drittens lässt sich die Anzahl von Militärpersonen innerhalb des Staatsapparats nicht mithilfe von Durchschnittswerten bestimmen. Wenn zum Beispiel im Verteidigungsministerium die »Menschen mit Schulterklappen« 90 Prozent der Belegschaft ausmachen (was durchaus natürlich ist) und im Landwirtschaftsministerium 10 Prozent, heißt das dann etwa, die Hälfte des Agrarsektors befindet sich unter der Fuchtel von Abkömmlingen von Armee und Geheimdiensten?
Viertens war unter Wladimir Putin nicht nur ein Zustrom von Vertretern des militärischen Milieus in staatliche Ämter zu beobachten, sondern auch ein Weggang, und zwar oftmals bei den oberen Etagen des Verwaltungsmechanismus. Im Verteidigungsministerium von Anatoli Serdjukow (2007–2011) zum Beispiel befanden sich innerhalb der Leitung der Militärbehörde nicht selten Vertreter ziviler Herkunft (einschließlich des Ministers selbst), zu deren zentralen Aufgaben durchaus nicht die Erziehung der demoralisierten Armee und des entmilitarisierten Volkes zu einem Samurai-Geist gehörte, sondern die Erlangung der Kontrolle über die Finanzflüsse zur Deckung des maß- und bodenlosen Militärbedarfs. Damit kamen sie auch bedingt zurecht, bis sie mit begründeten Anschuldigungen schwerer Korruption konfrontiert wurden (die Herzensdame und Vertraute Anatoli Serdjukows, Jewgenija Wassiljewa, befindet sich bis heute unter Hausarrest, und einige andere einflussreiche Leute aus Serdjukows Umkreis sitzen ganz banal in einem russischen Gefängnis).
Fünftens gibt es keinerlei Grundlage für die Behauptung, die Oligarchie sei in den 1990er-Jahren verschwunden oder habe ihren Einfluss im Land eingebüßt. Zu den einflussreichsten russischen Geschäftsleuten unserer Zeit gehören: Roman Abramowitsch (Ex-Sibneft), Oleg Deripaska (Chef von RUSAL und des Energiegiganten E+), Michail Fridman (Gruppe Alfa-Konsortium), Viktor Wekselberg (Präsident des Fonds Skolkowo, der berufen ist, bei Moskau ein Silicon Valley zu schaffen), Wagit Alekperow (Chef des Ölgiganten Lukoil), Wladimir Potanin (Kontrollaktionär von Norilsk Nickel), Michail Prochorow (Chef der Holding ONEKSIM und der politischen Partei »Bürgerplattform«), Wladimir Lissin (wichtigster russischer Stahlproduzent von Novolipetsk Steel), Alexei Mordaschow (Severstal), Suleiman Kerimow (Hauptaktionär der Bank von Moskau und der WTB Bank, informelle zentrale Figur der größten Gruppierung mit Einfluss auf den Nordkaukasus insgesamt und die Republik Dagestan im Besonderen) und schließlich der laut Nachrichtenmagazin Forbes reichste Mann der Russischen Föderation, der Hauptaktionär der Holding Metalloinvest und Eigner einer Reihe von Aktiva in der Telekommunikation, Alischer Usmanow.
Sie alle sind Abkömmlinge der Jelzin-Zeit, der Periode der ursprünglichen Privatisierung der größten Objekte des sowjetischen »sozialistischen Eigentums«. Ja, natürlich haben sich bereits auffällige Vertreter der Putin-Rotte unter sie gemischt: Gennadi Timtschenko (Begünstigter des weltweit viertgrößten Energietraders Gunvor), die Brüder Arkadi und Boris Rotenberg, Igor Setschin (Präsident der Ölfirma Nummer eins in Russland Rosneft). Das könnte auch gar nicht anders sein: Der Wechsel eines Staatsoberhaupts zieht immer eine bestimmte Rotation der Wirtschaftselite nach sich.
Besonders in Russland, wo Besitz und Macht eng miteinander verwachsen sind (der Autor dieses Buches schlägt den Begriff »Besitzmacht« vor, der die organische Einheit und Untrennbarkeit der Begriffe in der heutigen Russischen Föderation unterstreicht). Aber: Die »alten Oligarchen« herrschen immer noch über die »neuen«, sowohl in ihrer Zahl als auch hinsichtlich ihrer Gesamtressourcen des politisch-administrativen Einflusses. Und im Jahr 2001, das Frau Kryschtanowskaja als Meilenstein im Schicksal des postsowjetischen Großkapitals auf dem russischen Territorium bezeichnet, war auch noch Michail Chodorkowski am Ruder, der reichste Mann im damaligen Russland (dessen Vermögen Forbes auf 7 Milliarden Dollar schätzte). Von einem Einbruch des Jelzin’schen Megabusiness auf armselige 15 Prozent kann also nicht annähernd die Rede sein.
Was können wir also über den Ursprung der offenkundig marktschreierischen Theorie der »Militärokratie« sagen? (Möge mir Olga Kryschtanowskaja verzeihen, die trotz allem ein ganz gescheiter Kopf ist.)
In den Jahren 2003 bis 2007 kämpfte die Familie von Boris Jelzin (im engeren wie im weiteren Sinne des Wortes) aktiv mit den »Neuputinianern« um die Kandidatur des Präsidentennachfolgers 2008. »Familienkandidat« war Dmitri Medwedew – als Gegengewicht zu Sergei Iwanow und Michail Fradkow, die Putin von verschiedenen Leningrader Kameraden empfohlen worden waren. Schließlich wurde bekanntlich Medwedew der Nachfolger, die Familie hatte gesiegt. Doch bis zu einer endgültigen Entscheidung musste der Familienkreis den Westen mit einer »Geheimdienstrevanche« erschrecken, um Putin einsichtig zu machen gegenüber der Unausweichlichkeit der Wahl eines Nachfolgers mit dem Image eines zutiefst liberalen Bürgers (erinnern Sie sich nur an die Aussage des ehemaligen Präsidenten und jetzigen Ministerpräsidenten der Russischen Föderation: »Freiheit ist besser als Unfreiheit«). Genau dafür war die »Kryschtanowskaja-Doktrin« notwendig.
Es war kein Zufall, dass die Leiterin der Lehranstalt für Eliten der Russischen Akademie der Wissenschaften 2008 nach Medwedews Inthronisierung Mitglied der Kremlpartei »Einiges Russland« wurde und 2012 nach Putins Rückkehr auf den Thron die Partei verließ. Dabei kann man bei ihr keine Vorliebe für die Opposition feststellen. Heute leitet sie einen gewissen »Klub der Besten« – eine Vereinigung von sozial und finanziell aktiven Frauen, die der Partei »Einiges Russland« zugeneigt sind, aber (wegen der verminderten Autorität und Popularität der »Machtpartei«) ihren Hang nicht immer zu Schau stellen möchten. Politische Morde
Die Berichterstatterin der Nowaja gaseta Anna Politkowskaja wurde am 7. Oktober 2006, dem 54. Geburtstag von Wladimir Putin, im Eingang zu ihrem Wohnhaus in Moskau erschossen. Ein schlimmeres Geschenk hätte Putin zu seinem Feiertag nicht erwarten können. Außerdem wurde der Mord genau am Vorabend des Staatsbesuchs des russischen Präsidenten in Deutschland verübt – es war eine wichtige Reise, bei der WWP über die Schaffung eines paneuropäischen Zentrums für die Distribution von russischem Gas verhandeln wollte, unseres Exportschlagers Nummer eins. Überflüssig, daran zu erinnern, dass das Vorhaben platzte – und zwar vor allem wegen des skandalösen Todes der Journalistin. Viele Vertreter des deutschen Establishments wollten den Staatsbesuch sogar ganz absagen.
Putin verkündete damals ungeschickt, politisch unkorrekt und taktlos, dass ihm der Tod Politkowskajas viel mehr geschadet habe als ihr Leben und ihre professionelle Tätigkeit. Auch wenn der russische Präsident seine Worte äußerst undiplomatisch gewählt hatte, kann man nicht umhin, sie im Kern als zutreffend anzuerkennen. Natürlich ist WWP der Letzte, der am Tod Politkowskajas ein Interesse gehabt haben könnte.
Was war also wirklich geschehen? Eine genaue Antwort auf diese Frage gibt es bis heute nicht, die Strafverfolgung in Russland ist in eine Sackgasse geraten, wie es bei der Aufdeckung von folgenreichen Verbrechen in der Russischen Föderation oft der Fall ist. Aufmerksamkeit fordern alle Umstände in Zusammenhang mit Leben und Wirken von Anna Politkowskaja.
Die Beobachterin der Nowaja gaseta hatte sich in den letzten Jahren vor allem mit der Untersuchung von Verbrechen in Tschetschenien und im Tschetschenien-Krieg befasst. Wichtiges Objekt ihrer Untersuchungen war das tschetschenische Staatsoberhaupt Ramsan Kadyrow gewesen. Dieser ist heute einer der Schlüsselfiguren in der russischen Politik (darunter der gesamtnationalen, nicht nur der kaukasischen). Damals war er neu in seiner Führungsposition und hatte mit Schweiß und Blut (im direkten wie im übertragenen Sinne) versucht, in die Fußstapfen seines Vaters Achmat Kadyrow zu treten, einem ehemaligen Mufti und Anführer Tschetscheniens, der am 1. Mai 2004 durch eine ferngesteuerte Sprengladung in einem Stadion der Stadt Grosny ums Leben gekommen war.
Kurz vor Politkowskajas Tod bestellte Kadyrow ein Rechtsgutachten über die Möglichkeit einer gerichtlichen Verfolgung der Journalistin aufgrund von Diffamierung und Verleumdung des jungen tschetschenischen Staatsoberhaupts. Von einer juristischen Firma bekam er eine negative Antwort: Offiziell und streng im Rahmen des Gesetzes sei es nicht möglich, die Beleidigerin zu belangen.
Im Weiteren wurde bekannt, dass Anna Politkowskaja 2005/2006 viel mit Kadyrow-Gegnern in Tschetschenien und Umgebung verkehrte. Dabei deckte sie einige Namen von Personen auf, die versuchten, Ramsan loszuwerden, und zwar um selbst seinen Platz einzunehmen. Das konnte der brutalste Lenker des russischen Kaukasus seinen Gegnern nicht verzeihen. Diese wiederum hatten allen Grund, Frau Politkowskaja wegen ihrer unnötigen Offenheit und ungehemmten Verbreitung von Informationen zu grollen. Und das umso mehr, als im Nordkaukasus die Blutrache bevorzugtes Mittel zur Klärung von Beziehungen und zur Konfliktlösung darstellt. Deswegen bin ich nach wie vor der Auffassung, dass in der fernen Zukunft und unter nicht-totalitären Bedingungen (wenn Stalin’sche Methoden nicht mehr möglich sein werden) die islamischen Regionen des Kaukasus – Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan – nicht mehr zu Russland gehören können. Sie sind eine andere Zivilisation, und das muss man irgendwann anerkennen.
Der ehemalige Major des russischen Geheimdiensts und Offizier des Personenschutzes von Boris Beresowski, Alexander Litwinenko, starb Ende November 2006 in einer Londoner Klinik nach einer Vergiftung mit radioaktivem Material – Polonium. Viele verdächtigten den Ex-Offizier der Kreml-Garde Andrei Lugowoi der unmittelbaren Vorbereitung des Verbrechens; er war in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre Beresowskis Leibwächter gewesen.
Sowohl in Russland als auch im Westen verbreitete sich augenblicklich die Auffassung, die russischen Geheimdienste stünden hinter dem Mord – die allmächtige Lubjanka, die sich für Litwinenkos »Verrat«, sein Überlaufen auf die Seite des damals längst in Ungnade gefallenen Beresowski und für seine Flucht nach Großbritannien, hatte rächen wollen. Diese Version ist bis zum heutigen Tag aktuell und wird von dem Umstand erhärtet, dass Lugowoi bald nach Litwinenkos Tod als Hätschelkind der russischen Macht galt, da er 2007 Abgeordneter und 2008 sogar Vize-Sprecher der Staatsduma wurde, der ersten Kammer des russischen Parlaments.
Aber es gibt dabei auch noch einige auffallende Widersprüche und Unstimmigkeiten.
Erstens wurde Major Litwinenko – das sage ich in voller Überzeugung – von der Lubjanka nie übermäßig ernst genommen. Man hielt ihn weder für gefährlich noch für schädlich. Zwar war er ein zorniger und umtriebiger Mensch, aber nicht sonderlich helle.
Zweitens ist die Mordwaffe merkwürdig – das Polonium. Es hinterließ Spuren an vielen Orten von London, einschließlich der Sushi-Bar Itsu, wo sich Litwinenko im November 2006 mit Lugowoi und dessen Partner Juri Kowtun traf. Sehen so etwa heutzutage Vergiftungen aus? Die Geheimdienste bedienen sich normalerweise nicht nachweisbarer Gifte, die beim Opfer einen schweren Infarkt oder Schlaganfall hervorrufen. In solchen Fällen ist es sogar für erfahrene Spezialisten in den besten Labors einigermaßen schwer, die wahre Todesursache festzustellen. Das altertümliche Polonium wurde jedoch benutzt, um erst recht die Aufmerksamkeit auf das Verbrechen zu lenken und deutlich auf den Auftraggeber hinzuweisen – die Geheimdienste. Als angeblich abgeschriebenes radioaktives Material, das schreckliche grüne Spuren hinterlässt, hergestellt in irgendeinem Geheimbetrieb im tiefen Russland.
Drittens ist vielen aufgefallen, dass Andrei Lugowoi 2006 immer noch eine private Überwachungsstruktur leitete, die in ziemlich enger Verbindung zum einflussreichen jüdischen Geschäftsmann georgischer Abstammung Badri (Arkadi) Patarkazischwili steht – dem Partner von Boris Beresowski, der sich ebenfalls zu diesem Zeitpunkt in London niederließ. Patarkazischwili (der im Februar 2008 starb) unterhielt seinerseits engen Kontakt mit einigen georgischen kriminellen Autoritäten, die von den spanischen Behörden der Geldwäsche und des ungesetzlichen Erwerbs von Immobilien in ihrem Land beschuldigt wurden.
Viertens arbeitete Litwinenko mit den Rechtsorganen Spaniens zusammen. Das wurde auch von spanischer Seite zugegeben. Und er hatte vorgehabt, gegen jene kriminelle Autoritäten vor Gericht auszusagen. Die Aussage des ehemaligen Majors der Lubjanka hätte Patarkazischwilis Freunden und Geschäftspartnern das Leben erheblich erschweren und ihre Haftstrafen verlängern können.
Es ergibt sich also im Ganzen ein recht interessantes Puzzle mit vielen verschiedenen Elementen – ein reich gedeckter Tisch für die unterschiedlichsten Hypothesen. Nur unser Held Wladimir Putin tritt im Zusammenhang mit dem Mord an Litwinenko nicht in Erscheinung. Schaut man genau hin und urteilt logisch und gibt man sich nicht den augenblicklichen gesellschaftspolitischen Emotionen hin, kann man auch nicht die geringste Spur seiner Beteiligung an dieser seltsamen Polonium-Vergiftung entdecken.
Boris Beresowski war 1996 bis 1998 der wohl einflussreichste Geschäftsmann Russlands und (neben Tschubais) einer der Architekten des skandalösen Siegs von Boris Jelzin bei den Präsidentschaftswahlen 1996. Er war der Ideologe des politischen Kreml-Blocks »Einheit« vor den Parlamentswahlen 1999 (auf der Basis von »Einheit« entstand 2002 die berüchtigte Partei »Einiges Russland«). Im Jahr 2000 verließ er Russland – vorgeblich wegen einer Auseinandersetzung mit Putin, faktisch jedoch kann man davon ausgehen, dass die Familie von Boris Jelzin seiner Exzentrik, Extravertiertheit und des übermäßigen Redeflusses des Oligarchen überdrüssig geworden war.
Daraufhin verkaufte Beresowski seine russischen Aktiva – seine Anteile an der Ölfirma Sibneft, an der Fluggesellschaft Aeroflot und am russischen staatlichen Fernsehsender (dem Ersten Kanal des nationalen TV) für fast 2 Milliarden Dollar. Man beachte: Er verkaufte sie und verlor sie nicht wie später der verfolgte Chodorkowski. Und er verkaufte für eine Summe, die sich mittlerweile unter Berücksichtigung der Inflation und der Entwicklung der internationalen Finanzmärkte im vergangenen Jahrzehnt in ganze 10 Milliarden Dollar hätte verwandeln können. Als Käufer trat Boris Beresowskis Partner, der mit Putin eng vertraute Geschäftsmann Roman Abramowitsch auf, von dem hier schon öfter die Rede war. Das bedeutet, dass sowohl Putin als auch Abramowitsch trotz ihres Konflikts mit Beresowski ihn auf ihre Weise achteten und nicht vorhatten, ihn zu vernichten.
Dennoch strengte Beresowski 2007 in London einen Prozess gegen Abramowitsch an, er wollte zusätzliches Geld – nicht weniger als 5,6 Milliarden Dollar – für Aktiva, die angeblich zu gering geschätzt und unter Druck verkauft worden waren. Das Gericht bereitete dem Kläger eine vernichtende Niederlage. Ende 2012 bewertete die Richterin des Hohen Gerichts der britischen Hauptstadt, Baroness Elizabeth Gloster, nicht nur seine Forderungen als unbegründet, sondern stellte Beresowski auch gleich die Diagnose der self-delusion, einer krankhaften Selbsttäuschung – Symptom für eine schizophrene Persönlichkeitsstörung bei jemandem, der in einer erfundenen Realität lebt.
Das Verdikt von Ms. Gloster über den Ex-Oligarchen, das diesem seine letzte Hoffnung auf eine umfassende Bereicherung nahm, stürzte ihn in eine tiefe Depression. Als man am 13. März 2013 70 Kilometer von London entfernt im Haus von Beresowskis Ex-Frau Galina Bescharowa den leblosen Körper des ehemaligen russischen Kingmakers fand, sprach so mancher von heimtückischem Mord, dessen Spuren in die Putin-Residenz Nowo-Ogarjowo wiesen.
Ich habe das übrigens nie behauptet. Als alter Bekannter von Beresowski weiß ich, wie stark er unter depressiven Zuständen und Stimmungsschwankungen litt. Erst recht, wenn die Gründe so offensichtlich auf der Hand lagen! Mittlerweile räumen auch die Verwandten des Verstorbenen sowie seine Assistenten einschließlich Alexander Goldfarb, geschäftsführender Direktor des von Beresowski gesponserten Fonds für bürgerliche Freiheiten, ein: Es war Selbstmord. Der Unglückliche hatte sich im Badezimmer aufgehängt, in dem er sich zuvor eingeschlossen hatte.
Hatte Wladimir Putin also auch damit nichts zu tun? The man who wasn’t there – wie es zu Beginn unserer Erzählung hieß. Und was ist mit der Ausbreitung der bereits sprichwörtlich gewordenen Korruption? Einen leichten Anstieg der Korruption in Putins Russland gibt es wahrhaftig.
In einem Land, das bereits seit fast vierzehn Jahren von unserem Helden regiert wird, hat sich ein Wirtschaftstyp herausgebildet, den ich ROS nenne – RASPIL (Um- und Neuverteilung), OTKAT (Cashback) und SANOS (Bakschisch). In diesem ökonomischen System trifft man jegliche Entscheidung, egal wie wichtig oder wie hoch angesiedelt sie ist, unter Berücksichtigung der anfallenden »Bestechungssteuer«, mit der das eine oder andere Geschäft belegt wird. Die »Bestechungssteuer« lässt sich mit der sogenannten kleinen Belkowski-Formel ermitteln:
T (Steuer) = I (Höhe des Bakschisch, also ein vorab gezahltes Bestechungsgeld für das Recht, an der Realisierung eines Projektes teilnehmen zu dürfen, einen Vertrag zu bedienen, den Auftrag noch vor Vertragsabschluss zu erhalten) + K (Cashback, also der Teil des Budgets des Projekts, Vertrags oder Auftrags, den der Auftragnehmer dem Auftraggeber nach dem Erhalt einer Vertragstranche zurückzahlt) + C (Umverteilung, also der Teil des Gewinns aus dem Vertrag, Projekt oder Auftrag, der nach dem echten oder scheinbaren Abschluss aller Arbeiten verteilt wird).
Wichtig ist außerdem das Verständnis einiger weiterer, nichtnumerischer Prinzipien der ROS-Wirtschaft, zum Beispiel:
•Der Erhalt der »Bestechungssteuer« ist innerhalb dieses Systems ungleich wichtiger als das Resultat: Man muss beispielsweise eine Straße nicht unbedingt bauen, und das Geld, das für ihren Bau bereitgestellt wurde, kann als »Fehlinvestition« abgeschrieben werden (Putin brachte diesen Begriff offiziell als Euphemismus für Diebstahl in Umlauf, und zwar bei seiner Pressekonferenz im April 2013 in Moskau); wenn aber eine »Fehlinvestition« unmöglich oder nicht geplant ist, dann sollte die Straße besser überhaupt nicht gebaut werden.
•Das Schema T = I + K + C funktioniert ausnahmslos in allen Zweigen – von Öllieferungen bis Werbung und Public Relations.
•Bei der Verteilung von Aufträgen der nichtstaatlichen Konzerne florieren RASPIL, OTKAT und SANOS ebenso wie im staatlichen Sektor. Die Überlegung »Ein Top-Manager oder Aktionär einer privaten Firma wird sich selbst nicht bestehlen« trifft im modernen Russland nicht zu, weil die Interessen der Menschen, die für die Verteilung von Verträgen und Aufträgen in diesen Konzernen sorgen, nicht identisch sind mit ihren Interessen als juristisch autonome Personen oder mit denen der Eigentümergemeinschaft als Ganzes. Einfacher gesagt: Es ist für den leitenden Partner eines Unternehmens einfacher, sich eine bestimmte Summe als korrupte Zahlung in die Tasche zu stecken, als Boni von einer Maximalisierung der Erträge von dem Konzern zu erwarten, dessen Leitung ihm anvertraut wurde.
Als Putin an die Macht kam, schwankte die mittlere »Bestechungssteuer« (in Abhängigkeit vom Wirtschaftszweig, dem Verwendungszweck und der Art der zu verteilenden Gelder) zwischen 10 und 20 Prozent. Böse Zungen hängten dem ehemaligen Ministerpräsidenten Michail Kassjanow (2000 bis 2004) den beleidigenden Spitznamen »Mischa 2 Prozent« an – so viel zog er angeblich aus jedem von ihm beaufsichtigten Geschäftsabschluss ab. (Heute wirken die sakramentalen 2 Prozent geradezu lächerlich.)
In diesem Stadium der Entwicklung war die Korruption eine Art Motor und Katalysator für die Wirtschaft, denn sie zwang dazu, staatliche und nichtstaatliche Gelder für alle möglichen Projekte auszugeben, die manchmal durchaus nützlich waren und andernfalls nie realisiert worden wären – ein Projekt ohne Diebstahl zu finanzieren hat keinen Sinn.
Unter Putin erreichte die »Bestechungssteuer« bereits 50 Prozent, in einigen Fällen auch mehr. Damit wurde die Korruption mittlerweise zu einer Bremse für die Wirtschaftsentwicklung, denn bei diesem Umfang kann man jedes Projekt verwirklichen, selbst wenn die Kosten alle Vernunft übersteigen oder wenn an der Qualität der Ausführung gespart wird. Man kann also dem Gedanken zustimmen, dass sich unter dem derzeitigen »Nationalführer« die russische Korruption von einer teilweise positiven Erscheinung zu einer vollständig negativen gewandelt hat.
Aber man sollte das Maß der persönlichen Schuld Putins nicht übertreiben. Es war wohl eher seine Ehrlichkeit, die ihm einen Streich gespielt hat. Ja doch, seine Ehrlichkeit. Denn die ROS-Wirtschaft hat sich durchaus nicht unter Putin herausgebildet, sondern bereits Ende 1993, nachdem Jelzin das russische Parlament abgeschossen hatte. Gänzlich unumkehrbar wurde die Entwicklung dieses Wirtschaftstyps 1996 nach Jelzins zweifelhaftem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen, an dem eben jene Oligarchen keinen geringen Anteil gehabt hatten. Nach den Wahlen zwangen sie dem Kreml endgültig ihre Spielregeln auf.
Und auch Putin war 1999 berufen, die Regeln der Korruption nicht zu brechen, sondern in Ehren zu halten. Das tut er ganz ehrlich bis zum heutigen Tag. Die Korruption hingegen ist wie ein Krebsgeschwür schon längst nicht mehr kontrollierbar und hat in allen Organen und Geweben des russischen Staatsorganismus unzählige Metastasen gebildet. Das wiederum ist generell ein traditionelles Gesetz der Kleptokratie der Dritten Welt, zu der man die heutige Russische Föderation zählen kann.
Als Diebstahl in besonders großem Umfang kann man die Lieblingskreation von Putin anführen – die Olympischen Winterspiele 2014, die an dem bekannten russischen subtropischen Erholungsort Sotschi stattfinden sollen. Und das, obwohl sich unser Held der Mehrzahl der Fragen zur Vorbereitung der Olympiade höchstpersönlich annimmt oder sich zumindest dafür interessiert, denn die bevorstehenden Spiele sind für ihn eine Frage des persönlichen und politischen Prestiges.
Im Laufe der sechs Jahre währenden Vorbereitungen auf die Spiele wurde die Leitung der staatlichen Firma Olympstroi, die in Sotschi die wichtigsten vorolympischen Aufträge vergibt, fünf (!) Mal ausgewechselt – und das bei Putins zwanghaftem Hang zu Stabilität in Kaderfragen! Und im März 2013 wurde der Chef der Firma »Erholungsorte im Nordkaukasus«, der dagestanische Unternehmer Achmed Bilalow, der Dmitri Medwedew nahestehen soll, mit lautem Krach zum Rücktritt gezwungen.
Es hatte sich herausgestellt, dass sich »Erholungsorte im Nordkaukasus« für die Einrichtung olympischer Objekte mehr als erlaubt unter den Nagel gerissen hatte, was Putin in Rage brachte: Er entließ Bilalow praktisch während einer Livesendung. Danach floh der maßlos erfolgreiche kaukasische Unternehmer … richtig, nach Deutschland, wo er sich zum Opfer einer Quecksilbervergiftung erklärte und zur Kur in eine nicht näher bezeichnete Klinik in Baden-Baden begab.
Übrigens gibt es allen Grund zu der Annahme, dass die Vergiftung diplomatischen und mythologischen Charakters ist. Denn wenn Putin endgültig erfährt, wie viel gestohlen wurde, wird diese Version wichtig, um in der Bundesrepublik um politisches Asyl nachzusuchen. Die progressive Öffentlichkeit wird schließlich wie in den oben beschriebenen Fällen von Anna Politkowskaja und Alexander Litwinenko meinen, dass hinter dem tödlichen Quecksilber die blutige russische »Militärokratie« aus den Forschungsarbeiten der Soziologin Kryschtanowskaja steht.
Fazit: Ich erkenne die Verantwortung Putins als Staatsoberhaupt für den merklichen Anstieg der Korruption in Russland an, nicht aber ihn als Urheber oder Ideologen unserer hauseigenen ROS-Wirtschaft. Das neosowjetische Imperium
Mit Sicherheit kann ich sagen, dass es schwierig ist, in der heutigen Welt einen Staat zu finden, der noch antisowjetischer ist als Putins Russische Föderation.
Die UdSSR gründete sich auf: den Primat der kommunistischen Ideologie und ihre totale Durchdringung aller Poren der Gesellschaft; den Kollektivismus; das Staatseigentum; den hohen Stellenwert der Sozialisierungssysteme und der sozialen Sicherheit jedes Bewohners des Landes; ein niedriges Korruptionsniveau.
Die heutige Russische Föderation gründet sich auf: das Fehlen einer offiziellen staatlichen Ideologie (die vielen Studien analytischer Zentren, die dem Kreml alle möglichen Ideologien andichten wollen, zählen hier nicht; wer kann sich überhaupt an den Inhalt dieser Studien erinnern?); ein nach den Maßstäben der gesamten russischen Geschichte extremen Individualismus; das Privateigentum – sogar die Aktiva, die formal dem Staat gehören, werden de facto im privaten Interesse des Managements geleitet; die Zerstörung der früheren sowjetischen Sozialisierungssysteme und eine daraus resultierende Einschränkung sozialer Sicherheiten; ein äußerstes Maß an Korruption.
Eine andere Sache, die den nicht allzu aufmerksamen Beobachter in Verwirrung stürzen kann, ist die Rückkehr vieler Symbole und Zeichen der sowjetischen Zeit in das staatliche und gesellschaftliche Leben: von der Melodie der Staatshymne – allerdings mit einem neuen Text (2000) – bis hin zur Auszeichnung »Held der Arbeit« (2013). Aber das alles ist nur ein Betrug mit Symbolik. Es ist klar, dass der Putin’sche Gaunerkapitalismus seiner Natur nach ganz und gar parasitär ist. Er ist nicht geneigt, eigene allgemeingültige Inhalte und Muster hervorzubringen. Er kann nur die alten imperialen Symbole benutzen, die mittlerweile völlig ihres Inhalts beraubt sind.
Ja, vermutlich neigen Putin und seine Regierungsmannschaft zu der Ansicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Russischen Föderation das Gesamtsystem der sowjetischen Ästhetik nach wie vor positiv bewertet. So kann man die »schönen alten Lieder« ans Volk verfüttern, um es sozial-psychologisch ruhigzustellen. Aber von einer realen Annäherung an das sowjetische Modell bezüglich Staatsform, Gesellschaft und Wirtschaft kann keine Rede sein.
Soweit zum Imperium.
Entgegen der verbreiteten Vorstellung, Russland habe unter Präsident Wladimir Putin seinen Einfluss auf die Länder des postsowjetischen Raums verstärkt und vertieft, trifft in Wirklichkeit das Gegenteil zu. Im Laufe der vergangenen dreizehn Jahre sind die Institutionen einer postsowjetischen Integration eigentlich völlig zusammengebrochen. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) hat sich praktisch in ein Touristikunternehmen zur Organisation politisch inhaltloser Treffen postsowjetischer Führungspersönlichkeiten verwandelt.
An den Einheitlichen Wirtschaftsraum, dessen Gründung Putin bereits 2003 ankündigte, erinnert sich heute kaum noch jemand. Die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG), über die WWP während seines Wahlkampfes 2012 mündlich und schriftlich ausgiebig räsonierte, wird wohl ein Propagandamythos bleiben.
Es existiert die Zollunion von Russland, Belarus und Kasachstan, der das zweitwichtigste Land der ehemaligen UdSSR – die Ukraine – nicht beitreten will. Aber auch die Zollunion kommt ins Schleudern. In erster Linie liegt es daran, dass sie für Russland nicht sonderlich vorteilhaft ist: Die Öffnung der Zollgrenze für Belarus und besonders für Kasachstan führt zu einer gigantischen Expansion von Waren zu Dumpingpreisen auf dem russischen Markt, was der ohnehin schwere Zeiten durchlebenden russischen Industrie einen schweren Schlag versetzt.
Unter dem scheinbar schwachen Boris Jelzin nahm Moskau in vielen Dingen Einfluss auf die Situation in der GUS, weil sie Quelle der Legitimierung von postsowjetischen Regimes geblieben war. Man erinnere sich nur an die Szenarien und Einzelheiten des Machtantritts von Edward Schewardnadse in Georgien (1992), von Heydər Əliyev in Aserbaidschan (1993) und von Leonid Kutschma in der Ukraine (1994).
Unter dem »starken« Wladimir Putin formieren sich die postsowjetischen Regimes ohne oder sogar häufiger gegen den Willen von Moskau. Die qualitative Minderung der russischen Einflussnahme innerhalb der sich in Auflösung befindlichen GUS zeigte die Abfolge von »Blumenrevolutionen«: in Georgien (2003), in der Ukraine (2004), in Kirgistan (2005 und 2009). Alle diese Ereignisse haben Politiker an die Macht gebracht, die Russland feindlich oder zumindest nicht besonders freundschaftlich gegenüberstehen.
Der »Demokrat« Boris Jelzin war mit dem »letzten Diktator Europas« Alexander Lukaschenko freundschaftlich verbunden und behielt Belarus in seinem Einflussbereich. Der Autokrat Putin liegt ständig in Streit mit Lukaschenko und stößt ihn von sich. 2012 blockierte der »letzte Diktator« die Beteiligung einer russischen Firma bei der Privatisierung der größten belarussischen Unternehmen, die vor allem im Bereich Erdöl und Chemie tätig sind. 2013 torpedierte er die Einrichtung von russischen Militärbasen der Luftstreitkräfte in Belarus. Und so weiter.
Der Kreml brachte es fertig, die Präsidentschaftswahlen sogar in Staaten zu verlieren, die de facto nicht anerkannt sind und in fast vollständiger Abhängigkeit von der wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung Moskaus existieren: Abchasien, Süd-Ossetien, Transnistrien (2010/11). In allen drei Republiken haben bei den jüngsten Wahlen Politiker gewonnen, die das offizielle Russland nicht als die seinen anerkannte.
Somit ist unser Held auch von der letzten standardisierten Anklage, er vollbringe titanenhafte und erfolgreiche Bemühungen für eine Wiedergeburt der UdSSR in neuem Format, freigesprochen. Und nun wollen wir endlich einiges zu Putins Taten sagen, die man ihm selten vorwirft, die aber völlig real sind.
•WWP hat entgegen den Erwartungen des »sowjetischen Volkes« die Jelzin-Oligarchie NICHT ihrer Macht beraubt, sondern sie vom höchsten staatlichen Posten aus gestärkt. Er tat alles Mögliche, damit die Ergebnisse der »großen« Privatisierung, die die überwältigende Mehrheit des Volkes und die intellektuelle Klasse für ungerecht und kriminell halten, nie irgendeiner Revision unterzogen wurde.
•Er war NICHT in der Lage, für eine angemessene Untersuchung der politischen Morde zu sorgen, was die Rolle schwerer Verbrechen als bewährtes Mittel zur Lösung politischer und wirtschaftlicher Widersprüche unterstreicht.
•Entgegen seiner vielzähligen Versprechen tat er NICHTS, um der unmenschlich um sich greifenden Korruption Einhalt zu gebieten.
•Er zerstörte die letzten verbleibenden Konstruktionen des russisch-sowjetischen Imperiums und machte seine Wiederherstellung unmöglich.
•Gleichzeitig berief er sich ständig – verlogen und falsch – auf die imperiale Symbolik und Rhetorik und bremste damit für eine unbestimmte historische Dauer die Verwandlung Russlands vom formlosen Bruchstück eines Imperiums in einen modernen Nationalstaat europäischen Musters.
Und für diese – realen und nicht imaginären – Taten wird die Geschichte Wladimir Putin eine gewaltige Rechnung präsentieren.