Kapitel 22: Der Zusammenbruch der Oeconomia putina – wie und wann?

In absehbarer Zeit kommen auf Russland ernsthafte wirtschaftliche Probleme zu. Davor haben Experten, zu denen auch der Autor dieser Zeilen gehört, seit 2004/2005 gewarnt. Doch die herrschende russische Elite hat diese Warnungen nicht ernst genommen: Sie meinte, man könne mit dem steigenden Ölpreis alles überdecken, abdecken und abschreiben – für zwanzig bis dreißig Jahre im Voraus.

Eine gewisse Ernüchterung setzte erst im Herbst 2008 ein, als die weltweite Wirtschaftskrise einsetzte und Russland besonders hart traf. Mittlerweile kostet das Öl wieder verhältnismäßig viel, aber den russischen Eliten ist nun klar, dass das Ende nicht mehr lange auf sich warten lässt. Wladimir Putin muss weise genug sein, nicht länger als bis 2018 auf seinem Posten zu bleiben. Dann bleibt ihm die Möglichkeit, den Zusammenbruch der Wirtschaft auf kommende Machthaber abzuwälzen. Die Frage ist nur: Weiß er das? Im Hinblick auf seine Aktionen und Entscheidungen können daran Zweifel entstehen.

Bevor wir näher auf den möglichen Zusammenbruch eingehen, sollten wir genauer klären, was sich hinter der »Oeconomia putina« verbirgt. Der Begriff ist selbstverständlich relativ. Die Ausbildung dieses postsowjetischen Wirtschaftmodells begann bereits Anfang der 1990er-Jahre unter Boris Jelzin. Seine endgültigen Züge hat es jedoch erst unter dem zweiten russischen Präsidenten angenommen.

Die Oeconomia putina hat zwei wesentliche Eigenschaften. Erstens handelt es sich dabei um eine Chaljawa-Wirtschaft. Das Wort chaljawa habe ich bereits im Kapitel 1 erläutert. Jeder Russe versteht es ohne weitere Erklärungen – wahrscheinlich weil es ihm bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist. Zweifellos hat es seinen Ursprung im russischen Volksmärchen, wo für wirtschaftliche Fragen ein Wundertischtuch verantwortlich war, das seine Besitzer kostenlos mit Essen versorgte. Dort gab es auch einen Ofen, von dem die Märchenfigur Jemelja nicht einmal herunterzurutschen brauchte, wenn er folgenreiche Entscheidungen treffen musste. Mit einem schnöden juristischen Wörterbuch könnte man chaljawa als »unberechtigte Bereicherung« bezeichnen. In der Oeconomia putina ist man gewohnt, ein Ergebnis ohne reale geistige oder physische Anstrengungen zu erreichen. Die Schritte, die eine solche Investition erforderlich machen, werden einfach nicht unternommen.

Zweitens handelt es sich um eine Korruptionswirtschaft. Die wichtigsten wirtschaftlichen (und sie befördernden politischen) Entscheidungen werden ausschließlich dann getroffen, wenn es viel zu stehlen gibt. Gibt es nichts zu stehlen, wird keine Entscheidung getroffen, oder sie wird auf die lange Bank geschoben. Hier begegnet uns wieder der Begriff ROS – RASPIL (Um- und Neuverteilung), OTKAT (Cashback) und SANOS (Bakschisch).

Die Oeconomia putina erschafft nichts, sondern verteilt. Die unerschöpfliche Quelle der zu verteilenden Güter ist der russische Staat. Der Gegenstand der Bemühungen der Oeconomia putina ist die Verwertung des Erbes der UdSSR, denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist auf russischem Territorium in Wirtschaft, Infrastruktur, Wissenschaft oder Technik nichts Wesentliches geschaffen worden.

Gelenkt wird die Oeconomia putina durchaus nicht vom Staat, wie viele Westeuropäer fälschlicherweise meinen, die zu oft eigene und russische Zeitungen gelesen haben. Der Staat ist in diesem Zusammenhang Ressourcenquelle und ein Mechanismus der Beschaffung von Einkünften aus Korruption, aber keineswegs ein vollwertiges Subjekt, das dazu berufen und in der Lage ist, Entscheidungen im eigenen (das heißt, im nationalen) Interesse zu treffen. In der Oeconomia putina geben zwei Kategorien von Menschen den Ton an:

•die Geldzerstückeler, die für die Verteilung der Mittel, ihre Instrumentalisierung und Proportionierung zuständig sind, und

•die Wachmänner, die das Zerstückelte hüten (oder die vom Zerstückelten verbleibende Illusion eines materiellen Nutzens).

Beide Tätigkeiten sind recht simpel. Sie basieren auf der Annahme, dass der Mensch jeglichen Wohlstand durch chaljawa bekommt und dass für die Erlangung von Wohlstand weder eine ernst zu nehmende Bildung noch eine kontinuierliche Tätigkeit vonnöten sind. Man muss nur zur rechten Zeit am rechten Ort sein, zum Beispiel durch Vermittlung eines Cousins dritten Grades den Stellvertreterposten des Direktors von Gazprom einnehmen und für den Kauf von Pflanzenfetten verantwortlich sein.

Das eigentliche Tandem, das Russland heute regiert, sind nicht Putin und Medwedew. Alles wird im Hintergrund vom universellen und allgegenwärtigen Bündnis der Geldzerstückeler und Wachmänner bestimmt. Der Zerstückeler stückelt, der Wachmann wacht. Was er bewacht, könnte er selbst nicht erklären, selbst wenn er der artikulierten Rede mächtig wäre, was im Falle von Wachmännern eine Seltenheit ist. Aber darauf kommt es auch nicht an. Wichtig ist nur sein exklusiver Status im Machtsystem.

An jedem Eingang zu einem teuren Moskauer Restaurant steht ein Wachmann. Sein Gesicht drückt ungewöhnlichen Stolz aus. In diesem Gesicht kann man Antworten auf alle möglichen Fragen finden, ausgenommen einer: Was machst du hier, altes Haus? Was willst du hier? Vor den besten Restaurants der westlichen Welt findet man keinen Wachmann vor dem Eingang. Das heißt, wenn es ein Problem geben sollte, ruft man die Polizei, weil man weiß, dass sie kommen und das Problem auch ohne zusätzliche materielle Stimulierung lösen wird.

Der Wachmann von Russland löst das Sicherheitsproblem nicht, genauso wenig wie der vor einem Restaurant. Wenn es beispielsweise zu einer Prügelei kommt, erinnert er sich sofort daran, dass die Gesetzgebung der Russischen Föderation ihm eine Einmischung nicht gestattet, damit er die Menschenrechte nicht verletzt. Er steht am Eingang, um mit seinem argwöhnischen Überlegenheitsblick Kunden abzuschrecken. Er zeigt demonstrativ, dass das von ihm bewachte Restaurant zur Nahrungsaufnahme nicht geeignet ist und das bewachte Land (die Russische Föderation) nicht zum Leben. Sollten Sie irgendwelche menschlichen Bedürfnisse haben, einschließlich des Gefühls von Würde, dann sollten Sie einen anderen Ort aufsuchen.

Die Oeconomia putina liebt schwer realisierbare Projekte mit riesigen Budgets. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Je umfangreicher das Budget, umso mehr gibt es zu stehlen. Die Geldquelle wiederum ist in der Regel der Staat, dem es de facto an einem Subjekt mangelt und der deswegen alles erträgt.

Nach Einschätzung gut informierter Experten betragen die Ausgaben für die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi insgesamt 60 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Die vorangegangenen Winterspiele in Vancouver haben weniger als 2 Milliarden Dollar gekostet und waren damit 30 (!) Mal billiger.

Warum ist Sotschi so teuer? Weil es sich dabei um eine subtropische Stadt handelt, die zwischen Bergen und dem Meer eingeklemmt und objektiv ungeeignet für die Veranstaltung von Winterspielen ist. Aber der russischen Regierung unter Putin wurde das erst Anfang 2013 klar, ein Jahr vor der geplanten Eröffnung der Olympiade (sie soll am 6. Februar 2014 beginnen).

Anfang Februar 2013 kam unser Held höchstpersönlich nach Sotschi, um das Gefühl tiefster Befriedigung daraus zu schöpfen, dass die Stadt für die Spiele bereit ist. Stattdessen fühlte er etwas völlig anderes. Es zeigte sich beispielsweise, dass die Baukosten für viele Objekte im Vergleich zur ursprünglichen Kalkulation um das Fünf- bis Achtfache gestiegen waren. Abgesehen von den finanziellen gibt es auch schwer lösbare Probleme mit der Infrastruktur.

Nach diesem allerhöchsten Besuch erklärten viele einflussreiche, mit der Angelegenheit betraute Personen – unter ihnen der Großunternehmer Wladimir Potanin, der ehemalige Finanzminister Alexei Kudrin und der Vize-Ministerpräsident der Regierung der Russischen Föderation Dmitri Kosak –, die Zukunft der Sportanlagen von Sotschi sei unklar, der Bau vieler Objekte sei bereits eingefroren, habe sich als unzweckmäßig oder als übermäßig verlustbringend erwiesen.

Wladimir Potanin, Präsident der Holding Interros, der sich um den Bau der Abfahrtstrecke Rosa Chutor kümmert, erklärte: »Auf einmal hat sich herausgestellt, dass es hier Berge gibt, dass es hier einen Erdrutsch gibt und dass die mittlere Tiefe, zu der man vordringen muss, um den Stützpfeiler aufzustellen, zwei bis drei Meter beträgt, an manchen Stellen sogar bis zu neun Meter. Das ist die Spezifik des Bodens.«

Kosak beschwerte sich, dass vor dem Bau der Sprungschanze eine spezielle geologische Aufnahme gemacht wurde und sich (sechs Jahre nach der Entscheidung für Sotschi als Austragungsort der Olympiade!) herausstellte, dass Sotschi über eine sehr komplizierte geologische Struktur verfügt – die Berge fallen zum Meer hin steil ab, es gibt viele Sümpfe, kleine Flüsse und unterirdische Gewässer. Dadurch besteht eine große Senkungs- und Absturzgefahr. Nicht ohne Grund gibt es in dieser Gegend von alters her nur einen schmalen Landstreifen entlang des Meeres.

Der Vertreter eines weiteren großen Beteiligten am Drama von Sotschi, die Firma Basowy Element (die dem Mitglied der Jelzin-Familie und Milliardär Oleg Deripaska gehört), bezeichnete die Fehlkalkulationen als »objektive Gründe«: »Die Erhöhung der Ausgaben ergab sich aus objektiven Gründen, weil es bei der Projektierung und Planung der Arbeiten zu Fehlern gekommen war.«

Kudrin räumte ein, dass viele Investoren Sotschi bereits aufgeben: »Der Enthusiasmus vieler Firmen war am Anfang groß. Jeder wählte sich irgendeine Bau-Insel, irgendwelche Sportarten und Baugrundstücke und meinte, er bringe sich für die Zukunft der olympischen Bewegung ein. Vielleicht hat sich niemand alle Schwierigkeiten auf diesem Weg vorstellen können, die unter anderem beim Zusammenwirken und der Organisation solcher riesigen Komplexe und Baustellen entstehen.«

Eingestellt wurde der Bau einer ganzen Reihe von Hotels – und Sotschi wird möglicherweise vor dem riesigen Problem stehen, wo es seine Gäste und Sportler unterbringen will. Nach und nach werden die Bauarbeiten an den Häfen eingestellt, an deren Wirtschaftlichkeit man vorher ebenfalls nicht recht gedacht hatte. Nach Sotschi bringt man Waren besser auf dem Luftweg oder mit der Eisenbahn. Völlig unklar ist außerdem, was man mit all den Bauten nach der Olympiade anfangen soll. Die Investoren fordern bereits Steuervergünstigungen, es gibt einfach niemanden, dem man den gebauten Wohnraum verkaufen könnte – die Preise sind exorbitant, und Arbeit gibt es in Sotschi nicht einmal für diejenigen, die dort schon lange leben. Auf den Baustellen wurden alle von Gastarbeitern verdrängt. Viele Gebäude wurden immer noch nicht fertig gebaut.

Mehr noch: Wie sich »plötzlich herausstellte« (was in der Oeconomia putina oft vorkommt, weil eine strategische Planung auf allen Beinen hinkt oder völlig fehlt), wird es in der Stadt während der Olympiade keinen Strom geben. Dazu sagte der ehemalige Minister Boris Nemzow, der in Sotschi geboren, aber nicht Bürgermeister der Stadt wurde:

In der Stadt fällt schon seit vielen Jahre ständig der Strom aus … Die Gründe dafür sind mangelnde Kapazitäten, alte Leitungen und ständige Einstürze auf dem Gebirgspass Drushba-Sotschi.

Im Wissen darum wollte die Regierung in Adler ein Wärmekraftwerk mit einer Kapazität von 360 Megawatt bauen, das Wärmekraftwerk von Sotschi modernisieren und dabei seine Kapazität auf 160 Megawatt erhöhen und in Kudepsta ein Wärmekraftwerk mit 360 Megawatt bauen. Die ersten beiden wurden gebaut … Also liegt die Kapazität jetzt bei 540 Megawatt.

Die Stadt verbraucht zu Spitzenzeiten ungefähr 500 Megawatt. Im Prinzip sind die beiden Kraftwerke für die Stadt ausreichend. Aber nur, wenn man die olympischen Objekte nicht mit einrechnet. Die olympischen Objekte sind wahnsinnige Energiefresser. Sie verbrauchen über 650 Megawatt, also mehr als die gesamte Stadt mit ihren 500 000 Einwohnern. Auf diese Weise wird man während der Olympiade und auch danach über 1100 Megawatt verbrauchen. Die eigenen Kapazitäten reichen nicht einmal für die Hälfte.

Selbst wenn ein Wunder geschieht und man das Wärmekraftwerk von Kudepsta bauen sollte, wogegen sich Umweltschützer und die Bewohner der Stadt aussprechen, reicht das System nicht aus, und man wird Strom von außen über den Gebirgspass Drushba–Sotschi benötigen. Im Februar gibt es wegen der starken Winde und Vereisungen auf dem Gebirgspass ständig Einstürze – das ist der Grund für den regelmäßigen Stromausfall.

Damit ist folgendes Szenario am wahrscheinlichsten: Wegen der fehlenden Kapazitäten wird man in der Stadt während der Olympiade im Dunklen bei Kerzenlicht sitzen, während die Wärmekraftwerke von Sotschi und Adler die Olympiade ausleuchten. Aber Sotschi ist noch nicht einmal die größte Finanzkatastrophe in Putins Russland. 2007 vereinbarten der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew und der Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow ein Programm für die Neubewaffnung der russischen Armee – zu Kosten von 23 Trilliarden Rubel, also fast 600 Milliarden Euro. Worin das Programm bestehen soll, wurde bisher nicht verlautbart. Aber eines ist klar: Das hehre Ziel, den militärisch-industriellen Komplex des untergegangenen Imperiums zu erneuern, kann nicht erreicht werden, weil die russische Rüstungsindustrie hoffnungslos veraltet ist und keine moderne Technik herstellen kann. Beispiel dafür sind die zahlreichen glücklosen Starts von brandneuen Weltraumsputniks, welche die sowjetische Technologie in einer unverhohlen parodistischen Variante beerbt haben, sowie der skandalösen Rakete Bulawa, über die man nur gleichzeitig lachen und weinen kann.

Alternativlos werden die 600 Milliarden Euro also für den Import von Waffen ausgegeben, die man in den USA und den EU-Ländern kaufen wird, vor allem in Deutschland und Frankreich.

2010 hat Russland bereits für einen solchen Präzedenzfall gesorgt. Es kaufte von Frankreich vier Mistral-Korvetten. Nach einer der Versionen, die Licht ins Dunkel bringen sollen, wollte Dmitri Medwedew Nicolas Sarkozy damit helfen, die Wahlen in Frankreich 2011 zu gewinnen – der französische Präsident sollte die Werft in Nanterre, wo Mistral hergestellt wird, mit Arbeit überhäufen. 2012 stellte sich dann heraus, dass es in Russland für die Mistral-Korvette schlicht an Brennstoff fehlt. Dieser kann nur in Frankreich gekauft werden, wo mittlerweile Sarkozys ehemaliger Konkurrent, der Sozialist François Hollande, Präsident ist.

Vor diesem Hintergrund wirkt der Versuch des Beauftragten für die Rechte Minderjähriger in Russland, Pawel Astachow, einem ehemaligen Anwalt vieler Popstars, an die 20 Milliarden Dollar für die Umsetzung eines Verbots der Adoption russischer Waisen durch Ausländer zu erhalten, nicht mehr ganz so seltsam.

Bei alldem ist die Oeconomia putina nicht einmal Herr ihrer selbst. Sie wird durch zwei äußere Parameter bestimmt, auf die Russland keinen Einfluss nehmen kann:

•durch den Ölpreis und

•durch die Höhe ausländischen Spekulationskapitals innerhalb des russischen Finanzsystems.

Während der Krise 2008, als der Ölpreis von 120 auf 60 Dollar pro Barrel sank, bildete sich im russischen Staatshaushalt recht bald ein Loch von 100 Milliarden Dollar. Die panische Flucht der spekulierenden Investoren führte zu einem Sturz der russischen Fondsindexe um ungefähr das Dreifache.

Russische Experten aus dem Regierungsumfeld – zum Beispiel das sogenannte Zentrum für strategische Entwicklungen, das 1999 zur intellektuellen Betreuung der herrschenden Elite aus Putins Generation gegründet worden war – mahnen in einem fort, dass der Einbruch des Ölpreises auf dem Weltmarkt unter 80 Dollar pro Barrel zu einem Zusammenbruch der Wirtschaft des Landes führen wird. Also nicht nur zu einer weiteren Krise, sondern zu einem richtigen Zusammenbruch, weil die Reserven aus den Finanzfonds, die während der Regierungszeit von Wladimir Putin geschaffen wurden, in einem solchen Fall nicht ausreichen, um die Löcher im Staatshaushalt zu stopfen. Ganz zu schweigen von der Modernisierung der nationalen Infrastruktur (Straßen, Rohrleitungen und so weiter), deren Zustand mit jedem Tag beklagenswerter wird.

Dieser Ansicht schloss sich in letzter Zeit der berüchtigte Alexei Kudrin an, der ungeachtet seines Rücktritts aus der Regierung Ende 2011 allem Anschein nach Putins Freund und Vertrauter geblieben ist. Das von Kudrin geleitete »Komitee für zivile Initiativen« ist heute eine der wichtigsten Institutionen für das Alarmschlagen in putinnahen Kreisen. Von dort ist ein beständiges griesgrämiges Nörgeln zu vernehmen: Bald gibt es kein Öl mehr, und Russland und seine Wirtschaft sind darauf nicht vorbereitet. Es ist Zeit, Vernunft anzunehmen und unter anderem die wahnsinnigen und sinnlosen Ausgaben des Staatshaushalts zu kürzen, einschließlich des 600-Milliarden-Programms von Medewedew und Serdjukow. In der Tat: Warum sollte man die Armee neu bewaffnen, wenn sie immer weiter schrumpft wie Chagrinleder und dabei immer weniger militärische als vielmehr polizeiliche Funktionen übernimmt? Auf einen großen Krieg wird sich die russische Armee nicht mehr vorbereiten, dafür könnte die Niederschlagung von Unruhen der von Putins Regime enttäuschten russischen Bürger durch die Streitkräfte der Armee durchaus aktuell werden.

Experten zählen viele potenzielle Gründe für das Sinken des Ölpreises auf. Der wichtigste ist eine wahrscheinliche wirtschaftliche Instabilität der Europäischen Union und der Euro-Zone. Sowohl das Zentrum für strategische Entwicklungen als auch die Gruppe um Kudrin sind sich darin einig, dass zum Beispiel der Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone und die Wiedereinführung der ursprünglichen Währung, der Drachme, das finanzwirtschaftliche System von Russland erschlagen könnten. Denn Europa ist der Hauptabnehmer russischer Energieressourcen, also der Ware, die das Land hauptsächlich exportiert. Deswegen wird jede wirtschaftliche Malaise Europas auch Auswirkungen auf Russland haben.

Dazu kommt die sinkende europäische Nachfrage nach Erdgas, an dem das gigantische und, wie Spezialisten meinen, völlig ineffektiv geleitete Unternehmen Gazprom das Liefermonopol ins Ausland hält. Die Gewinne dieser Korporation, die als »nationales Eigentum« und Stolz der gesamten Oeconomia putina gilt, sind 2012 um 15 Prozent gesunken. Ihr Anteil am europäischen Markt ging von 27 auf 25,6 Prozent zurück. Dieser Trend ergab sich gleich nach der Krise von 2008 und ist scheinbar unumkehrbar.

Die langfristigen Verträge mit dem russischen Monster sind für die europäischen Verbraucher immer unbefriedigender: Mittlerweile ist es bereits vorteilhafter, das »schwarze Gold« auf dem sogenannten Spotmarkt zu kaufen (also mit kurzen Erfüllungsfristen). Immer größere Konkurrenten für Gazprom sind mittlerweile Katar und Algir, die Europa mit Flüssiggas versorgen. Innerhalb der letzten vier Jahre ist der Anteil Norwegens am europäischen Gasmarkt um 15 Prozent gestiegen – nicht zuletzt wegen der skandalösen »Gaskriege«, die zwischen 2005 und 2010 von Gazprom mit recht unkonventionellen Methoden gegen die Transitländer Ukraine und Belarus geführt wurden. Auch die Entdeckung von großen Mengen an Schiefergas in den USA, dessen Selbstkostenpreis um ein Vielfaches unter dem der Lieferungen von Gazprom liegt – an die 110 Dollar für 1.000 Kubikmeter –, lässt an den Perspektiven Russlands als strategischer Energielieferant für den Westen starke Zweifel aufkommen.

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich vom Importeur in einen selbstständigen Produzenten und Exporteur von Gas verwandelt, der in diesem Sinne das Interesse an dem fernen, erschlafften und in seinem politisch-wirtschaftlichen Verhalten nicht immer ganz angemessen agierenden Putin-Russland verloren hat. Und man muss schon der Oberste Geschäftsführer von Gazprom Alexei Miller sein, der 1991 bis 1996 Schlüsselwart von Wladimir Putins Privatsafe im Smolny war (dem Bürgermeisteramt von Sankt Petersburg), um das nicht zu verstehen.

Schlusseffekt der aktuellen Gazprom-Krise wurde die Einstellung der Erschließung des Stockmannfeldes in der Barentssee, der größten Lagerstätte in Europa, im Mai 2012. Zunächst hatte man den Beginn der Arbeiten auf 2018 verschieben wollen, und dann wurde alles gänzlich liquidiert. Der Grund für diesen verzweifelten Schritt liegt auf der Hand: Das Gas aus dem Stockmannfeld hatte man eigentlich in die USA liefern wollen, aber jetzt braucht man es dort nicht einmal mehr als Geschenk.

Unter Putin wurde keine einzige Erdgaslagerstätte nutzbar gemacht, mit Ausnahme des sogenannten Bovanenkowo-Gasfelds in Westsibirien. Aber mit dessen Erschließung hatte man bereits zu Zeiten von Boris Jelzin begonnen, als Gazprom von einer ganz anderen Mannschaft geleitet worden war, an deren Spitze der Gründer des russischen Gasmonopols gestanden hatte, der Ex-Ministerpräsident des Landes Viktor Tschernomyrdin.

Die 2005 angekündigten Pläne Putins, aus dem heutigen Russland eine »Energie-Supermacht« zu machen, die andere von Russlands Gas abhängig machen würde, sind gescheitert. Es ist kein Zufall, dass der Begriff »Energie-Supermacht«, den der Kreml und Gazprom Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts mit heraushängender Zunge und hervortretenden Augen allen antrugen, mittlerweile aus dem Sprachgebrauch verschwunden ist.

Aber abgesehen von den genuinen russischen Kohlenwasserstoffen gibt es in der Oeconomia putina keine zuverlässigen Ressourcen. Schwierige technologische Systeme und Projekte sind hier nicht möglich, weil sich die aus Zeiten der UdSSR stammende technologische Haltbarkeit praktisch erschöpft hat. Ein charakteristisches Beispiel ist das Schicksal eines Projekts, das man 2006 und 2007 mit stolzgeschwellter Brust ausgiebig beworben hat: das Kurzstreckenflugzeug Suchoi Superjet 100.

Das Unternehmen, welches den Superjet herstellen sollte, wurde 2006 in Venedig gegründet, zusammen mit der italienischen Firma Alenia Aeronautica. Der recht exotische Ort für den Flugzeugbau wurde, wie mir scheint, deshalb gewählt, weil die russischen Flugzeugbauer neuster Ausprägung es sich in Venedig einfach gut gehen lassen wollten.

Ich bin ziemlich oft in Venedig und beobachte alles aus nächster Nähe. Die Konstrukteure des Superjets mieteten massenhaft Büros, Wohnungen und Paläste an. Ohne ihr technologisches Bewusstsein wiedererlangt zu haben, gingen sie mittags und abends in den besten Restaurants speisen. Mein venezianischer Freund Rossano, Flugzeugingenieur seit fünfunddreißig Jahren, hat mit den Konstrukteuren des SSJ-100 fast ein Jahr zusammengearbeitet und dann die Flucht ergriffen. Er sagte damals etwa Folgendes zu mir: »Diese Leute werden das Flugzeug nicht bauen. Das Flugzeug interessiert sie überhaupt nicht, es ist etwas ganz anderes, was sie interessiert.«

Rossanos Prognose erwies sich als richtig. Im Mai 2012 stürzte das Flugzeug bei einem Probeflug nach Indonesien wegen des Versagens der Navigation ab und zerschellte an einem Berg. Es kamen fünfundvierzig Menschen ums Leben. Nach diesem Vorfall erteilten die vorrangigen Käufer des unheilvollen Pseudoflugzeugs dem Projekt eine Absage: die Fluggesellschaft Alitalia (ihr ursprüngliches Interesse an dem Superjet gründete auf einer vertraulichen Vereinbarung zwischen Wladimir Putin und Silvio Berlusconi) und Armavia, die staatliche Fluggesellschaft von Armenien. Auch die russische staatliche Fluggesellschaft Aeroflot möchte nun von der fliegenden Bastelarbeit Abstand nehmen; die sie kontrollierende russische Regierung hatte ihr den Superjet geradezu aufgezwungen. Nach Angaben von Aeroflot entfallen 40 Prozent aller Störfälle bei den Flügen der Gesellschaft auf das neue Kurzstreckenflugzeug russischer Erfindung und Herstellung.

Der größte potenzielle Kunde jedoch, die indonesische Kartika Airlines, die ganze dreißig Maschinen des SSJ-100 kaufen wollte, hörte vor kurzem ganz einfach auf zu existieren – wahrscheinlich vor Schreck und aus Angst vor der Aussicht, Fluggeräte kaufen zu müssen, die eigentlich fluguntauglich sind.

Die Pläne für das neue Flugzeug sind nunmehr nichts weiter als ein schlechter Witz, der erneut bestätigt: In Russland gibt es keinen Flugzeug- oder Maschinenbau wie früher. Die Oeconomia putina musste alle hochtechnologischen Zweige vernichten und hat das praktisch auch geschafft. Denn das gehört zur Logik der Chaljawa-Wirtschaft.

Es gibt noch ein weiteres Prinzip der Oeconomia putina, über das zu sprechen sich lohnt. Da die Einnahmen aus den einträglicheren Branchen – Öl- und Gasförderung – zwischen einer kleinen Gruppe von Privatpersonen aufgeteilt werden, müssen die Ausgaben für die Modernisierung der nationalen Infrastruktur (Straßen, Rohrleitungen, kommunale Netze) auf die Bevölkerung abgewälzt werden, also auf die Durchschnittsverbraucher kommunaler Dienstleistungen. Diese Ausgaben sind jedoch riesig und wachsen immer weiter, weil die Infrastruktur, in die seit Leonid Breschnew, also seit dreißig Jahren, keine nennenswerten Gelder investiert wurden, einem völligen Kollaps nahe ist.

In Putins Russland steigen die kommunalen Tarife heftig an. 2012 beispielsweise stieg das Mietniveau in der nördlichen Hauptstadt Sankt Petersburg um 40 Prozent und in einigen Regionen an der Peripherie – dem Verwaltungsgebiet von Murmansk und in der Region Altai – um 226 (!) Prozent. Die Nachricht vom sprunghaften Anstieg der Tarife versetzte sogar Putin in Panik, der sich plötzlich (»plötzlich« ist das Schlüsselwort der Prognostiker der Oeconomia putina) bewusst wurde, dass das zahlungsunfähige Volk kurz davor stand, auf die Straße zu gehen. Der russische Präsident forderte, die kommunalen Preise müssten drastisch gesenkt werden. Allerdings ist äußerst zweifelhaft, ob irgendjemand diese Forderung umsetzen will und kann.

Der bekannte russische Wirtschaftswissenschaftler Nikita Kritschews­ki schreibt dazu:

Der Rückzug des Staates aus den Bereichen Wohnungsbau und kommunale Dienstleistungen ist einer der größten Misserfolge der liberal-ökonomischen Politik des neuen Russland. Nicht die Entstaatlichung des Eigentums, sondern die Privatisierung der vormals eindeutig staatlichen Funktionen ist die eigentliche Erklärung für den beklagenswerten Zustand des sozialen Klimas im Land.

Wie der glänzende US-amerikanische Ökonom Jeffrey Sachs richtig anmerkte, ist die Übergabe der Verpflichtungen für die Gewährung gesellschaftlich wichtiger Dienstleistungen an das Business »gleichbedeutend mit einer Umwandlung des staatlichen Monopols in ein privates Monopol, bei dem es keine Konkurrenz für die Dienstleistungen gibt«. Meine Herren Bürokraten, wenn das Volk demnächst massenhaft auf die Straße geht, wie es vor kurzem in Bulgarien der Fall war, dann werdet ihr nicht sagen können, man habe euch nicht gewarnt.

Präsident und Regierung sind ein Spielzeug in den Händen von Lobbyisten der Korporationen und korrupten Geschäftemachern auf allen Ebenen, die sich nur darum kümmern, dass ihre eigenen Taschen voll und die Oligarchen zufriedengestellt sind, von denen sie angemietet werden wie Prostituierte. Die beste Art, an Geld zu kommen – die Abgabenbesteuerung der gesamten Gesellschaft –, hat sich im Bereich der Wohnungsbau- und Kommunalwirtschaft voll entfaltet. Das Kalkül ist fehlerlos: Man kann zwar mit Ach und Krach auf viele Lebensmittel, Massenbedarfsgüter und Haushaltstechnik verzichten, nicht jedoch auf Wasser, Wärme und Strom. Die Zügel im kommunalen Bereich wurden denen überlassen, die dafür den höchsten Preis geboten haben.

Der jetzige Kollaps des Kommunalsystems geht einher mit einem demütigenden Verlust der führenden Position des Staates in den Wechselbeziehungen mit den Geschäftemachern. Nicht umsonst wechseln in der Wortverbindung Public Private Partnership die beiden Seiten der Zusammenarbeit immer öfter ihre Position, und an der Spitze des Prozesses steht der profitsüchtige Geschäftsmann.

So ist es also um die Oeconomia putina bestellt.

Die 70 bis 80 Milliarden Dollar, die nach Angaben der Russischen Zentralbank jedes Jahr aus dem Land fließen, sind keine mystischen »ausländischen Investitionen«. Es sind die Mittel der Großunternehmer und der einflussreichen Beamten Russlands, die nicht glauben, dass ihre Heimat eine Zukunft und Perspektiven hat.

Und Putin? Er ist für all das verantwortlich. Je schneller er verschwindet, desto weniger Verantwortung wird er tragen müssen. Aber die Trümmer des Zusammenbruchs der Oeconomia putina werden auch Europa treffen, das ist offensichtlich.

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