Kapitel 5: Krimineller Vergil – Putin und die Gangsterwelt von Petersburg

Diejenigen, die nach der derzeitigen russischen Klassifizierung dem »demokratischen« Lager zuzurechnen sind, vertreten üblicherweise die Auffassung, Wladimir Putin habe seinem politischen Vater Anatoli Sobtschak geholfen, einen Kontakt zu den Organen des KGB herzustellen, die im Juli 1991 angeblich die nördliche Hauptstadt kontrollierten. Das trifft wohl kaum zu, und zwar aus mindestens zwei Gründen.

Wie seltsam es für Uneingeweihte auch klingen mag: Der KGB der UdSSR hatte bei aller seiner äußeren Stärke in der späten Sowjetunion keine politische Macht. Bereits Josef Stalin hatte die Leiter der Geheimdienste wissen lassen, dass sie, selbst wenn ihnen ein breites Arsenal administrativer und technischer Möglichkeiten zur Verfügung gestellt wurde, politisch gänzlich von ihm abhängig waren – dem Lenker des Landes und Führer der Kommunistischen Partei. Ebenso war es unter Leonid Breschnew. Der KGB der UdSSR verfügte im August 1991 über eine ausgedehnte Machtstruktur, die durch die Verfassung und die Gesetze durchaus legitimiert war, tat aber nichts dafür, um die Katastrophe und den Zerfall des sowjetischen Machtapparats abzuwenden.

Als junger Mann habe ich es mit eigenen Augen gesehen: Am 22. August 1991 holte eine Menschenmenge die gigantische Statue des Gründers der »blutigen Staatssicherheit«, Feliks Dzierżyński, vom Sockel, und Tausende bewaffneter Tschekisten schauten schweigend durch die düsteren Scheiben des berüchtigten Gebäudes an der Lubjanka zu. Sie hatten keinen Befehl erhalten und konnten uns, den unbewaffneten Moskauern, die trunken waren von der unerwarteten Befreiung vom sowjetischen Totalitarismus, nichts entgegensetzen.

Im August 2001, als in Russland einigermaßen ausgiebig das zehnjährige Jubiläum des Putsches des Staatlichen Komitees für außergewöhnliche Zwischenfälle, also faktisch der Zusammenbruch der Sowjetunion gefeiert wurde, fragte ein Korrespondent der Nesawissimaja gaseta den letzten Vorsitzenden des KGB der UdSSR, Wladimir Krjutschkow: Und warum hat die allmächtige Lubjanka ihren Staat nicht gerettet? Er erhielt die Antwort, eine Entscheidung dieser Größenordnung hätte der Oberste Sowjet der UdSSR zu treffen gehabt, und der habe es nicht mehr geschafft, sich zu versammeln.

Später haben die Veteranen des KGB natürlich mündlich und schriftlich in unzähligen stolzgetränkten Interviews und verschrobenen Publikationen dargelegt, es sei ja ihr »Amt« gewesen, das sowohl Jelzin als auch Putin an die Macht gebracht habe, dass die KGB-Männer die Geschichte hundertzwanzig Jahre im Voraus und acht Kilometer in die Tiefe sehen können und so weiter.

Tatsächlich war der KGB 1991 ein gigantischer, vollgefressener, schwerfälliger und zum Mäusefangen unfähiger Kater, der sich seine stumpfen Krallen bereits am ausgeblichenen sowjetischen Teppich abgewetzt hatte und sich nicht entscheiden konnte, ob er sich jetzt auch noch über den Plüschsessel hermachen oder damit noch ein wenig warten sollte. Währenddessen wurde der Plüschsessel aus dem imperialen Wohnzimmer fortgetragen – für immer, wie es scheint. Es ist also völlig unglaubwürdig, dass der hilflose KGB in der Hauruck-Atmosphäre Petersburgs 1991 auf irgendetwas einen wesentlichen Einfluss ausüben konnte oder gar die Geschicke der Stadt entschied. Sobtschak war das damals genauso klar wie uns heute.

Wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht, war Putin zur Zeit der hier beschriebenen Ereignisse innerhalb des KGB ein deprimierter Außenseiter. Er war ein Pechvogel, der aus Dresden mit einem großen Schandfleck auf seiner Reputation abkommandiert worden war. Konnte ein solcher Mann etwa dem Bürgermeister von Petersburg – in jener Zeit informell einer der einflussreichsten Politiker Russlands – irgendwelche unsichtbaren Türen zu den Geheimdiensten öffnen, hinter denen die einbalsamierten Geheimnisse der Macht schlummerten? Nein, alles war viel einfacher und gleichzeitig komplizierter.

Die Wirtschaft der Stadt wurde in jener Zeit zu zwei Dritteln (wenn nicht mehr) von der organisierten Kriminalität kontrolliert. Ihre einflussreichsten Vertreter waren die Gruppe der »Tambower« (Anführer: Wladimir Kumarin-Barsukow) und die »Malyschewer« (Anführer: Alexander Malyschew, Gennadi Petrow). Auf dem kriminell organisierten Spielfeld agierten auch noch andere, zum Beispiel ein Mann mit dem Spitznamen »Antibiotikum«, oder Konstantin Jakowlew (»Mogila«).

Das Schicksal all dieser Leute, mit deren Namen und Beinamen man in der nördlichen Hauptstadt in den 1990er-Jahren die Kinder erschrecken konnte, gestaltete sich im Weiteren sehr unterschiedlich. »Antibiotikum« und Konstantin »Mogila« kamen ums Leben. Malyschew und Petrow sitzen wegen Geldwäsche bei Immobilienankäufen Haftstrafen in Spanien ab. Kumarin-Barsukow, der einige Attentatsversuche überlebte und einen Arm verlor, befindet sich seit 2007 in Moskau in Untersuchungshaft. Wahrscheinlich würde Putin einerseits gern diese Seite der »tollkühnen« und »herrlichen« Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts vergessen, in die diese speziellen Helden mit ihren Kalaschnikows und den kiloschweren Goldketten an ihren nicht weniger massiven Stiernacken gehören. Andererseits bleibt »die Zeit rechtlos im Angesicht der Erinnerung« (Brodsky).

Als eingefleischter russischer Intelligenzler konnte Anatoli Sobtschak keinen Kontakt aufnehmen mit Menschen und Strukturen dieser Art. Es war ihm zudem unmöglich herauszufinden, welche Rolle sie für die Wirtschaft der Stadt wirklich spielten. An dieser Stelle konnte sich der beflissene Wladimir Putin nützlich machen, zusammen mit seinem neuen Mitarbeiterstab: Igor Setschin, Ilja Traber (genannt »der Antiquar«), Gennadi Timtschenko und so weiter. Außerdem konnte Putin etwas zuwege bringen, was Sobtschak nie gelungen wäre – den Zufluss von Schattengeld für die Bedürfnisse des Bürgermeisteramts zu sichern. Dabei kam es auch zu Dienstleistungen, die mehr oder weniger fragwürdig sind, zum Beispiel:

•Annahme von Bestechungsgeldern für überteuerte juristische Dienstleistungen Putin-naher Rechtsfirmen oder bei Verkauf von antiquarischen Gegenständen zu vielfach überhöhten Preisen;

•Kontrolle über die »schmackhaften« Unternehmen in Sankt Petersburg und im angrenzenden Leningrader Verwaltungsgebiet, zum Beispiel über das Öl verarbeitende Unternehmen Kirischinefteorgsintes;

•Schmuggel von Möbeln aus Finnland nach Sankt Petersburg über Karelien.

Durch alle diese Projekte und aufgrund seiner Fähigkeiten und Geschicklichkeit wuchs Putins Einfluss in Sobtschaks Umfeld rasch, wobei man natürlich den Faktor der persönlichen Ergebenheit nicht außer Acht lassen darf, ebenso wie die Fähigkeit, dem Boss das Leben angenehm zu gestalten: Darin war Wladimir Wladimirowitsch unschlagbar.

Nicht umsonst war es ausgerechnet Putin, der Anfang 1996 die Petersburger Regionalverwaltung der Regierungspartei »Unser Haus – Russland« und Sobtschaks Wahlkampfstab leitete. Für den Mai war die Wahl des Gouverneurs angesetzt. Sobtschaks Lager zweifelte nicht an seinem Sieg, und niemand machte sich überhaupt Gedanken, ob Putin über ausreichend politische Erfahrung zur Lösung schwieriger Aufgaben verfügte.

Währenddessen fand in Moskau ein Treffen von Sobtschak und Jelzin statt, das dem Bürgermeister von Petersburg einen schicksalhaften Schlag versetzte und unseren Helden zum wiederholten Male um ein Haar unter die Erde brachte.

Загрузка...