10


»Ich finde das entwürdigend«, sagte Angela. Sie saß auf einem Stapel säuberlich zusammengeschnürter Zeitschriften, die wahrscheinlich älter waren als sie selbst, baumelte mit den Beinen und sah immer wieder nervös zu der rostigen Feuerschutztür, durch die sie hereingekommen waren.

»Was?« fragte Bremer.

»Daß wir uns hier im Keller verkriechen«, antwortete sie. Ihre Absätze stießen gegen den Papierstapel und wirbelten eine trockene Staubwolke auf. Die Streifen aus schräg hereinfallendem Mondlicht, die durch das winzige Fenster unter der Decke drangen, ließen die Staubpartikel wie Silber glänzen, aber die Luft roch auch bereits so durchdringend nach altem Papier, daß Bremer allmählich das Atmen schwer wurde. Er hätte sich gewünscht, daß sie damit aufhören würde.

»Wir sind die Polizei«, fuhr Angela in fast quengeligem Ton fort, als er nichts sagte, sondern sie nur weiter fragend ansah. »Die Exekutive! Die Ordnungsmacht in diesem Staat! Sie sollten sich verstecken, während wir nach ihnen suchen!«

Bremer seufzte und sog dadurch noch mehr trockene, zum Husten reizende Luft in seine Lungen. »Man merkt, daß Sie frisch von der Polizeischule kommen«, sagte er.

»Weil ich so viele Fremdworte kenne?«

»Weil Sie noch Illusionen haben«, antwortete Bremer. »Wir sind nicht die Polizei. Ich bin ein Bulle, der bereits die Monate bis zu seiner Pensionierung zählt, und Sie sind ein Grünschnabel, der keine Ahnung vom wirklichen Leben hat.«

»Oh, danke«, sagte Angela. Er konnte ihr Gesicht im Dunkeln nicht erkennen, aber sie klang eindeutig beleidigt. »Ich würde Sie ja fragen, wo Sie Ihre Dienstwaffe haben, aber zufällig weiß ich es. Sie liegt oben in Ihrem Schreibtisch.«

»Seit zehn Jahren«, bestätigte Bremer. »Ich finde, sie liegt dort gut.«

»Ja, selbstverständlich«, sagte Angela spöttisch. »Ich meine: Was sollen wir auch mit einer Waffe. Da draußen schleichen drei, wenn nicht vier Kerle herum, die Ihnen offensichtlich eine Heidenangst einjagen, aber wir brauchen keine Pistole!«

»Um was zu tun?« fragte Bremer. »Einen oder zwei von ihnen zu erschießen, oder am besten gleich alle vier?«

»Sagen Sie mir wenigstens, wer sie sind«, verlangte Angela, ohne auf seine Frage einzugehen. »Ich finde, das sind Sie mir schuldig.« Bremer ging zur Tür, preßte das Ohr gegen das kalte Metall und lauschte ein paar Sekunden angestrengt, ehe er antwortete. Auf der anderen Seite war alles still. Sie befanden sich jetzt seit guten zwanzig Minuten in diesem Keller. Mehr als genug Zeit für die beiden Kerle, herunterzukommen und an allen Türen zu rütteln, falls sie das wirklich vorhatten. Vermutlich waren sie längst weg.

»Ich bin Ihnen gar nichts schuldig, Angela«, sagte er, so ruhig, aber auch so nachdrücklich, wie er konnte. »Ich habe Sie nicht gebeten, hierherzukommen. Ganz im Gegenteil. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich Ihnen nahegelegt sich um Ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Und ich habe Sie schon gar nicht gebeten, gegen die eindeutige Anweisung Ihres Vorgesetzten zu verstoßen.«

»Na prima«, sagte Angela giftig. »Gleich werden Sie mir erklären, daß diese Kerle überhaupt nur meinetwegen hinter Ihnen her sind.«

»Strenggenommen stimmt das sogar«, antwortete Bremer. »Bevor Sie gekommen sind, haben Sie mich nur beobachtet. Sie sind erst aktiv geworden, nachdem Sie sich in Nördlingers Computer gehackt haben.« Angela sagte nichts mehr, aber er konnte regelrecht spüren, daß sie ihn mit offenem Mund anstarrte. Seine Worte klangen selbst in seinen eigenen Ohren grotesk, und seine Vorwürfe verliehen dem Wort unfair eine vollkommen neue Qualität. Ganz genau das war seine Absicht gewesen. Er wollte sie vor den Kopf stoßen. Sobald sie hier heraus waren, würden sie sich voneinander trennen, und er mußte irgendwie dafür sorgen, daß sie nicht einmal auf die Idee kam, noch einmal freiwillig in seine Nähe zu kommen. Wenigstens nicht, bis das alles hier vorbei war. Bremer wußte selbst noch nicht wirklich, was eigentlich geschah und wohin die Dinge sich entwickeln würden, aber eines war ihm vollkommen klar: Die Situation war längst eskaliert, und sie würde weiter eskalieren, solange er nicht bereit war, sich brav in eine Ecke zu setzen und sich mucksmäuschenstill zu verhalten. Selbst wenn er es gewollt hätte (er wollte es nicht): Er hätte es gar nicht mehr gekonnt. Nicht nach dem, was heute mittag in seiner Badewanne und vorhin im Treppenhaus passiert war. Und wenn die Männer tatsächlich die waren, für die er sie hielt, dann konnte eine Begegnung mit ihnen durchaus tödlich enden. Diesem Risiko konnte und wollte er Angela nicht aussetzen; dafür bedeutete sie ihm zuviel.

»Ich glaube, wir können es jetzt riskieren«, sagte er. »Sie sind wahrscheinlich nicht mehr da.«

Angela hüllte sich weiter in beleidigtes Schweigen, glitt jedoch mit einer fließenden Bewegung von ihrem Zeitungsstapel herunter und trat neben ihn, als er die Tür öffnete. Der Raum dahinter war noch dunkler als der Keller, in dem sie die letzten zwanzig Minuten verbracht hatten, ein schmaler an beiden Seiten von Lattenverschlägen begrenzter Gang, der an einer weiteren Eisentür endete. Bremer hatte ein Holzstück so vor die Tür gelehnt, daß es umfallen mußte, falls jemand die Tür von außen öffnete, als sie gekommen waren. Es lag noch in der gleichen Position da. Niemand war hier unten gewesen, um nach ihnen zu suchen. Das hatte Bremer auch nicht erwartet. Hätten die Männer diese Tür geöffnet, um nachzusehen, dann wären sie auch in den nächsten Keller gekommen.

Trotzdem öffnete er die Tür äußerst behutsam und blieb fast eine Minute reglos stehen, um zu lauschen, ehe er es wagte, die Tür ganz zu öffnen und hinaus zu treten. Der Hausflur lag vollkommen still über ihnen.

Sie gingen die Treppe hinauf. Bremer wies Angela mit Gesten an, zurückzubleiben, schlich allein zur Haustür und öffnete sie einen Fingerbreit.

Der BMW war noch da. Er parkte unverändert an der gleichen Stelle, an der er ihn von seinem Fenster aus gesehen hatte. Bremer konnte nicht erkennen, ob jemand darin saß, aber die Männer würden ihren Wagen kaum stehengelassen haben, um zu Fuß nach Hause zu gehen. Es sah so aus, als ob er Angelas Hilfe doch noch einmal in Anspruch nehmen mußte. Aber zum unwiderruflich letztenmal. Er drückte die Tür wieder ins Schloß, schlich zu ihr zurück und machte eine Kopfbewegung auf den Hinterausgang. »Sie sind noch da«, sagte er.

»Und was geht mich das an?« fragte sie schnippisch. Bremer ignorierte die Frage ebenso wie den Tonfall, in dem sie gestellt worden war.

»Wo steht Ihr Wagen?«

»An der gleichen Stelle wie heute nachmittag.«

»Dann lassen Sie uns gehen. Und seien Sie vorsichtig. Es würde mich nicht wundern, wenn auf der Rückseite auch einer von diesen Kerlen herumlungert.« Er war sogar fast sicher, daß es so war. Aber er zweifelte auch nicht daran, daß es ihm gelingen würde, einen Verfolger abzuschütteln wenn ihm nicht gerade ein Hubschrauber oder eine Hundestaffel zur Verfügung standen. Er wohnte seit fünfzehn Jahren in der Gegend und kannte buchstäblich jedes Haus. Wenn es ihm gelang, Angela in Sicherheit zu bringen, hatte er so gut wie gewonnen.

Als sie das Haus verließen, sagte er: »Wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe, rennen Sie einfach los. Und sollte ich die Richtung ändern, ohne etwas zu sagen, gehen Sie einfach ganz ruhig weiter, steigen in Ihren Wagen und fahren los.«

Sein Blick tastete mißtrauisch über den still daliegenden Hinterhof. Hier kannte er buchstäblich jeden Quadratmeter - oder sollte ihn jedenfalls kennen. Aber die Nacht - und vermutlich auch seine eigene Aufregung - veränderte die Dinge. Sie ließ die Schatten tiefer erscheinen, als sie waren, vergrößerte Umrisse und erschuf Bewegung, wo keine war. Der Hof war nicht leer, sondern wurde von den Bewohnern der umliegenden Häuser auf die verschiedenste Weise genutzt. Und eben leider nicht nur zum Lustwandeln und als Kinderspielplatz, wie es seine Erbauer irgendwann einmal vielleicht vorgesehen hatten, sondern auch als Parkplatz, kostenloser Lagerraum und vor allem als Abstellplatz für allen möglichen Krempel; vornehmlich solchen, den keiner mehr haben wollte. Es sah nicht so chaotisch aus wie der, auf dem sie Rosen gefunden hatten, war aber auch weit davon entfernt, ordentlich oder gar übersichtlich zu sein. Zwischen all den Schatten und ineinanderfließenden Umrissen konnte sich eine ganze Armee verstecken. Bremer wußte im gleichen Moment, in dem sie das Haus verließen, daß es ein Fehler gewesen war, nicht den Vorderausgang genommen zu haben. Er konnte die Falle regelrecht riechen. Aber jetzt war es zu spät.

Er deutete auf das aus groben Steinen gemauerte Torgewölbe auf der anderen Seite, und sie gingen los. Ohne daß er es ihr extra sagen mußte, wich Angela dem unübersichtlichsten Gerumpel aus und schlug auch einen Bogen um die beiden mannshohen Stapel mit Sperrmüll, die allmählich über den Hof wucherten. Vielleicht eine normale Vorsichtsmaßnahme, vielleicht spürte sie aber auch genau wie er, daß hier etwas nicht stimmte. Sie wurden beobachtet. Man konnte es fühlen.

Sie hatten etwas mehr als die Hälfte der Strecke bewältigt, als Bremer ein Geräusch hinter sich hörte. Er wandte im Gehen den Blick und sah eine hochgewachsene Gestalt aus dem Haus treten. Selbst ihrem Schatten war anzusehen, daß sie einen eleganten Anzug trug.

In der rechten Hand des Mannes glomm eine brennende Zigarette. Als er sie zum Mund hob, glühte sie für eine Sekunde auf wie ein vergehender Stern und sank dann wieder zu einem düster roten Glimmen herab. Der Kerl gab sich nicht einmal mehr Mühe, unauffällig zu bleiben. Ganz im Gegenteil: Er wollte, daß sie ihn sahen.

Wahrscheinlich hatten die Agenten die ganze Zeit über gewußt, wo sie waren, dachte Bremer düster, und in ihrem gemütlichen Wagen gesessen und sich einen Ast gelacht, während sie unten im Keller hockten und fast erstickten.

Ein zweiter Mann erschien in der Haustür. Der andere schnippte seine Zigarette davon und wartete noch, bis sie funkensprühend auf dem Hof explodiert war. Dann setzten sich beide in Bewegung.

Als sie auf den Hof hinaustraten, schienen sie gleichermaßen mit der Dunkelheit zu verschmelzen, aber an ihrem Ziel bestand kein Zweifel. Und auch nicht daran, daß sie es nicht besonders eilig zu haben schienen. Die Konsequenz, die sich aus dieser Erkenntnis ergab, war nicht besonders beruhigend.

»Was meinen Sie, wie viele am Tor auf uns warten?« flüsterte Angela.

»Vermutlich die beiden anderen«, murmelte Bremer. Ich hätte meine Pistole vielleicht doch mitbringen sollen, fügte er in Gedanken hinzu. Und sei es nur, um nicht damit zu schießen. Natürlich wußte er, wie naiv dieser Gedanke war. Er hatte mehr als genug arme Schweine verhaftet, die eine Waffe mit dem festen Vorsatz eingesteckt hatten, sie nicht zu benutzen. Der gefährliche Moment war nicht der, in dem man eine Waffe zog. Es war der, in dem man sie einsteckte.

»Was tun wir?« fragte Angela. Bremer lauschte vergeblich auf einen Unterton von Angst in ihrer Stimme. Alles, was er hörte, war eine deutliche Anspannung. »Werden Sie mit einem von ihnen fertig?«

»Wenn Sie die drei anderen übernehmen«, sagte Bremer spöttisch. Die ehrliche Antwort auf ihre Frage wäre ein klares Nein gewesen. Bremer war weder ein Schwächling noch in schlechter körperlicher Verfassung. Aber diese Männer waren Profis, und außerdem um etliches jünger als er. Außerdem machte es ihnen vermutlich Spaß, Leute zu verprügeln.

Er mußte eine Entscheidung treffen. Sie waren noch zehn Schritte vom Tor entfernt. Alles, was hinter dem gemauerten Bogen lag, war in vollkommener Dunkelheit verborgen. Selbst das jenseitige Ende der Durchfahrt war nichts als ein dunkelgrauer Fleck in unbestimmbarer Entfernung. Aber er fühlte die Bewegung, die dazwischen war.

»Wir könnten schreien«, sagte er.

»Schreien?«

Bremer nickte. Alles, was ihre Verfolger verwirrte, half ihnen.

»Auf der rechten Seite ist eine Tür«, flüsterte er. »Ungefähr auf halber Strecke. Sie ist fast immer offen. Sobald wir im Schatten sind, rennen wir los.« Sie waren noch fünf oder sechs Schritte von der Toreinfahrt entfernt, und Bremer mußte all seine Kraft aufbieten, um sich nicht nach ihren Verfolgern umzudrehen. Vermutlich waren sie näher gekommen, aber noch nicht allzu sehr. Er hätte gehört, wenn sie gerannt wären.

Mit jedem Schritt, den sie sich dem Tor näherten, schien die Dunkelheit darin massiver zu werden. Etwas lauerte darin. Nicht jemand. Etwas. Noch zwei oder drei Schritte, aber er mußte bereits jetzt all seine Kraft aufbieten, um überhaupt weiterzugehen. So absurd ihm der Gedanke auf der einen Seite auch selbst vorkam: Er hatte plötzlich Angst vor der Dunkelheit.

Angela verschwand hinter der imaginären Grenze zwischen Dämmerung und absoluter Finsternis und begann augenblicklich zu rennen, und im gleichen Moment stürmte auch Bremer los. Der gemauerte Tunnel fing das Geräusch ihrer trappelnden Schritte auf und warf es gebrochen und zigfach verstärkt zurück; ihre Verfolger hätten schon taub sein müssen, um es nicht zu hören und augenblicklich zu begreifen, was es bedeutete. Die Sekunde, die er jetzt gewann, konnte vielleicht die entscheidende sein. Seine Angst explodierte zu schierem Grauen, als er in die körperliche Finsternis hineinstürmte. Es war nicht einfach nur Dunkelheit. Die Schwärze hatte Substanz. Er konnte ihre Berührung wie kaltes Glas auf der Haut fühlen, und er spürte auch, wie sich etwas darin bewegte.

Panik überschwemmte seine Gedanken. Er stolperte mehr, als er lief, kam aus dem Tritt und fing den begonnenen Sturz im letzten Moment mit weit vorgestreckten Armen auf. Er schrammte sich beide Handflächen an der rauhen Ziegelsteinmauer auf, und sein ohnehin verletzter Fingernagel protestierte mit pochenden Schmerzen. Trotzdem stieß sich Bremer mit aller Kraft ab und taumelte weiter. Ein hoher, unheimlich widerhallender Laut marterte sein Gehör, und er kam abermals aus dem Tritt, schrammte mit der rechten Schulter an der Wand entlang und scheuerte sich auch noch das Gesicht blutig. Die Dunkelheit zog sich immer dichter um ihn zusammen, schnürte ihm den Atem ab und gerann zu etwas Riesigem, Grauenerregendem. Schwarzes Licht schimmerte auf mörderischen Krallen. Tödliche Fänge blitzten. Er spürte den heißen, trockenen Atem der Bestie auf dem Gesicht, und in seinen Ohren war noch immer dieses schrille, an- und abschwellende Geräusch, das er jetzt als nichts anderes als seine eigenen Schreie identifizierte. Er konnte kaum noch atmen. Sein Herz trommelte so schnell, daß es weh tat.

Die Tür! Wo war die Tür? Angela rannte dicht vor ihm, ein weißer Schatten, der immer wieder in der Dunkelheit zersplitterte, und es kam ihm so vor, als ob sie schon seit Stunden durch einen Tunnel aus Schwärze rasten. Seine Kehle schmerzte von seinen eigenen, gellenden Schreien, und hinter ihnen war plötzlich das Geräusch rhythmisch hämmernder, schneller Schritte.

Jemand schrie seinen Namen, und dann hörte er einen einzelnen, peitschenden Knall; einen Schuß. Ganz sicher einen Schuß, denn nur den Bruchteil einer Zehntelsekunde später stoben weiße und orangefarbene Funken aus der Decke fünf Meter über seinem Kopf. In dem unendlich kurzen, grellen Aufblitzen glaubte er einen gigantischen, grotesk verzerrten Schatten zu sehen, etwas Riesiges, mit Klauen, Flügeln und grausamen schwarzen Augen. Dann erlosch der Lichtblitz, und praktisch im gleichen Sekundenbruchteil verschwand auch Angela. Die Dunkelheit hatte sie verschlungen. Azrael hatte sein erstes Opfer geholt, und nun war er an der Reihe.

Alles ging unglaublich schnell, aber zugleich schien die Zeit auch beinahe stillzustehen, weil sich Bremers Gedanken plötzlich mit hundertfacher Geschwindigkeit zu bewegen schienen. Mit einemmal sah er mit furchtbarer Klarheit voraus, was geschehen würde. Azrael war wieder auferstanden. Das Ungeheuer, das all die Jahre über unbemerkt und geduldig in ihm gelauert hatte, war endlich aus seinem Versteck gebrochen. Er hatte Angela geholt, und nun würde es ihn holen. Er wollte sich herumwerfen, verzweifelt von diesem Ding davonstürzen, das ein Grauen brachte, das hundertmal schlimmer war als der Tod, aber er konnte es nicht. Seine Gedanken waren zu schnell für seinen Körper. Er rannte dem Ungeheuer direkt entgegen.

Eine Hand griff aus der Dunkelhit nach ihm, krallte sich in seinen Arm und riß ihn mitten im Lauf herum. Er wurde zur Seite geschleudert, verlor endgültig die Balance und torkelte in einer ungeschickten Dreiviertel-Pirouette durch die Tür, in die Angela ihn hineinzerrte. Aber in dieser einen Sekunde, die diese Bewegung beanspruchte und in der er sich fast einmal um seine eigene Achse drehte, offenbarte sich ihm ein Bild unvorstellbaren Terrors.

Die beiden Männer waren ihm gefolgt. Trotz der fast vollkommenen Dunkelheit, die in der Tordurchfahrt herrschte, konnte er deutlich sehen, daß sie ihre Waffen gezogen hatten und damit in seine Richtung zielten.

Und der Todesengel kam über sie. Es war, als faltete sich die Dunkelheit auseinander, um die Schwärze der Hölle zu gebären. Seine gewaltigen Schwingen füllten den Gang auf ganzer Breite aus, schlugen in einer schweren, ungeheuer kraftvollen Bewegung aufeinander zu und verschlangen einen der beiden Männer.

Als der erste Schuß fiel, riß Angela ihn endgültig ins Haus und schmetterte die Tür hinter ihm ins Schloß. Bremer taumelte ungeschickt noch einen Schritt weiter, fiel auf ein Knie herab und versuchte sich irgendwie aufzufangen, machte es damit aber nur schlimmer. Er stürzte der Länge nach zu Boden, schlitterte gute zwei Meter weit über rauhen Stein und schlug sich schmerzhaft den Schädel an, als ein unsichtbares Hindernis seiner Rutschpartie ein unsanftes Ende setzte. Er hörte einen dumpfen Knall, als Angela sich mit der Schulter gegen die Tür warf und gleichzeitig den Riegel vorlegte.

Auf der anderen Seite der Tür fiel ein weiterer Schuß, dann noch einer, und noch einer und noch ein weiterer. Er hörte Schreie, unmenschliche, spitze Schreie, ein furchtbares Bersten und Krachen, Schläge, wieder ein Schuß und eine Reihe gräßlicher, reißender Laute... Etwas traf die Wand hinter Angela so hart, daß Staub aus den Fugen wirbelte.

Sein erster Versuch, sich wieder aufzurichten, scheiterte kläglich. Er hatte sich die Stirn angeschlagen. Warmes Blut lief über sein Gesicht. Er spürte überhaupt keinen Schmerz, aber seine Handgelenke hatten auch nicht mehr die Kraft, das Gewicht seines Körpers in die Höhe zu stemmen. Mühsam wälzte er sich auf die Seite, setzte sich schwankend hoch und wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus den Augen.

Der Lärm draußen hatte abgenommen, war jedoch noch nicht ganz verstummt. Er hörte jetzt keine Schüsse mehr, aber immer noch dieses furchtbare Reißen und Krachen, und darunter groteske, unglaublich laute Freßgeräusche. Dann hörte es auf. Der Boden, auf dem er lag, begann zu zittern.

»Paß auf!« brüllte Bremer. Angela konnte unmöglich verstehen, was er meinte. Aber sie reagierte augenblicklich. Wahrscheinlich rettete es ihr das Leben.

Sie warf sich ansatzlos und mit einer schier unvorstellbar schnellen Bewegung zur Seite und herum, landete mit einer eleganten Judorolle auf dem Boden und katapultierte sich noch aus der gleichen Bewegung heraus wieder in die Höhe.

Noch bevor sie den Boden berührte, erbebte die Tür unter einem berstenden Schlag, und ein gebogener, rostfarbener Dorn von der Länge eines Fingers bohrte sich durch das morsche Holz. Ein schriller, kreischender Laut erklang, das Geräusch einer Kreissäge auf Stein, und die Kralle wurde zurückgerissen und fetzte Splitter und kleine Holzstückchen aus der Tür.

Bremer wartete nicht ab, ob sie zu einem zweiten Hieb ausholte. Das absolute Grauen, das ihn gepackt hatte, verlieh ihm neue Kraft. Er sprang in die Höhe, wirbelte herum und riß Angela mit sich, ehe sie auch nur richtig begriff, wie ihr geschah. Sie rasten los.

Angela schrie irgend etwas, was er nicht verstand, dann erscholl hinter ihnen ein schrilles, ungeheuer zorniges Brüllen, und er konnte hören, wie die Tür unter einem gewaltigen Hieb zersplitterte.

Angela schrie erneut. Bremer sah aus den Augenwinkeln, daß sie den Kopf gedreht hatte und zu dem Ding zurücksah, das sich stets mit der gleichen Geschwindigkeit bewegte wie er, und in dem er sicher war, solange er sich nur nicht zu dem Ding herumdrehte, nur, daß es kein Traum war, sondern alptraumhafte Realität, und daß er wußte, daß die Chimäre ihn vernichten würde, wenn er sich ihr zuwandte, nicht weil sie ihn einholte, sondern weil ihr bloßer Anblick ausreichen würde, ihn zu töten.

Er rannte noch schneller, zerrte Angela so rücksichtslos hinter sich her, daß sie kaum noch mit ihm Schritt halten konnte und stürzte blindlings durch die nächste Tür. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu öffnen, sondern sprengte sie einfach in vollem Lauf mit der Schulter aus dem Rahmen; ein Kraftakt, den er unter normalen Umständen niemals bewerkstelligt hätte. Jetzt spürte er ihn kaum. Er stürmte einfach weiter. Ein harter Ruck ging durch seinen linken Arm, an dem er Angela hinter sich herzerrte. Sie schrie, als sie gegen den Türrahmen, vielleicht auch die Wand prallte, aber der Laut ging in einem weiteren, noch lauteren Splittern und Brechen unter, als sich der Koloß mit rücksichtsloser Gewalt hinter ihnen hindurchzwängte. Seine Präsenz füllte den Raum aus wie ein erstickender, klebriger Geruch, schien Bremer zu ersticken, drang wie ein tödliches Gift durch jede Pore seines Körpers. Er konnte regelrecht fühlen, wie nicht etwas aus, sondern die Dunkelheit selbst materialisierte, um zu etwas Neuem und zugleich Uraltem, durch und durch Bösem zu werden.

Blind vor Angst stolperte er weiter. Vor ihnen lag jetzt ein heruntergekommener, schmaler Hausflur, der nur von einer einzelnen nackten Glühbirne erhellte wurde. Ein halbes Dutzend schäbiger Wohnungstüren nahm die rechte Seite ein; Bremer ertappte sich bei der geradezu absurden Überlegung, daß die Appartements dahinter kaum größer als Schuhkartons sein konnten, so dicht, wie die Türen beieinanderlagen - als ob das in einem Moment wie diesem irgendeine Rolle spielte!

Trotzdem beeinflußte dieser Gedanke seine weiteren Handlungen. Statt weiter durch den Flur und auf die Treppe an seinem gegenüberliegenden Ende zuzustürmen, was sein allererster, instinktiver Impuls gewesen wäre, machte er abrupt auf der Stelle kehrt, wodurch Angela endgültig das Gleichgewicht verlor und so wuchtig auf ein Knie herabfiel, daß ein lautstarkes Knirschen erklang und ihr erschrockenes Keuchen in einen Schmerzenslaut überging. Bremer stürmte weiter, riß sie mit nun eindeutig brutaler Kraft wieder in die Höhe und zerrte sie einfach hinter sich her. Er wußte nicht, ob sie lief, stolperte oder er sie vielleicht einfach hinter sich herschleifte. Er mußte aus diesem Haus heraus, das war der einzige Gedanke, der zählte, fort von diesem Ort des Grauens, weg von diesem Ungeheuer, das gekommen war, um seinen einzigen Daseinszweck zu erfüllen: zu töten.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen (Natürlich hatte sie es. Sie war ein Teil seiner Gedanken!), stieß die Bestie hinter ihm ein wütendes, markerschütterndes Gebrüll aus. Das Haus erbebte unter ihren Schritten. Holz und Stein zerbarsten unter Krallenhieben und dem Schlagen gewaltiger, stachelbewehrter Schwingen. Bremer sah sich nicht um. Er stolperte weiter, zerrte Angela rücksichtslos hinter sich her, ohne auf ihre Schreie und ihre mittlerweile fast verzweifelte Gegenwehr zu achten. Wie in einem Rausch gefangen, taumelte er auf die Haustür zu, sprengte sie wie die andere mit der Schulter auf und registrierte einen dumpfen, betäubenden Schmerz irgendwo am Rande seines Bewußtsein, während er haltlos ins Freie torkelte. Er fiel, ließ endlich Angelas Hand los und rollte zwei-, dreimal über das nasse Straßenpflaster. Die Dunkelheit stürzte sich auf ihn wie ein Raubtier, das auf ihn gelauert hatte, und der Schmerz in seiner Schulter kroch endlich aus seinem Versteck heraus und breitete sich qualvoll und betäubend in seiner ganzen rechten Körperhälfte aus.

Und plötzlich war es Angela, die ihn in die Höhe riß und einfach vor sich herstieß. In seinen Ohren pochte das Blut. Er hörte Schreie, sinnlose, durcheinanderhallende Laute, aber er konnte nicht sagen, ob es seine eigenen Schreie waren oder die Angelas, das Brüllen des Ungeheuers oder nur pure Einbildung. Haltlos taumelte er vor Angela her, drohte immer wieder zu stürzen und schaffte es irgendwie, auf den Beinen und in Bewegung zu bleiben. Vielleicht war Bewegung ihre einzige Chance, denn Bewegung war Leben, während die Dunkelheit und Stille den Tod brachten. Er humpelte weiter und brachte jetzt zum erstenmal den Mut auf, einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen. Sie waren gute zwanzig, vielleicht schon dreißig Meter von der Tür entfernt. Von ihrem unheimlichen Verfolger war noch nichts zu sehen, und mit Ausnahme der Treppenhausbeleuchtung blieb das Haus weiter vollkommen dunkel; dabei hatten sie im wahrsten Sinne des Wortes genug Lärm gemacht, um Tote aufzuwecken. Hier und da in den Häusern ringsum gingen Lichter an, und er konnte hören, wie ein oder vielleicht auch zwei Fenster geöffnet wurden. Alles, was sich in dem Hausflur bewegte, waren Schatten; als hätte die bloße Anwesenheit des Dings schon ausgereicht, um alles Leben in dem Gebäude zum Erlöschen zu bringen. Angela versetzte ihm einen weiteren Stoß, als er langsamer zu werden drohte. Bremer stolperte weiter, prallte (natürlich mit seiner ohnehin geprellten Schulter) gegen einen Wagen, der am Straßenrand geparkt war, und begriff erst durch ihr heftiges Gestikulieren, daß es sich um Angelas grünen Fiat handelte. Sie ließ endlich seine Schulter los, hetzte mit kleinen, aber rasend schnellen Schritten um den Wagen herum und zerrte rasch im Laufen den Schlüsselbund aus der Tasche.

Bremer starrte mit klopfendem Herzen zum Haus zurück. Der Schwarze Engel (Engel?!) war immer noch nicht zu sehen, aber der infernalische Tanz der Schatten hatte zugenommen. Hinter der geöffneten Haustür zuckten schwarze Blitze hin und her, als beobachte er den Veitstanz eines höllischen Schattenspielers.

Der Fiat zitterte, als Angela sich hinter das Lenkrad fallen ließ, den Schlüssel ins Zündschloß rammte und sich praktisch gleichzeitig über den Beifahrersitz warf, um die Tür auf Bremers Seite aufzustoßen. Bremer verlor eine weitere, kostbare Sekunde, weil er den Türgriff bereits aufzog und das Schloß auf diese Weise blockierte.

»Laß los!« schrie Angela. Bremer riß die Hand fast erschrocken zurück, und die Tür flog mit einem Ruck auf. Hastig warf sich Bremer auf den Beifahrersitz, und Angela rammte den Gang hinein und trat das Gaspedal rücksichtslos bis zum Boden durch. Der Uno schoß mit durchgedrehten Reifen und protestierend aufheulendem Motor los, noch ehe Bremer Gelegenheit fand, die Tür zu schließen. Der Ruck, mit dem der Wagen lospreschte, ließ sie mit einem Knall zufallen, und Bremer fand gerade noch Gelegenheit, seine Hand zurückzuziehen, ehe ihm die Finger abgequetscht wurden.

Während Angela hektisch schaltete und den Motor erbarmungslos bis über seine Grenzen hinaus belastete, drehte sich Bremer im Sitz herum. Das Haus und die offene Tür, hinter der sich Licht und Schatten noch einen erbitterten Zweikampf lieferten, fielen rasch hinter ihnen zurück. Niemand verfolgte sie. Trotzdem ließ Angela den Uno in einem fast perfekten Powerslide um die nächste Biegung schlittern, schaltete auf eine Art herunter, die das Getriebe ihres Wagens mindestens ein Jahr Lebenszeit kostete, und ließ den Motor noch schriller aufheulen. Bremer wurde zur Seite und mit dem Kopf gegen das Fenster geschleudert, klammerte sich instinktiv irgendwo fest und konnte gerade noch verhindern, daß er zur anderen Seite kippte, wodurch er unweigerlich auf Angela gestürzt wäre und sie möglicherweise die Gewalt über den Wagen verloren hätte.

»Schnall dich an!« sagte Angela hektisch. Sie fuhrwerkte wie wild mit dem Ganghebel herum, kurbelte mit der anderen Hand am Lenkrad und ließ den Wagen in die entgegengesetzte Richtung schleudern. Bremer wurde zum zweitenmal gegen die Tür geworfen, aber diesmal war er darauf vorbereitet und konnte sich rechtzeitig festhalten. Wortlos griff er nach dem Sicherheitsgurt und ließ den Verschluß einrasten. Seine Hände zitterten so heftig, daß er drei Versuche brauchte.

»Verdammt noch mal, was war das?« fragte Angela. »Was zum Teufel war das?« Sie nahm ein wenig Gas weg, was allerdings nur dazu führte, daß sich der Motor des Wagens jetzt nicht mehr anhörte wie eine überdrehte Küchenmaschine; nicht, daß der Fiat deutlich langsamer wurde. Immerhin schaltete sie das Licht ein, nahm die rechte Hand vom Lenkrad und angelte ungeschickt nach ihrem eigenen Sicherheitsgurt. Als er immer noch nicht antwortete, warf sie ihm einen bösen Blick zu und sagte: »Meinst du nicht, daß du mir allmählich eine gottverdammte Antwort schuldig bist?!« Die letzten vier Worte hatte sie fast geschrien. Bremer nahm sie trotzdem kaum wahr.

»Es ist kein Engel«, flüsterte er. »Großer Gott. Es ist kein Engel. Es ist ein ... ein Dämon!«

Angela sah ihn verstört an. Ihr Blick flackerte. »Wovon sprichst du?« fragte sie.

»Es ist kein Engel mehr«, murmelte Bremer. Die unmittelbare Gefahr war vorbei, und trotzdem schlug die Angst jetzt erst richtig zu. Nach einem Moment zitterten nicht nur seine Hände. Er zitterte am ganzen Leib. »Es ist kein Engel -«

»Azrael.« Angela schaltete herunter und trat behutsam auf die Bremse. Sie fuhren noch immer schnell genug, um jeden Wagen zu überholen, der vor ihnen auftauchte, verloren aber weiter an Geschwindigkeit. »Ich glaube, wir müssen uns unterhalten«, sagte sie grimmig.

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