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Es mußte zehn Jahre her sein, daß er das letztemal in einer Kirche gewesen war. Fast auf den Tag genau, wenn er es recht bedachte. Sein jüngster Sohn war vor drei Wochen zehn geworden, und sie hatten ihn damals - auf Wunsch seiner Frau, ganz bestimmt nicht auf sein eigenes Betreiben hin! - kirchlich taufen lassen, und Marc hatte vor einer Woche seinen zehnten Geburtstag gefeiert. Seither hatte er keine Kirche mehr von innen gesehen. Und wäre es nach ihm gegangen, dann würde es auch die nächsten zehn Jahre lang so bleiben. Und die nächsten. Und auch die darauf folgenden nächsten.

Leider ging es nicht nach ihm. Strelowsky versuchte das Straßenschild an der nächsten Ecke zu erkennen, aber es huschte zu schnell vorbei. Der strömende Regen verwandelte die Windschutzscheibe in ein Kaleidoskop aus blitzenden Farben und ineinanderfließenden Schlieren. Automatisch stellte er den Scheibenwischer schneller, kniff die Augen zusammen und drehte das Lenkrad eine Winzigkeit nach links, um einem Wagen auszuweichen, der am Straßenrand geparkt war; selbstverständlich unter der einzigen Laterne, die nicht funktionierte. Strelowsky schüttelte den Kopf, gönnte sich aber trotzdem den Luxus eines flüchtigen Lächelns. Der Besitzer des Wagens war vielleicht ein Idiot, aber trotzdem ein potentieller Mandant. Solange die Welt voller Idioten war, war seine Zukunft gesichert.

Er konzentrierte sich wieder auf die Straße. Die Gegend war ihm vollkommen unbekannt, aber trotz allem wußte er natürlich wenigstens ungefähr, wo er war. Berlin war zwar groß, aber nicht so groß, daß er sich hoffnungslos verirrt hätte. Die zweite oder dritte Straße rechts, und er war da. Und dann?

Strelowsky fragte sich, was er hier überhaupt tat. Es war nicht seine Art, auf anonyme Anrufe zu reagieren. Und schon gar nicht auf solche. Aber irgend etwas war an diesem Anruf anders gewesen als an den anderen - von denen er mehr als genug bekam. Berufsrisiko. Es gehörte zu seinem täglich Brot, angefeindet, beschimpft, bedroht, diffamiert oder auch (was tatsächlich schon vorgekommen war) mit Flüchen belegt zu werden. Er nahm so etwas normalerweise nicht ernst. Hunde, die bellten, pflegten im allgemeinen tatsächlich nicht zu beißen.

Diesmal jedoch... Er sah den Fußgänger im buchstäblich allerletzten Moment, trat mit aller Kraft auf die Bremse und riß gleichzeitig das Lenkrad nach links. Eine dieser beiden Reaktionen mußte wohl falsch sein, denn der Wagen brach aus und schlitterte, ABS hin oder her, auf blockierenden Rädern so knapp an dem Passanten vorbei, daß Strelowsky seine Augenfarbe hätte erkennen können, wäre er nicht voll und ganz damit beschäftigt gewesen, mit dem bockenden Lenkrad zu kämpfen, um die Kontrolle über den Mercedes irgendwie zurückzuerlangen. Der Wagen schlitterte weiter, vollendete seine begonnene Drehung und kam mit einem Ruck zum Stehen, als die beiden Räder auf der linken Seite mit der Bordsteinkante kollidierten.

Der Anprall war so hart, daß er eine Sekunde lang ernsthaft fürchtete, die Airbags würden auslösen, was ihn nicht nur in eine peinliche Situation bringen, sondern auch eine hübsche Stange Geld kosten würde. Statt dessen ging nur der Motor aus. Auf dem Armaturenbrett leuchtete eine Anzahl grüner und roter Lichter auf, und der Bordcomputer quäkte ihm mit seiner synthetischen Stimme irgendeine Warnung zu, die er zwar nicht verstand, nichtsdestotrotz aber am liebsten mit einem Fußtritt beantwortet hätte. Eine Hupe schrillte. Rasch hintereinander tasteten drei, vier Scheinwerferpaare über den Wagen und tauchten sein Inneres in fast schon grelles Licht, und Strelowsky wurde sich des Umstandes bewußt, daß aus seiner kleinen Unachtsamkeit vielleicht doch noch ein ausgewachsener Unfall werden konnte, wenn er nicht bald etwas tat; der Wagen stand auf der falschen Straßenseite, und seine Scheinwerfer konnten den Fahrer eines entgegenkommenden Fahrzeuges schließlich ebenso blenden, wie es ihm gerade umgekehrt erging. Ein selbstverschuldeter Autounfall, möglicherweise mit Verletzten, Sachschaden und einer fetten Strafanzeige: genau das, was er jetzt noch brauchte. Mit Fingern, die weitaus heftiger zitterten, als ihm selbst bewußt war, drehte Strelowsky den Zündschlüssel und wurde mit einem gehorsamen Aufheulen des Motors belohnt. Durch die regennasse Frontscheibe konnte er den Passanten sehen, den er um ein Haar überfahren hätte. Der Mann hatte bis jetzt wie zur Salzsäule erstarrt dagestanden und ihn mit offenem Mund angestarrt; jetzt setzte er sich zögernd, aber schneller werdend in Bewegung. Strelowsky konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber er hatte eine ziemlich klare Vorstellung davon, was sich in diesem Moment darauf abspielte: Nachdem der Schrecken überwunden und die Erleichterung darüber, noch am Leben zu sein, verdaut war, machten sich Empörung und gerechter Zorn auf seinen Zügen breit. Er kannte diese Verwandlung von jedem dritten Mandanten, der ihm gegenübersaß. Menschen, die sich im Recht wähnten, waren schlimm; solche, die sich im Recht und dazu ungerecht behandelt fühlten, waren eine Pest.

Er hämmerte den Gang hinein, wartete eine Lücke im entgegenkommenden Verkehr ab und fuhr mit viel zuviel Gas los. Unter den Hinterrädern des Benz spritzen zwei glitzernde Wasserfontänen hoch und vereinigten sich präzise vor dem Gesicht des unglückseligen Fußgängers zu einer einzigen. Diesmal versuchte Strelowsky erst gar nicht, ein schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken, vor allem nicht, als der Wagen auf der Stelle herumschleuderte und er im Rückspiegel den drohend in seiner Richtung emporgereckten Mittelfinger des Burschens sah. Tausend Mark, dachte er. Zwei, wenn er den richtigen Richter fand. Die Zeiten, in denen der Stinkefinger ein billiges Vergnügen war, waren schon lange vorbei.

Aber der Typ hatte Glück. Er war heute nicht hier, weil er auf der Jagd nach einem Mandanten war, oder jemanden suchte, der ihm Grund zu einer Abmahnung gab.

Strelowsky nahm ein wenig Gas zurück, schaltete in den nächsthöheren Gang und verlagerte seine Aufmerksamkeit wieder von der durchnäßten Gestalt im Rückspiegel auf die Straße vor sich. Wenn er bei seinem kleinen Dreher nicht vollends die Orientierung verloren hatte, dann konnte es jetzt nicht mehr sehr weit sein. Die nächste oder übernächste Straße. St. Peter. Sie erkennen es dann schon.

Woran zum Geier erkannte man eine Kirche? Etwa am Glockenturm?

Es war nicht die übernächste Straße, sondern die danach. Obwohl Strelowsky weit mehr auf die Straßenschilder als auf den Verkehr achtete, hätte er die Einmündung um ein Haar doch noch verpaßt. Er mußte hart bremsen, rutschte trotzdem noch ein gutes Stück weiter und mußte fünf oder sechs Meter zurücksetzen, um überhaupt abbiegen zu können. Seine Laune sank noch weiter. Der zweite Fehler, den er auf dem Weg hierher beging - und wenn er ehrlich war, wahrscheinlich eher der zweiundzwanzigste. Er fuhr unkonzentriert wie schon seit langem nicht mehr. Dieser ominöse Anruf beschäftigte sein Unterbewußtsein offensichtlich weit mehr, als er zugeben wollte.

So weit das Wetter diese Beurteilung zuließ, befand er sich in einer ziemlich heruntergekommenen Gegend. Etliche Häuser schienen leer zu stehen - entweder das, oder ihre Bewohner hatten gleich etagenweise versäumt, die Stromrechnungen zu bezahlen. Am Straßenrand waren nur sehr wenige Wagen geparkt, darunter ein paar Prachtstücke notdürftig nachlackierter Trabbis, ein mindestens fünfzehn Jahre alter Golf und ein leibhaftiger Wartburg, der wahrscheinlich schon wieder einen gewissen Liebhaberwert hatte... Wann war er das letztemal in einer Gegend wie dieser gewesen? Er wußte es nicht, aber es war länger her als sein letzter Besuch in einer Kirche, und es war ungefähr genau so freiwillig geschehen.

Strelowsky fuhr langsamer, schaltete die Scheibenwischer auf die höchste Geschwindigkeitsstufe und reduzierte sein Tempo noch einmal. Der Mercedes, der wahrscheinlich mehr gekostet hatte als die meisten Häuser, an denen er vorbeifuhr, bewegte sich jetzt kaum noch schneller als ein Fußgänger.

Trotzdem wäre er um ein Haar an seinem Ziel vorbeigefahren. Sie sehen es dann schon. Quatsch! Er hätte ihm lieber sagen sollen, daß er eben nichts sehen würde. Das Grundstück lag ein gutes Stück von der Straße zurück versetzt und war nicht beleuchtet. Trotzdem konnte er seine enorme Größe erkennen. Die Kirche selbst nahm nur einen kleinen Teil des vorhandenen Platzes ein; den Rest beanspruchte eine seltsame Mischung aus Friedhof und Park. Das Gelände mußte selbst in diesem Teil der Stadt noch Millionen wert sein. Strelowsky wunderte sich flüchtig, daß dieser Schatz noch keine Grundstücks-spekulanten angezogen hatte.

Er hielt an, stieg im strömenden Regen aus und schlug den Jackenkragen hoch, ehe er die Tür zuschlug und sorgsam abschloß. Die Gegend war ihm nicht geheuer. Der Umstand allein, daß er vor einer Kirche parkte, würde einen potentiellen Autodieb vermutlich nicht davon abhalten, den Wagen zu stehlen. Die Welt war voller potentieller Diebe. Potentieller Mandanten, sozusagen, die dafür sorgten, daß er nicht arbeitslos wurde. Diesmal amüsierte ihn der Gedanke nicht annähernd so sehr wie noch vor ein paar Minuten.

Strelowsky drehte das Gesicht aus dem Regen und lief mit weit ausgreifenden Schritten und schräg nach vorne gebeugt auf das offenstehende Tor in dem geschmiedeten Zaun zu. Es wurde immer kälter. Obwohl er vor nicht einmal einer Minute aus dem beheizten Wagen ausgestiegen war, zitterte er schon vor Kälte. Der Regen fiel jetzt fast waagerecht, und die Tropfen stachen wie winzige, spitze Nadeln in sein Gesicht. Seine Schuhe - Timberland, Wildleder, der Gegenwert einer mittleren Scheidung oder drei, wenn nicht vier Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer - platschten in knöcheltiefem Wasser. Mit ein bißchen Pech konnte er sie als Totalverlust abschreiben. Allmählich begann dieses Unternehmen ziemlich teuer zu werden, dachte Strelowsky mißmutig. Und dabei hatte es noch nicht einmal richtig angefangen.

Als er sich der eigentlichen Kirche näherte, begriff er zumindest, was die Stimme am Telefon gemeint hatte, als sie sagte, er würde es dann schon sehen. Bei Dunkelheit und strömendem Regen war St. Peter nichts mehr als ein buckeliger Schatten, der wohl bedrohlich gewirkt hätte, wäre er in der Stimmung gewesen, auf Stimmungen zu achten. Tagsüber und bei entsprechender Beleuchtung mußte sie einen beeindruckenden Anblick bieten. Die Kirche war nicht sehr groß, schien aber bei der herrschenden Beleuchtung (oder sollte er lieber sagen: Nicht-Beleuchtung?) nur aus gotischen Spitzbögen, Säulen und Pilastern zu bestehen, auf denen pausbäckige Gargoylen mit Flügeln und Krallen hockten. Über den drei ineinandergeschachtelten Bögen des großen Portals schwebte ein steinerner Engel. Der strömende Regen versilberte seine Flügel und erweckte das halb zerfallene Gesicht auf unheimliche Weise zum Leben.

Strelowsky verscheuchte den Gedanken und beschleunigte seine Schritte noch mehr. Das waren alberne Gedanken, kindisch und vor allem eines Mannes in seiner Position einfach nicht würdig. Er war jetzt seit einer Minute in diesem Regen, und offensichtlich fantasierte er bereits schon; vielleicht im Vorgriff auf das Fieber, das er sich mit diesem Schwachsinnsunternehmen garantiert einhandeln würde.

Trotzdem ertappte er sich dabei, noch einmal einen raschen Blick zu dem steinernen Cherubim über dem Eingang zu werfen, als er die Treppe hinauf stürmte. Genau in dem Sekundenbruchteil, in dem er es tat, zuckte ein Blitz über den schwarzen Himmel. Der Wolkenbruch mauserte sich zu einem Gewitter. Das grelle Licht löschte für einen Sekundenbruchteil alle Schatten aus und ersetzte sie durch bodenlose, schwarze Abgründe, die in der Wirklichkeit klafften.

Ein zweiter Blitz loderte über den Himmel. Er löschte die unheimlichen Schatten aus und ließ die Konturen der Grabsteine und Statuen auf dem Friedhof als schwarze Umrisse aus der Nacht auftauchen und ebenso schnell wieder damit verschmelzen. Aber vielleicht gerade, weil die Schatten nur für einen Sekundenbruchteil aufblitzten, erweckte einer davon Strelowskys besondere Aufmerksamkeit: Es war ein steinerner Engel, lebensgroß und uralt, vielleicht sogar das Gegenstück dessen, der über dem Portal schwebte. Etwas daran ... beunruhigte Strelowsky. Natürlich war er sich auf der einen Seite vollkommen, zweifelsfrei und überhaupt hun-dert-pro-zen-tig darüber im klaren, daß es vollkommener Unsinn war, unmöglich und ganz und gar ausgeschlossen, aber leider gab es da noch eine andere Seite, eine neue, unbekannte, aber leider auch äußerst hartnäckige Stimme in ihm, und diese Seite seines visuellen Wahrnehmungsvermögens behauptete steif und fest, daß sich der steinerne Engel gerade vor seinen Augen bewegt hatte; auf eine unheimliche und gleichsam bedrohliche Art. Vielleicht nicht einmal wirklich bewegt. Vielmehr war es ihm, als ob er ... die Absicht einer Bewegung gespürt hatte. Verrückt. Nicht nur unlogisch, sondern vollkommen widersinnig. Der Gedanke ergab nicht einmal den Hauch eines Sinns. Was war mit ihm los?

»Herr Strelowsky?« Strelowsky fuhr erschrocken zusammen und drehte sich so schnell herum, daß er auf den nassen Steinstufen beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. In dem geschnitzten Portal vor ihm hatte sich eine schmale Tür geöffnet, in der sich eine schattenhafte Gestalt abzeichnete, ein schwarzer Scherenschnitt, wahrscheinlich nicht einmal so groß wie er, und doch erschien er ihm für einen einzelnen, gräßlichen Moment wie ein bedrohlicher, steinerner Riese, ein Gigant mit Flügeln und toten Augen aus Marmor, die ihn gnadenlos anstarrten und...

»Möchten Sie dort draußen stehenbleiben und sich eine Erkältung holen, oder ziehen Sie es vor, zu mir hereinzukommen. Ich weiß, daß Sie kein großer Kirchgänger sind, aber hier drinnen ist es wärmer.« Der Mann machte einen Schritt zurück und gab damit nicht nur den Eingang frei, sondern wurde von einer Alptraumgestalt auch wieder zu einem ganz normalen Menschen.

Einem nicht einmal besonders beeindruckenden Menschen, um genau zu sein. Selbst Strelowsky, der alles andere als ein Riese war, mußte ihn noch um einige Zentimeter überragen, und die schwarze Soutane verlieh ihm keine Autorität, sondern ließ ihn eher noch verwundbarer erscheinen. Strelowsky konnte sein Gesicht nicht richtig erkennen; seine Brille war naß, und als er endlich aus seiner Erstarrung erwachte und mit einem umständlichen Schritt durch die schmale Tür trat, beschlugen die Gläser praktisch sofort.

»Sie ... sind doch Herr Strelowsky, oder?«

»Werfen Sie mich wieder raus, wenn ich nein sage?« fragte Strelowsky, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. »Ich bin es. Und Sie sind...?«

»Thomas«, antwortete der andere. »Vater Thomas. Aber auf den Vater können wir gerne verzichten.«

Warum sagst du es dann erst? dachte Strelowsky. Er antwortete nicht, sondern nahm seine Brille ab, fuhr sich mit der anderen Hand über das nasse Gesicht und tat dann so, als suche er in seiner Jacke nach einem Taschentuch. In Wirklichkeit tastete er nach dem kleinen Kassettenrecorder, den er eingesteckt hatte, bevor er das Haus verließ. Seine Finger waren klamm und hatten ein wenig Mühe, den winzigen Aufnahmeschalter zu drücken, dann fragte er: »Sie haben mich angerufen?«

»Wir haben telefoniert«, bestätigte Thomas. »Ich freue mich, daß Sie kommen konnten.« Das Gerät begann ganz sanft in seiner Hand zu vibrieren. Es lief. Das dazugehörige Mikrofon hing als Krawattennadel getarnt an Strelowskys Schlips. Er hoffte, daß die empfindliche Elektronik die kalte Dusche unbeschadet überstanden hatte, war sich aber im Grunde dessen ziemlich sicher. Schließlich war das verfluchte Ding teuer genug gewesen.

Er zog die Hand - zusammen mit einem Tempo - aus der Tasche und begann seine Brillengläser trockenzureiben. Seine Hände zitterten noch immer, aber er war jetzt sicher, daß es nur noch die Kälte war. Eine Minute klang wenig, war aber verflucht viel, wenn man sie im strömenden Regen verbrachte und noch dazu bis zu den Knöcheln in eiskaltem Wasser stand. Kein Wunder, daß seine Fantasie Amok lief und er anfing, Gespenster zu sehen. Hier drinnen fühlte er sich schon sicherer.

Vielleicht war es auch nur der Recorder in seiner Tasche. Das sachte Vibrieren des Gerätes erfüllte ihn mit einem Gefühl der Stärke, das für einen Moment fast so intensiv war wie die - ebenso unbegründete - Furcht, die ihn draußen gequält hatte.

Umständlich setzte er seine Brille wieder auf, knüllte das Taschentuch zu einem Ball zusammen und wollte es achtlos hinter sich werfen, steckte es dann aber statt dessen ein; ganz bewußt nicht in die Tasche, in der er den Recorder trug.

»Also, Vater Thomas«, begann er. »Wie Sie selbst gerade festgestellt haben - ich konnte kommen. Ich hoffe, es ist wichtig. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, müssen Sie wissen. Ich habe nicht sehr viel Zeit.«

»Es ist wichtig«, versicherte ihm Thomas. »Vielleicht das wichtigste Gespräch, das Sie jemals in Ihrem Leben geführt haben. Ist Ihnen jemand gefolgt?« Ohne seine Antwort abzuwarten, trat Thomas an ihm vorbei und schloß die Tür. Aber nicht sofort. Bevor er es tat, zögerte er - für Strelowskys Geschmack gerade einen Sekundenbruchteil zu lange - und sah in den strömenden Regen hinaus.

»Gefolgt?« Strelowsky blinzelte. »Ich fürchte, ich ... verstehe nicht ganz, was Sie meinen, Vater.«

»Ein Wagen.« Thomas drehte sich zu ihm herum und machte eine wedelnde Geste mit beiden Händen. »Jemand, den Sie nicht kennen. Ich ... weiß nicht. Ich habe nicht viel Erfahrung in solchen Dingen, wissen Sie? Ich habe keine Ahnung, worauf man in einer solchen Situation achten muß.«

»In was für einer Situation!« fragte Strelowsky betont. »Worum geht es überhaupt? Wieso bin ich hier?«

»Das ist nicht so einfach zu erklären«, antwortete Thomas ausweichend. »Ich schlage vor, wir ... gehen vielleicht in mein Büro hinauf. Dort ist es wärmer. Und es redet sich auch leichter.«

»Nein«, entschied Strelowsky. Es hatte schon immer zu seinen eisernen Regeln gehört, daß er das Schlachtfeld bestimmte. Manchmal reichte das schon, um den Kampf zu gewinnen.

»Wie Sie wollen.« Thomas zuckte mit den Schultern, aber er sah nicht besonders glücklich dabei aus. Gut.

»Was ich will, Vater«, sagte Strelowsky ungeduldig, »ist zu wissen, warum ich hier bin.«

»Es geht um Rosen«, sagte Thomas.

Strelowsky starrte ihn eine geschlagene Sekunde lang fassungslos an. Dann packte ihn Zorn. »Wie bitte?«

»Stefan Rosen«, wiederholte Thomas. »Sie erinnern sich doch?« Aus Zorn wurde Wut. Strelowsky mußte sich wirklich beherrschen, um den Geistlichen nicht entweder anzuschreien oder sich auf dem Absatz herumzudrehen und wieder aus der Kirche zu stürmen. Hatte ihn dieser Verrückte tatsächlich deshalb hierhin bestellt? Thomas hob hastig die Hände. Offenbar war es nicht besonders schwer, in seinem Gesicht zu lesen. Strelowsky gab sich auch keine große Mühe, seine wahren Gefühle zu verhehlen. »Es ist nicht, was Sie jetzt denken«, sagte Thomas rasch. »Bitte hören Sie mir einfach zu. Es ist wichtig. Sie haben Rosen damals verteidigt, nicht wahr?«

»Ich bin Rechtsanwalt«, antwortete Strelowsky. »Es ist meine Aufgabe, Menschen zu verteidigen, die vor Gericht stehen.« Er fragte sich, warum er eigentlich noch so ruhig blieb. »Nicht, über sie zu urteilen.«

»Auch wenn sie schuldig sind?« fragte Thomas.

»Mein Mandant...«

»Wurde freigesprochen, ich weiß«, unterbrach ihn Thomas. »Deshalb sind Sie hier.«

Strelowsky schloß die Augen, zählte in Gedanken sehr langsam bis drei und sagte so ruhig, wie er konnte: »Vater Thomas, ich stehe kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Und glauben Sie mir, das passiert mir äußerst selten. Was soll das hier? Es ist jetzt fast sieben Uhr. Ich habe meine Kanzlei eine Stunde früher geschlossen, um hierher zu kommen, und meine Frau und die Kinder warten jetzt wahrscheinlich schon mit dem Abendessen auf mich. Ich habe zwei Klienten weggeschickt, die wirklich dringend Hilfe brauchen, und seit heute mittag habe ich mich mit ungefähr einer halben Million Irrer unterhalten, die von mir wissen wollten, was ich zu Rosens Tod zu sagen habe. Ich hoffe doch, daß Sie nicht in die gleiche Kategorie gehören.« Sogar ihm selbst fiel auf, daß er ziemlich zusammenhangloses Zeugs redete. Diesen Teil der Aufnahme würde er bearbeiten müssen, falls er das Band irgend jemandem vorspielte. Aber wahrscheinlich würde er das sowieso nicht. Dieser Thomas war nur ein weiterer Verrückter, der glaubte, das Recht auf Moralpredigten gepachtet zu haben, nur weil er eine schwarze Kutte trug.

»Sie mißverstehen mich, Herr Strelowsky«, sagte Thomas leise. In seiner Stimme war eine Eindringlichkeit, die Strelowsky gerne ignoriert hätte. »Ich habe Sie nicht zu mir gebeten, um über Sie zu richten.«

»Ja, das wird ein anderer tun, ich weiß«, sagte Strelowsky spöttisch. »Was wollen Sie von mir?« Er sah demonstrativ auf die Uhr. »Sie haben noch eine Minute.«

»Ich will Sie warnen, Herr Strelowsky«, sagte Thomas ernst.

»Ach?« machte Strelowsky spöttisch. »Wie originell. Ziehen Sie sich eine Nummer.«

»Ich meine es ernst«, beharrte Thomas. Was war das nur in seinem Blick, in der Art, auf die er redete, daß seine Worte ein solches Gewicht bekamen? War es wirklich nur seine Kleidung und diese Umgebung? Vielleicht hätte er doch seiner Einladung folgen und mit ins Pfarrhaus gehen sollen. »Sie wußten, daß Rosen schuldig war, nicht wahr?«

»Es ist nicht meine Aufgabe, jemanden zu...«, begann Strelowsky.

»Sie haben gewußt, daß er diese fünf Kinder umgebracht hat«, fuhr Thomas fort, noch immer auf die gleiche, irritierende Art, aus der nicht die mindeste Spur irgendeines Vorwurfes herauszuhören war, und die Strelowsky vielleicht gerade deshalb so sehr erschreckte. »Ich meine, Sie haben es schon vorher gewußt. Als Sie ihn das erste Mal im Gefängnis besucht haben. Haben Sie ihm das falsche Alibi besorgt?«

»Was fällt Ihnen ein?« fragte Strelowsky. Sein Herz jagte. Er kochte innerlich immer noch vor Wut, aber es war ein sehr seltsamer Zorn; ein Gefühl, das irgendwie nicht richtig an die Oberfläche drang, so daß er es zwar fast wie einen körperlichen Schmerz in den Eingeweiden spürte, sein Herz pochte und seine Hände wieder zu zittern begannen. Aber die Kraft, die er normalerweise aus diesem Gefühl schöpfte, wollte sich nicht einstellen. Sogar in seinen eigenen Ohren klang seine Antwort jämmerlich.

»Sie mißverstehen mich immer noch«, seufzte Thomas. »Das tut mir leid. Wirklich. Ich ... verurteile Sie nicht. Wie könnte ich das? Bitte glauben Sie mir, daß mir nichts ferner liegt. Aber es ist wichtig, daß Sie mir diese Frage beantworten. Und wenn nicht mir, dann wenigstens sich selbst. Ihr Leben könnte davon abhängen.« Und plötzlich wurde Strelowsky ganz ruhig. Der Zorn erlosch, als hätte jemand irgendwo in seinen Gedanken einen Schalter umgelegt. Buchstäblich von einem Sekundenbruchteil auf den nächsten war er wieder er selbst; der immer beherrschte, überlegende Anwalt, der gelernt hatte, Emotionen von Fakten zu trennen und Lüge von Wahrheit zu unterscheiden.

»Erklären Sie mir das«, sagte er.

Thomas schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das ist nicht so einfach«, sagte er. »Nicht, bevor Sie meine Frage beantwortet haben. Es ist ... nicht so einfach zu erklären.«

»Versuchen Sie es«, sagte Strelowsky. »Ich habe Zeit.« Als Thomas ihn fragend ansah, fügte er mit einem dünnen Anwaltslächeln hinzu: »Sie haben es selbst gesagt: Mein Leben könnte davon abhängen. Also sollte ich mir die Zeit nehmen.« Seine Gedanken arbeiteten jetzt wieder ganz mit der gewohnten, fast mathematischen Präzision. Er wußte immer noch nicht genau, was hier gespielt wurde, aber er hätte schon blind und taub sein müssen, um nicht zu wissen, was Rosen zugestoßen war. Die Zeitungen waren voll davon. Bei achtzig Prozent der Gespräche, die er heute geführt hatte, war es um Rosen gegangen. Und achtzig Prozent der Besucher, die heute in seine Kanzlei gekommen waren, waren Journalisten gewesen, die versucht hatten, sich ein Interview zu erschleichen; oder wenigstens etwas, das sie ein bißchen verdrehen und am nächsten Tag ohne sein Einverständnis als Statement verkaufen konnten.

»Etwas hat Rosen getötet«, sagte Thomas ernst. »Und nicht nur ihn. Und ich fürchte, wenn Sie wissen, daß er schuldig war, dann sind auch Sie in Gefahr. Deshalb ist es wichtig, daß Sie sich diese Frage ehrlich beantworten.«

»Es spielt keine Rolle, was ich...«, begann Strelowsky. Erst, als er den Satz schon halb zu Ende gesprochen hatte, stockte er, trat einen halben Schritt zurück und fragte: »Verzeihung ... sagten Sie: Etwas?«

»Sie wußten es, nicht wahr?« beharrte Thomas. Er sah jetzt beinahe traurig aus. »Aber es war Ihnen gleich. Warum? Ging es Ihnen um das Geld? Oder um den Ruhm?«

Geld? Fast hätte Strelowsky gelacht. Rosen hatte in seinem ganzen Leben nicht einmal genug auf einmal besessen, um den Anzug zu bezahlen, den er im Augenblick trug. Auf die Hälfte der Rechnung wartete er heute noch.

»Das ist mir zu dumm«, sagte er kalt. »Ich gehe jetzt.«

»Beantworten Sie meine Frage«, sagte Thomas stur. »Wie standen Sie zu Rosen?«

»Das geht Sie nicht das geringste an, glaube ich«, antwortete Strelowsky. Er griff in die Tasche und schaltete das Aufnahmegerät ab, und gleichzeitig hörte er sich fast zu seiner eigenen Überraschung fortfahren: »Aber wenn Sie es wirklich wissen wollen, Vater: Meiner Meinung nach hat dieses kranke Schwein genau das bekommen, was es verdient. Von mir aus kann er in der Hölle braten. Wahrscheinlich werden Sie das nicht verstehen, aber so funktioniert unser Rechtssystem nun einmal: Jeder hat das Recht auf einen Verteidiger, ganz egal, ob er nun ein Heiliger oder ein Monster ist. Und wenn dieser Verteidiger besser ist als der Ankläger...« Er zuckte mit den Schultern. »Rosen war nicht der erste Verbrecher, den ich verteidigt habe. Und er wird auch nicht der letzte bleiben. Wenn Ihnen das System nicht gefällt, wählen Sie eine andere Partei. Aber Sie werden kein besseres finden.«

»Darum geht es nicht«, sagte Thomas.

Natürlich ging es nicht darum. Strelowsky wußte genau, was Thomas meinte. Natürlich hatte er gewußt, daß Rosen log. Er hatte es vermutet, als er seine Akten las, und er hatte es gewußt, als er ihm das erste Mal gegenübersaß. Strelowsky erkannte einen Verbrecher, wenn er ihm in die Augen blickte. Jeder wirklich gute Anwalt verfügte über diese Fähigkeit; ebenso wie über die, dieses Wissen zu ignorieren. Ohne die eine konnte man in diesem Beruf nicht gut sein, und ohne die andere konnte man ihn nicht lange genug ertragen, um Erfolg zu haben. Er hatte in jeder einzelnen Sekunde gewußt, daß Rosen ein geistesgestörter Irrer war, der sich nur als normaler Verbrecher tarnte. Als er ihm nach der Urteilsverkündung die Hand schüttelte und ihm zu seinem Freispruch gratulierte, da hatte er selbst nicht genau gewußt, welches Bedürfnis stärker gewesen war: das, diesem kranken Mistkerl einfach den Schädel einzuschlagen, oder sich mitten in sein überhebliches Grinsen zu übergeben. Natürlich hatte er es gewußt! Aber wie konnte er diese Frage beantworten? Und was verdammt noch mal ging es Thomas an?

Das einzig Vernünftige, was er in diesem Moment tun konnte: sich auf der Stelle herumzudrehen und nach Haus zu fahren, seiner Frau von einem weiteren Verrückten zu erzählen, der ihm eine unwiederbringliche Stunde seines Lebens gestohlen hatte. Und nicht einmal das. Er sollte nach Hause gehen und diesen Idioten einfach vergessen. Statt dessen zog er Zigaretten und Feuerzeug aus der Tasche, zündete sich eine Camel an und gönnte sich eine Sekunde lang den infantilen Spaß, sich an Thomas' vorwurfsvollem Blick zu ergötzen. Die Zigarette war naß geworden und schmeckte nicht. Trotzdem nahm er einen so tiefen Zug, daß ihm fast schwindelig wurde, ehe er weitersprach.

»Also gut«, sagte er. »Ich bin nun einmal hier. Auf zwei Minuten mehr oder weniger kommt es wahrscheinlich auch nicht mehr an. Also werde ich die gute Tat der Woche tun und Ihnen erklären, warum es Anwälte gibt. Unser Beruf hat nichts mit Schuld oder Unschuld zu tun: Es spielt keine Rolle, wen wir verteidigen, Vater. Es spielt nicht einmal eine Rolle, ob sie schuldig sind oder nicht.«

»Für Sie schon«, sagte Thomas.

»Für mein Seelenheil, ja.« Strelowsky nahm einen zweiten, noch tieferen Zug aus seiner Zigarette, aber diesmal stellte sich das ersehnte Schwindelgefühl nicht ein. Er seufzte. »Aber für mehr auch nicht, fürchte ich. Sie wollen wissen, ob ich ihn für unschuldig gehalten habe?« Er schüttelte den Kopf. »Keine Sekunde lang.«

»Und trotzdem haben Sie ihn verteidigt... Weil es Ihr Beruf ist? Oder weil es Ihnen egal war?«

»Wo ist der Unterschied?« wollte Strelowsky wissen. »Wollen Sie wissen, wem ich mein Gewissen geopfert habe - meiner Berufsehre oder meiner Gier?«

Es hätte spöttisch klingen sollen, aber das tat es nicht. Nicht im geringsten. Thomas sah ihn lange und wieder auf diese unangenehme, Strelowsky immer nervöser werden lassende Art an, dann schüttelte er traurig den Kopf, drehte sich herum und faltete die Hände vor der Brust. Aber nicht, um zu beten, wie Strelowsky im ersten Moment annahm. Er sah eher aus wie ein Mann, der mit sich rang. Worum? »Sie müssen gehen«, sagte er schließlich. »Gehen Sie fort. Schnell. So weit Sie können. Ich weiß nicht, ob es etwas nutzt. Vielleicht gibt es keinen Ort auf der Welt, an dem Sie vor ihm sicher sind, aber vielleicht hilft es. Setzen Sie sich in Ihren Wagen und verlassen Sie die Stadt. Sie sind verdammt. Ich kann Sie nicht beschützen.«

»Vor wem?« fragte Strelowsky spöttisch. Er lachte. »Oh, ja, das hätte ich ja fast vergessen: Vor diesem Etwas, das herumläuft und Charles Bronson Konkurrenz macht, nicht wahr? Wie heißt dieses Stück? Ein Geist sieht rot?«

Thomas atmete hörbar ein, nahm die Hände herunter und hob gleichzeitig den Kopf. Aber er sah nicht Strelowsky an, sondern das einfache Holzkreuz, das an der Wand hinter dem Altar hing. »Gehen Sie«, sagte er. »Bitte! Es ... es war ein Fehler, Sie herzurufen. Es tut mir leid.«

Strelowsky nahm einen weiteren Zug aus seiner Zigarette, stellte fest, daß sie noch immer genauso widerwärtig schmeckte wie am Anfang und warf sie zu Boden, um sie mit dem Absatz auszutreten. »Wissen Sie, Thomas«, sagte er, »ich bin Ihnen nicht einmal böse. Ich sollte es wahrscheinlich sein, aber ich bin es nicht. Sie glauben das alles, nicht wahr? Ich meine, Sie glauben wirklich, daß es eine Art höherer Gerechtigkeit in der Welt gibt, nicht? Und wissen Sie was? Ich glaube das auch.« Thomas drehte sich überrascht zu ihm herum, und Strelowsky fuhr mit einem bekräftigenden Nicken fort: »Aber sie hat nichts mit Geistern zu tun, oder irgendwelchen mythischen Dämonen, die durch die Nacht schleichen und die Bösen bestrafen. Jemand hat Rosen erledigt, und das ist es, was ich ausgleichende Gerechtigkeit nenne. Zufall. Statistische Wahrscheinlichkeit ... nennen Sie es, wie Sie wollen. Meinetwegen auch Gott. Aber wenn er dahintersteckt, dann kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß er herumläuft und alle Verbrecher erledigt, die ihrer gerechten Strafe entgangen sind - samt ihrer Anwälte. Ich fürchte, er hätte ziemlich viel zu tun.« Er wartete auf eine Antwort, bekam keine und drehte sich schließlich achselzuckend herum, um zu gehen. Als er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, kam Thomas ihm nach und hielt ihn am Arm zurück.

»Bitte!« sagte er. »Hören Sie auf mich! Verlassen Sie die Stadt! Gehen Sie weg, so weit Sie nur können. Vielleicht hört es auf. Vielleicht ... kann ihn jemand stoppen. Wenn Sie hierbleiben, werden Sie sterben!« Es hätte eine Menge gegeben, was Strelowsky darauf hatte antworten können - aber wozu? Er seufzte nur abermals, griff nach der Hand des Geistlichen und löste sie mit sanfter Gewalt von seinem Arm. Ohne ein weiteres Wort öffnete er die Tür und verließ die Kirche.

Der Regen hatte noch zugenommen, und aus den vereinzelten Blitzen war ein wahres Feuerwerk gezackter, blauweißer Risse geworden, die so rasch hintereinander aufzuckten, als versuche jemand, den Himmel über dem westlichen Teil der Stadt in Stücke zu spalten. Strelowsky lief mit gesenkten Schultern und weit ausgreifenden Schritten auf das Tor zu, während er bereits mit der linken Hand in der Jackentasche nach dem Autoschlüssel grub. Seine Finger waren noch immer so klamm, daß er ihn um ein Haar fallengelassen hätte. Ungeschickt fummelte er ihn ins Schloß, riß die Tür auf und warf sich hinters Steuer. Kaum zwei Sekunden später startete er den Motor und schaltete hintereinander die Scheibenwischer und - vor allem! - die Heizung ein, fuhr aber noch nicht los.

Seine Hände zitterten immer noch, aber er war jetzt gar nicht mehr so sicher, ob es einzig an der Kälte lag. Dieser Thomas hatte ihn verunsichert, obwohl er sich nicht erklären konnte, warum. Sein Geschwafel von einer höheren Macht und diesem Etwas, das seiner Meinung nach wohl eine Art himmlischer Vendetta ausgerufen zu haben schien, gehörte bestenfalls in die Preisklasse des Voodoo-Zaubers, mit dem ihn einer seiner Mandanten vor Jahren einmal belegt hatte. Unsinn. Hanebüchener Unsinn. Ganz bestimmt nicht mehr.

Er nahm die Brille ab, zog das zusammengeknüllte Papiertaschentuch hervor, mit dem er sie schon einmal gesäubert hatte, und rieb die Gläser sorgfältig zwischen Daumen und Zeigefinger trocken. Als er sie wieder aufsetzte, fiel sein Blick auf einen Wagen, der schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite parkte. Motor und Scheibenwischer liefen. Die Scheinwerfer waren auf Standlicht heruntergeschaltet, und er glaubte zwei schemenhafte Gestalten hinter der beschlagenen Windschutzscheibe zu erkennen. Thomas' Warnung fiel ihm ein, und er erschrak. Aber nicht einmal für eine Sekunde, dann schüttelte er über seinen eigenen Gedanken den Kopf. Biblische Racheengel pflegten bestimmt nicht in 7er-BMWs herumzufahren, während sie ihre Opfer suchten.

Strelowsky schaltete seinerseits die Scheinwerfer ein und streckte die Hand nach dem Ganghebel aus. Hinter ihm raschelte etwas. Ein Geräusch wie Stein, der über eine weiche Unterlage rieb. Oder Leder, das sich entfaltete. Strelowsky hob den Kopf, sah in den Innenspiegel und begriff den entsetzlichen Fehler, den er begangen hatte.

Aber da war es bereits zu spät.

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