7


Nördlingers Hand zitterte noch immer, obwohl es mehr als eine Minute her sein mußte, daß er den Telefonhörer aufgelegt hatte. Seine Finger prickelten, und er hatte den Hörer so fest umklammert gehalten, daß das Blut unter seinen Fingernägeln gewichen war und sie jetzt so weiß wie die eines Toten aussahen.

Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor so ... empört gewesen zu sein. Sein Puls hämmerte, und auf seiner Zunge war ein bitterer Kupfergeschmack, der sich einfach nicht herunterschlucken ließ; vielleicht der Geschmack der Niederlage.

»Nun?« Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs gab sich weder Mühe, das hämische Glitzern aus seinen Augen zu verbannen, noch den süffisanten Ton aus seiner Stimme. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Telefon, und der Ausdruck höhnischer Befriedigung verließ seine Augen und breitete sich auf seinem ganzen Gesicht aus. »Nachdem wir die Präliminarien hinter uns gebracht haben, darf ich dann jetzt auf Ihre volle Unterstützung zählen, Herr Kriminalrat?«

»Wenn Sie aufhören, wie ein Idiot zu reden, ja«, antwortete Nördlinger. Noch vor zehn Minuten hätte er es nicht einmal für möglich gehalten, sich selbst einmal so reden zu hören. Nicht mit diesen Worten, und schon gar nicht in diesem Ton. Jetzt hätte er am liebsten noch ganz andere Sachen gesagt (gesagt? Getan!), aber die Person, mit der er vor einer Minute telefoniert hatte, war ziemlich eindeutig gewesen.

»Na, das ist doch schon einmal eine Basis.« Der Mann grinste noch breiter, griff über den Tisch nach dem ehrfurchtgebietenden Dienstausweis, mit dem er sich Nördlinger vorgestellt hatte - der (zweifellos falsche) Name darauf lautete Braun - und steckte ihn ein.

»Ich weiß nicht, was Sie überhaupt noch von mir wollen«, sagte Nördlinger unwirsch. »Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht. Ich habe Bremer nicht nur von diesem Fall abgezogen, ich habe ihn sogar für eine Woche vom Dienst suspendiert. Was soll ich noch tun? Ihn einsperren?« Braun ließ sich in seinem Sessel zurückfallen und schlug die Beine übereinander. Die Bewegung sollte vermutlich Gelassenheit demonstrieren, wirkte aber einfach nur affektiert. Nichts an Braun, überlegte Nördlinger, wirkte irgendwie echt.

»Das ist zumindest eine Möglichkeit, die wir in Betracht ziehen müssen«, sagte er. »Aber im Moment wäre das wahrscheinlich übertrieben. Was ist mit der Kleinen, die ihn begleitet? Ist sie eingeweiht?«

»Frau West?« Nördlinger schüttelte den Kopf und zuckte praktisch in der gleichen Bewegung mit den Achseln. »Woher soll ich das wissen? Ich dachte, Sie hätten sie geschickt.«

»Seit wann lassen wir Kinder für uns arbeiten?«

Vielleicht, seit euch die Idioten ausgegangen sind, dachte Nördlinger wütend. »Sie kommt frisch von der Polizeischule«, sagte er. »Ich dachte, ihr hättet sie geschickt, um ein Auge auf Bremer zu werfen. Ich kann sie natürlich...«

»Lassen Sie sie, wo sie ist«, unterbrach ihn Braun. »Vielleicht ist es sogar ganz gut so. Möglicherweise kann sie uns sogar von Nutzen sein.«

»Sie meinen, falls Sie jemanden brauchen, dem Sie die Schuld in die Schuhe schieben können, falls dieser ganze Irrsinn schiefgeht?«

»Nein«, antwortete Braun ruhig. »Dafür haben wir Sie.« Nördlinger biß sich auf die Unterlippe. Braun wollte ihn provozieren, das war klar, und er stand kurz davor, sein Ziel zu erreichen. Er schwieg.

»Überprüfen Sie sie noch einmal«, fuhr Braun fort, als er ihm nicht den Gefallen tat, zu explodieren oder auch nur überhaupt zu antworten. »Aber lassen Sie sie, wo sie ist. Und was Bremer angeht, verlassen wir uns darauf, daß Sie ihn im Auge behalten. Die Operation tritt sozusagen in die kritische Phase. Wir können uns keine Fehler erlauben.« Nördlinger starrte ihn finster an und schwieg beharrlich weiter. Sein Blick tastete über das knappe Dutzend roter Schnellhefter, das vor ihm auf dem Tisch lag. Auf jedem einzelnen prangte der leuchtendrote Stempelabdruck VERTRAULICH - das beste Mittel, neugierige Blicke auf Bestimmtes zu ziehen, dachte er spöttisch. Dazu dann noch gleich der überdeutliche Hinweis, was sich in den Schnellheftern verbarg: Über postkartengroßen Porträtfotos standen die dazugehörigen, in schwarzen Druckbuchstaben geschriebenen Namen: Sendig, Sillmann, Hansen, Bremer ... die meisten dieser Namen hatte er bis vor zehn Minuten noch nicht einmal gehört. Und wenn das, was Braun und die körperlose Stimme am Telefon ihm erzählt hatten, der Wahrheit entsprach - woran er keine Sekunde lang zweifelte -, dann war Bremers Personalakte die einzige hier auf dem Tisch, die zu einem lebenden Menschen gehörte. Mehr noch: Nördlinger war ziemlich sicher, daß er eine gewaltige Überraschung erleben würde, sollte er etwa versuchen, seine nicht unbeträchtlichen Möglichkeiten dazu einzusetzen, um etwas über eine dieser Personen herauszufinden. Sie existierten praktisch nicht mehr. Jemand hatte sich große Mühe gegeben, alle Spuren zu tilgen, die ihre Leben hinterlassen hatten; in elektronischen Datenbanken, in Karteikästen und Melderegistern, in den Patientenkarteien von Krankenhäusern und den Akten des Finanzamts, ja, selbst im Gedächtnis der Menschen, die sie gekannt oder mit ihnen gearbeitet hatten. Es war möglich, einen Menschen auf diese Weise praktisch auszulöschen. Es war sehr aufwendig, sehr zeitraubend und sehr mühsam, aber es ging. Es war nicht das erstemal, daß Nördlinger so etwas erlebte. Er fragte sich, ob vielleicht irgendwann einmal eine Akte mit seinem Foto auf dem Deckel auf dem Schreibtisch irgendeines hochgestellten Staatsdieners landen würde, um auf diese Weise gelöscht zu werden.

Sehr leise sagte er: »Das ist doch vollkommener Wahnsinn! Hätte ich vorher gewußt, worauf ich mich da einlasse...«

»...dann hätten Sie sich nicht darauf eingelassen, ich weiß«, unterbrach ihn Braun. »Sehen Sie, und das ist genau der Grund, aus dem Sie es nicht gewußt haben. Glauben Sie mir: Unwissenheit ist manchmal der beste Schutz, den man haben kann.«

»Gilt das auch für Sie?« fragte Nördlinger. Braun blickte fragend, und Nördlinger fuhr fort: »Ich meine Sie und die Leute, für die Sie arbeiten - wissen Sie wirklich, worauf Sie sich einlassen? Reicht Ihnen die Katastrophe nicht, die damals beinahe geschehen wäre?« Er machte eine zornige Geste auf die Akten, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet waren. »Von all diesen Leuten ist nicht einer am Leben! Und Sie wollen das alles noch einmal wiederholen?«

»Das sind noch nicht einmal alle«, sagte Braun ruhig. »Ich kann Ihre Bedenken verstehen. Es hat wirklich eine Menge Opfer gegeben, damals. Opfer, die nicht nötig gewesen waren. Diesmal wird die Sache anders ablaufen.«

»Ach?« sagte Nördlinger spöttisch.

»Wir sind keine Dummköpfe«, antwortete Braun scharf. »Und auch keine Selbstmörder. Es werden Fehler gemacht, aber wir haben daraus gelernt.«

»Darf ich das zitieren?« fragte Nördlinger. »Ich meine: Falls ich eine passende Inschrift für ein paar Grabsteine brauche?«

Braun zündete sich eine Zigarette an. Normalerweise wäre das für Nördlinger Grund genug gewesen, ihn aus seinem Büro zu werfen, aber jetzt freute ihn der Anblick fast. Brauns aufgesetzte Selbstsicherheit begann zu bröckeln. Ganz offensichtlich war es Nördlinger nun umgekehrt gelungen, ihn aus der Ruhe zu bringen.

»Die Situation war damals ganz anders«, sagte Braun, nachdem er einen ersten, verräterisch tiefen Zug aus seiner Zigarette genommen hatte. »Wir wußten nicht, womit wir es zu tun hatten. Sillmann und seine sogenannten Helfer waren Stümper, die mit Dingen herumgespielt haben, die sie nicht einmal begriffen.«

»Aber Sie begreifen sie?« fragte Nördlinger spöttisch.

»Ich?« Braun schüttelte heftig den Kopf. »Gott bewahre! Ich will von diesem ganzen esoterischen Firlefanz auch nichts verstehen. Ich muß ja schließlich auch nicht wissen, wie ein Atomkraftwerk funktioniert, um den Stecker meiner Kaffeemaschine in die Steckdose zu schieben. Wir haben Spezialisten für so etwas. Glauben Sie mir, die wissen, was sie tun.«

»Und wenn nicht, sind wir die ersten, die es merken.«

Braun machte ein verärgertes Gesicht. »Jetzt hören Sie doch endlich auf...«

»Nein«, unterbrach ihn Nördlinger. »Jetzt hören Sie endlich auf, so zu tun, als wäre alles in Ordnung! Ich habe bereits vier Tote!«

»Vier?«

»Haben Sie Strelowsky vergessen?« fragte Nördlinger. »Oder arbeiten Ihre Informanten vielleicht doch nicht so gut?«

»Der hat damit gar nichts zu tun«, behauptete Braun. Er klang nicht sehr überzeugt. Wenn überhaupt, dann nur trotzig.

»Wollen Sie behaupten, es wäre ein Zufall?«

»Wer sich in Gefahr begibt, kommt nun einmal darin um«, antwortete Braun achselzuckend. »Dieser Kerl hat sich mit so vielen zwielichtigen Elementen abgegeben, daß es ihn irgendwann einmal erwischen mußte. Wahrscheinlich hat einer seiner unzufriedenen Mandanten ein bißchen zu fest hingelangt. Und erzählen Sie mir nicht, daß es schade um diesen Kerl ist.«

»Es reicht, Braun«, sagte Nördlinger spröde. »Sie haben gesagt, weshalb Sie hergekommen sind, und jetzt sollten Sie besser wieder gehen. Ich habe auch noch eine Menge zu tun.« Braun wirkte regelrecht verdutzt. Sein Gesichtsausdruck erinnerte Nördlinger an den eines Boxers, der einen Kampf über zehn Runden hinweg souverän geführt hatte und in der elften plötzlich ein paar Hiebe einstecken mußte, die vielleicht nicht wirklich gefährlich waren, aber weh taten. Dann lachte er; ziemlich nervös, wie Nördlinger fand.

»Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, daß Sie mich nicht leiden können.«

»Ich mag die Art nicht, in der Sie über Menschenleben reden«, sagte Nördlinger. »Und ich mag die Art nicht, in der Sie glauben, mich herumkommandieren zu können.«

»Ich glaube es nicht«, sagte Braun betont, und Nördlinger unterbrach ihn erneut und führte den Satz zu Ende:

»Ja, ja, Sie können es, ich weiß. Und jetzt gehen Sie bitte.« Für einen Moment sah es so aus, als hätte er den Bogen überspannt.

Braun nahm die Zigarette aus dem Mund und starrte ihn aus Augen an, in denen nicht einmal mehr die Spur eines Lächelns zu erkennen war, aber auch nichts mehr von dem überheblichen Funkeln, das er noch vorhin darin gelesen hatte. Dann aber stand er nur mit einem Achselzucken auf und deutete auf die Akten, die vor Nördlinger auf dem Tisch lagen. »Lesen Sie das bis morgen durch. Und geben Sie acht, daß sie nicht in falsche Hände geraten. Sie wissen, was diese Unterlagen anrichten können.« Er ging ohne ein weiteres Wort.

Nördlinger starrte die geschlossene Tür hinter ihm noch zwei oder drei Sekunden lang an, dann griff er mit einer wütenden Bewegung nach dem erstbesten Hefter, der vor ihm auf der Tischplatte lag, und schlug ihn auf. Die Blätter, die darin abgeheftet waren, waren karmesinrot, und die Schrift darauf nicht schwarz, sondern ebenfalls rot, wenn auch von einem sehr viel dunkleren Farbton. Das würde es schwierig machen, sie zu lesen, machte es zugleich aber auch fast unmöglich, sie zu kopieren; zumindest auf einem herkömmlichen Fotokopierer. Nördlinger war jedoch nicht in der Verfassung, auch nur eine der Akten zu lesen. Seine Hände hatten wieder zu zittern begonnen. Er hatte erwartet, daß er sich beruhigen würde, sobald Braun gegangen war, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Jetzt, als er allein war, schien sich seine Erregung erst richtig bemerkbar zu machen. Er starrte abwechselnd die Tür an, durch die Braun verschwunden war, und das Telefon auf seinem Schreibtisch, und es fiel ihm jedesmal schwerer, den Apparat nicht einfach zu nehmen und gegen die Tür zu werfen. Vielleicht sollte er es tun, überlegte er. Es würde zwar überhaupt nichts ändern, geschweige denn irgend etwas besser machen, aber vielleicht würde es ihn erleichtern.

Statt dessen griff er nach einer Weile wieder nach der Akte, die er gerade schon aufgeschlagen hatte, und begann zu lesen.

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