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Bremer fuhr nicht direkt ins Präsidium, obwohl er alles hatte - nur keine Zeit. Auf seinem Schreibtisch stapelte sich die Arbeit, und er war ziemlich sicher, daß der Leichenfund von heute morgen den Berg noch weiter anwachsen lassen würde; Nördlinger hatte ihn bestimmt nicht zu sich bestellt, um ein wenig zu plaudern.

Trotzdem fuhr er zuerst nach Hause. Er hatte Mühe, den Weg zu finden und noch mehr Mühe, ihn unfallfrei zurückzulegen. Bremer war innerlich nicht halb so ruhig, wie er sich äußerlich gegeben hatte, als er den verkommenen Hinterhof verließ. Ganz im Gegenteil. Die Ruhe, die er empfand, war mehr ein Schock als alles andere; eine Art von Lähmung, die weniger seinen Körper oder den logischen Teil seines Denkens befallen hatte, wohl aber seine Emotionen. Sein Bewußtsein hatte eine Mauer um einen bestimmten Teil seiner Erinnerungen errichtet, durch die kaum noch etwas hindurchkam, aber er wußte, was dahinter lag, und dieses Wissen allein war schon fast mehr, als er ertragen konnte. Bremer fühlte sich, als hätte jemand sein Gehirn in Watte gepackt: Alles war düster, dumpf, als fehle eine ganze Facette der Realität. Trotzdem: Auch wenn er normalerweise nichts davon hielt, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen: In diesem Moment war er froh, daß diese Mauer da war.

Rosen. Wenn es in Bremers beruflichem Leben einen Alptraum gab, dann hieß er Stefan Rosen. Bremer hatte ihn das letztemal vor gut drei Jahren gesehen, und er hatte darum gebetet, ihn niemals wiedersehen zu müssen - es sei denn als Leichnam -, aber es hatte in diesen drei Jahren nicht einen Tag gegeben, an dem er nicht mindestens einmal an Rosen gedacht hätte.

Er parkte den Ford verkehrswidrig auf einem der beiden Behindertenparkplätze vor dem Haus, in dem er wohnte, fuhr mit dem Aufzug in die fünfte Etage hinauf und warf in einer einzigen, tausendfach geübten Bewegung die Tür hinter sich zu, seinen Mantel in Richtung Garderobe und die Autoschlüssel auf die Couch. Das Display des Anrufbeantworters blinkte. Bremer löschte die eingegangenen Anrufe, ohne sie abgehört zu haben, schaltete das Gerät aus und zog nach kurzem Überlegen den Stecker aus der Dose. Er fühlte sich noch immer wie in Trance, gefangen in einem bösen Traum, in dem ein geistesgestörter Serienkiller nicht nur die Haupt-, sondern auch die einzige Rolle spielte und in dem die Wirklichkeit zu einer bloßen Kulisse verkommen war; Staffage, die nur dem einzigen Zweck diente, dem Monster eine angemessene Bühne für seinen großen Showdown zu bieten. Er hätte es nicht ertragen, jetzt eine menschliche Stimme zu hören. Nicht einmal vom Tonband. Es war seltsam. Seit drei Jahren, seit dem Tag, an dem er den Gerichtssaal verlassen und Rosens triumphierendem Grinsen begegnet war, hatte er von diesem Moment geträumt: von dem Augenblick, in dem er neben Rosens Leichnam stehen und sich endlich sagen würde, daß die Gerechtigkeit am Ende doch gesiegt hatte. In manchen dieser Tagträume hatte er einfach Rosens Leichnam gefunden, so wie es vor einer Stunde tatsächlich passiert war, in manchen hatte er ihn selbst getötet, in den meisten hatte er einfach tatenlos zugesehen, wie er in tödlichem Morast versank, von einem tollwütigen Hund zerrissen oder von seinen eigenen Opfern hingerichtet wurde, die aus ihren Gräbern wieder auferstanden waren - infantile Rachefantasien, die ihm manchmal selbst peinlich gewesen waren, von denen die Psychologen aber immerhin behaupteten, daß sie nützlich seien, um Spannungen abzubauen und Schmerz zu verarbeiten. Bremer bezweifelte das. Aber nützlich oder nicht: Wenn es einen Menschen gab, dessen Tod er sich ehrlich gewünscht hatte, dann war es dieses Monster gewesen.

Wieso war er dann nicht erleichtert? Wieso, verdammt, empfand er nichts von alledem, was er sich vorgestellt hatte? Weder Erleichterung noch Triumph oder Befriedigung. Rosen war tot. Ganz eindeutig. Die gute Sache hatte am Ende doch gesiegt, und Bremer hatte wieder einmal einen Beweis für seine tiefempfundene Überzeugung erhalten, daß es eine höhere Gerechtigkeit im Leben gab.

Und er fühlte sich so niedergeschlagen und mies wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Es hieß, daß jeder Sieg auch einen schalen Beigeschmack hinterließ. Wenn das stimmte, dachte er, dann mußte er an diesem Morgen einen gewaltigen Sieg errungen haben.

Als er in die Küche ging, um sich einen Kaffee aufzubrühen, zitterten seine Hände so heftig, daß er mehr Wasser neben als in die Maschine schüttete und beide Hände brauchte, um den Kaffee in den Filter zu bekommen.

Bremer streckte die Hand nach dem Schalter aus, schloß dann die Augen und blieb fast zehn Sekunden reglos und mit angehaltenem Atem stehen, ehe er die Bewegung zu Ende führte. Als er die Lider wieder hob, ging es ein wenig besser. Seine Hand zitterte immer noch, jetzt aber wenigstens nicht mehr so stark, daß er Gefahr lief, die ganze Maschine von der Anrichte zu werfen, und auch sein Atem hatte sich ein wenig beruhigt. Ein wenig. Nur ein wenig. Bremer fuhr sich nervös mit dem Handrücken über das Gesicht und spürte kalten, klebrigen Schweiß. Sein Puls jagte. Statt sich zu beruhigen, begann sein Nervenkostüm immer heftiger zu flattern. Er kam sich vor wie eine Maschine, die außer Kontrolle geraten war und nun immer schneller und schneller lief, ohne daß irgend jemand in der Lage war, sie anzuhalten. Vielleicht sollte er einfach heiß duschen, um sich zu beruhigen.

Er verließ die Küche, durchquerte mit schnellen Schritten (und starr vom Telefon abgewandtem Blick) das Wohnzimmer und verteilte den Großteil seiner Kleider schon auf dem Weg ins Bad auf dem Fußboden. Das war einer der wenigen wirklichen Vorteile, die es mit sich brachte, als Single zu leben, dachte er spöttisch. Man konnte nach Herzenslust Unordnung und Chaos verbreiten, ohne daß es jemanden störte.

Bremer drehte die Dusche auf, hielt die linke Hand in den Wasserstrahl, um die Temperatur zu prüfen und überlegte es sich dann anders. Er zitterte noch immer leicht am ganzen Leib, und auch wenn er sich jetzt wieder besser in der Gewalt zu haben glaubte, spürte er doch gleichzeitig die brodelnde Unruhe tief in sich. Jenseits der Mauer war etwas erwacht. Etwas, das herauswollte. Kratzte. Mit langen, eisenharten Krallen den Mörtel zwischen den Steinen herauszuscharren begonnen hatte und...

Schluß. Er hatte sich lange genug von den Gespenstern aus seiner Vergangenheit quälen lassen. Und schließlich hatte er gewußt, daß er extrem reagieren würde, wenn er Rosen wiedersah. Er hatte gar kein Recht, so darauf zu reagieren. Vielleicht war er einfach nur überrascht, daß die Reaktion so schnell kam. Und so anders war. Statt unter die Dusche zu treten, drehte er den Heißwasserhahn der Badewanne auf, schleuderte Socken und Boxershorts davon und stieg in die Wanne. Bremer sog vor Schmerz die Luft ein, so heiß war das Wasser, aber er drehte den Kaltwasserhahn trotzdem nicht auf, sondern ließ sich mit zusammengebissenen Zähnen vollends in die Wanne sinken und schloß die Augen.

Es wirkte. Das Wasser stieg allmählich höher, so heiß, daß es wirklich weh tat, aber indem er sich auf den Schmerz konzentrierte und ihn mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten unter Kontrolle zu halten versuchte, hörte auch das Kratzen und Scharren in seinem Inneren auf. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hörte er es auch nur nicht mehr so deutlich. Aber das spielte keine Rolle. Das Ergebnis zählte: Das heiße Wasser wirkte entspannend. Seine Hände hörten auf zu zittern, und sein Atem ging zwar immer noch schnell, jetzt aber wohl mehr als Reaktion auf die Roßkur, die er seinem Kreislauf zumutete. Sein Puls raste, und er begann da, wo er noch nicht im Wasser lag, zu frieren.

Nach einer Weile gestand er sich widerwillig ein, daß er auf die fünfzig zuging und seinem Körper vielleicht nicht mehr die gleichen Dinge antun sollte wie vor dreißig Jahren: Er hob den Fuß aus dem Wasser, drehte mit den Zehen die Kaltwasserzufuhr auf und genoß das Gefühl, als seine Haut, von den Füßen aufwärts beginnend, nicht mehr vor Hitze spannte und weh tat. Als das Wasser endlich eine wieder halbwegs erträgliche Temperatur erreicht hatte, griff er nach Seife und Waschlappen und begann sich gründlich abzuschrubben, obwohl er erst am Morgen geduscht hatte. Das tat er oft; manchmal zwei-, wenn nicht dreimal am Tag. Während seiner Rekonvaleszenz waren Hygiene und schon fast übertriebene Körperpflege lebensnotwendig gewesen, und er hatte diese Angewohnheit beibehalten. Bremer liebte es, manchmal eine Stunde unter dem dampfenden Strahl der Dusche zu verbringen, oder auch zwei oder drei in einer heißen Badewanne, wo er sich entspannen und ebenso gründlich abschalten und neue Kraft schöpfen konnte wie andere vielleicht bei einem ausgiebigen Spaziergang im Wald oder einem faulen Abend vor dem Fernseher.

Heute hatte er einen anderen Grund. Er fühlte sich schmutzig. Besudelt. Er war schmutzig. Aber es war ein Schmutz, der sich mit Wasser und Seife nicht so einfach abwaschen ließ. Er fühlte sich leer und unrein. Er hatte Rosen nicht einmal berührt, aber seine bloße Nähe schien schon ausgereicht zu haben, einen Teil seiner Seele zu besudeln; als hätte er in übelriechenden Teer gegriffen, der nun an seinen Fingern klebte, und den er einfach nicht abwischen konnte, ganz egal, wie angestrengt er es auch versuchte.

Bremer versuchte den Gedanken ebenso abzuschütteln wie alles andere zuvor, aber es gelang ihm nicht. Ganz im Gegenteil - er fühlte sich plötzlich in die Rolle des Zauberlehrlings versetzt, der die Geister, die er gerufen hat, nicht mehr los wird, sondern hilflos mit ansehen muß, wie sie zu immer beunruhigenderem Eigenleben erwachten. Das Wasser schien plötzlich wieder wärmer geworden zu sein und nun tatsächlich die Konsistenz von Teer zu haben. Ja, er glaubte es sogar zu riechen: jenen typischen, nicht einmal wirklich unangenehmen Geruch, der an einem besonders heißen Tag von der Straße aufsteigt, oder manchmal flüchtig durch ein Fenster hereinweht, wenn man an einer Autobahnbaustelle vorbeifährt.

Was möglicherweise daran lag, daß in der Badewanne kein Wasser mehr war.

Im ersten Moment fühlte er den Unterschied nur, nicht psychisch, sondern ganz banal körperlich. Das Wasser wurde wärmer, fühlte sich auf seltsame Weise ... schwerer an und veränderte seine Konsistenz.

Dann wurde es schwarz.

Bremer starrte ungläubig auf die zähflüssige, schwarzbraune Brühe, in der er von einem Sekundenbruchteil auf den anderen saß.

Nein. Nicht saß. Zu sitzen glaubte. Was er sah, war nicht real. Es konnte nicht real sein. Dinge verändern sich nicht von einer Sekunde auf die andere. Nicht so. Es war eine Halluzination. Die zweite an diesem Tag, und diesmal eine von einem ganz anderen, reichlich unangenehmen Kaliber. Es mußte so sein. Bremers Gedanken rasten, kreisten immer schneller und schneller und versuchten, mit dem hämmernden Rhythmus seines eigenen Pulsschlages Schritt zu halten. Er konnte kaum noch atmen. Auch die Luft im Bad hatte sich verändert. Sie roch jetzt schwer und süß, das brackige Aroma eines Modersumpfes, in dem Dinge starben und verwesten.

Bremer versuchte noch immer mit verzweifelter Kraft, die Bilder, Gerüche und Gefühle zu verleugnen, die auf ihn einstürmten. Es gelang ihm nicht. Die Logik, sein einziger Verbündeter in diesem aussichtslosen Kampf, kapitulierte kurzerhand. Es spielte keine Rolle, ob die groteske Veränderung seines Universums nun eingebildet war oder real, wenn die Einbildung so realistisch war, daß die Wirkung auf ihn gleich blieb. Seine letzte Verteidigungslinie fiel, und Bremer bäumte sich schreiend auf und versuchte, sich aus dem übelriechenden braunen Morast herauszuziehen, in dem er gefangen war.

Nicht einmal das gelang ihm. Der schwarze Morast hielt ihn fest, umschlang seine Glieder wie zäher, schon halb erstarrter Teer und verbrühte gleichzeitig seine Haut. Bremer strampelte verzweifelt mit den Beinen, suchte nach Widerstand, irgendeinem Halt, an dem er sich abstoßen konnte, aber da war nichts, und schlimmer noch: Er spürte, wie sich unter ihm, tief, unendlich tief unter ihm, etwas bewegte. Hysterie überschwemmte seine Gedanken. Bremer riß, mit der absoluten Kraft, die nur schiere Todesangst hervorbringen konnte, den rechten Arm aus dem Morast und versuchte sich am Rand der Badewanne festzuklammern. Seine Finger, glitschig vom Morast, glitten von dem glatten Emaille ab. Zwei, vielleicht drei seiner Fingernägel brachen ab, was entsetzlich weh tat, aber der Schmerz verschmolz in diesem Moment einfach mit der roten Lohe, die seine Gedanken überschwemmte. Seine Hand klatschte in den Morast zurück. Trotz der pochenden Schmerzen versuchte er sofort, sie wieder zu heben, aber diesmal gelang es ihm gar nicht mehr: Ein Gespinst schwarzer, gummiartiger Fäden umschlang seine Hand und die Finger, dünn wie Nervenfäden, aber so unzerreißbar wie Stahl. Seine Kraft reichte nicht, sie zu bewegen.

Der schwarze Morast über seinen Füßen begann zu brodeln. Kleine, kreisförmige Wellen bildeten sich, liefen nach außen und wurden ersetzt, bevor sie ganz verebben konnten, dann stiegen zähe Blasen an die Oberfläche des Morasts, zerplatzten, erschienen erneut und ... und etwas tauchte an die Oberfläche empor.

Bremer wußte, was es war, noch bevor es wirklich Gestalt annehmen konnte. Aus einem perfiden Grund war ihm sogar klar, daß das Ding aus keinem anderen Grund erschien als dem, weil er es wollte. Etwas in ihm gebar dieses Monster, aber nicht einmal dieses Wissen half ihm jetzt noch. Die Grenze zwischen Realität und Wahnsinn war endgültig niedergerissen, und die Natur der Lawine zu erkennen, schützte ihn nicht davor, von ihr überrollt zu werden.

Der Titan tauchte aus einer brodelnden schwarzen Flut empor, ein gigantischer, schwarzer Koloß mit Klauen aus rasiermesserscharfem Stahl und gewaltigen Schwingen aus schwarzem Eisen. Bremer schrie, bäumte sich auf und warf sich verzweifelt zurück, aber er war zu langsam, gefesselt von dem gleichen, klebrigen Morast, aus dem das Ungeheuer entstanden war.

Der Koloß beugte sich vor. Seine gewaltigen Schwingen entfalteten sich, bis sie den Raum fast zur Gänze ausfüllten, und seine tödlichen Krallen näherten sich Bremers Gesicht, langsam, auf eine fast schon laszive Art, als genieße er jeden Sekundenbruchteil dieses Augenblickes; getrieben von einer unaufhaltsamen, unbarmherzigen und in letzter Konsequenz mörderischen Energie.

Ihre Berührung war beinahe sanft. Bremer spürte nicht den mindesten Schmerz, als der Stahl in seine Haut eindrang und sie ritzte. Trotzdem schrie er in purer Agonie auf, warf sich noch einmal und mit noch verzweifelterer Kraft zurück und geriet mit dem Gesicht unter Wasser.

Zäher, faulig schmeckender Morast füllte seinen Mund. Er versuchte zu atmen und konnte es nicht. Die stählerne Klaue bedeckte sein Gesicht fast vollkommen und drückte ihn tiefer immer tiefer unter Wasser. Seine Lungen schrien nach Luft. Er schluckte den Morast herunter, der in seinem Mund war, versuchte verzweifelt, irgendwo in seinem Rachen noch ein paar Sauerstoffmoleküle zu finden und begriff dann schlagartig und mit entsetzlicher Klarheit, daß er sterben würde. Jetzt. Nicht irgendwann. Nicht in jenem schwammigen wann-auch-immer Augenblick, in den der Gedanke an den Tod immer eingebettet war, sondern jetzt. In einer oder zwei Sekunden.

Er hatte nicht einmal Angst. Alles, was er empfand, war eine immer stärker werdende Empörung, ein wütender Zorn dem Schicksal gegenüber, das ihn all diese schrecklichen Dinge hatte überstehen lassen, nur damit man ihn am nächsten Morgen ertrunken in seiner Badewanne fand.

Die tödliche Klaue zog sich zurück. Statt dessen spürte er plötzlich die Berührung schmaler, aber erstaunlich kräftiger Finger, die sich kurzerhand in sein Haar gruben und ihn mit einem Ruck aus dem Wasser zogen.

Bremer rang qualvoll nach Luft, stemmte sich instinktiv und aus eigener Kraft noch ein Stück weiter in die Höhe und stürzte halb über den Badewannenrand. Das Luftholen war immer noch eine Qual. Er hatte versucht, Wasser zu atmen, und sein Körper präsentierte ihm die Rechnung. Sein Kehlkopf hatte sich zu einem Klumpen aus reinem Schmerz und verkrampften Muskeln zusammengezogen, der sich einfach weigerte, seinen Befehlen zu gehorchen. Zwei, drei Sekunden lang war er fest davon überzeugt, trotz allem immer noch ersticken zu müssen, dann gelang ihm ein erster, qualvoller Atemzug. Er hustete, spuckte Wasser und bitteren Schleim und füllte seine Lungen mit tiefen, gierigen Atemzügen. Alles drehte sich um ihn. Sein eigenes Herz pochte so laut in seinen Ohren, daß jedes andere Geräusch verschluckt wurde. Er begann am ganzem Leib zu zittern.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Soll ich einen Arzt rufen?« Die Stimme hatte etwas so Unwirkliches, daß er sie im ersten Augenblick nicht einmal zur Kenntnis nahm. Sie war nur Teil eines anderen Alptraums. Seine Fantasie begann zu allem Überfluß auch noch schlampig zu werden. »Herr Bremer! Verstehen Sie mich?« Offenbar war es eine ziemlich hartnäckige Vision. Außerdem bekam sie Gesellschaft: Er erinnerte sich plötzlich wieder an die Hand, die ihn unsanft an den Haaren gepackt und aus dem Wasser gerissen hatte. Bremer hob mühsam den Kopf, hustete, versuchte die grauen Schleier vor seinen Augen wegzublinzeln und fuhr schließlich mit der Hand darüber. Hinterher konnte er kaum besser sehen, aber dafür meldeten sich seine abgebrochenen Fingernägel schmerzhaft zurück.

Immerhin konnte er jetzt ein Gesicht vor sich erkennen; nicht ganz klar, denn sein Blick war immer noch verschwommen, aber eindeutig ein Gesicht, das ihm nicht bekannt war.

Und so ganz nebenbei nicht hierhergehörte. Nicht, wenn er wirklich erwacht und aus dem Alptraum in die Realität zurückgekehrt war.

»Ich glaube, ich hole doch lieber einen Arzt. Sie sind verletzt.«

Bremer kniff die Augen zusammen. Es kostete ihn fast seine ganze Willenskraft, aber als er die Lider nach ein paar Sekunden wieder hob, war sein Blick wieder klar. Er blickte in das Gesicht einer dunkelhaarigen, höchstens fünfundzwanzigjährigen Frau, die ihn besorgt, alarmiert, vor allem aber durch und durch hilflos ansah. »Keine Angst«, brachte er mühsam hervor. »Das ist ... nur ein ... Kratzer.« Sein Atem ging noch immer so schnell, daß er kaum sprechen konnte, und er zitterte nach wie vor am ganzen Leib. Außerdem war ihm erbärmlich kalt. Das Wasser, in dem er lag, war eisig.

Bremer stützte sich mit beiden Handflächen auf dem Badewannenrand ab, um sich vollends in die Höhe zu stemmen, aber dann wurde er sich der Situation bewußt, in der er sich befand. »Sie können sich aussuchen, was Sie zuerst wollen«, sagte er. »Mir meinen Bademantel geben, oder mir sagen, wer Sie sind und wie Sie in mein Badezimmer kommen.« Die junge Frau sah ihn noch eine geschlagene Sekunde auf die gleiche, irritiert-hilflose Weise an, dann stand sie mit einer fließenden Bewegung auf und nahm den schlichten weißen Frotteemantel von seinem Haken neben der Tür. Bremer beobachtete sie sehr aufmerksam, während sie die wenigen Schritte tat. Sie war nicht besonders groß, aber sehr schlank, fast schon dünn. Trotzdem wirkten ihre Bewegungen auf eine schwer zu beschreibende Art weiblich. Aber vielleicht lag das schon an dem ganz profanen Grund, daß sie kaum weniger naß war als er selbst. Die weiße Bluse klebte an ihrer Haut und hatte sich so verhalten, wie es weiße Seidenblusen immer zu tun pflegten, wenn sie naß wurden: Sie strengte sich mit Erfolg an, durchsichtig zu werden.

Gottlob, dachte Bremer spöttisch, saß er ja in einer Badewanne mit eiskaltem Wasser. Er wartete, bis sie zurückkam und den Mantel mit ausgebreiteten Armen vor sich hielt, dann stand er mit einiger Mühe auf, stieg aus dem Wasser und schlüpfte hinein. Er ballte die rechte Hand zur Faust, während er den Arm durch den Ärmel schob. Trotzdem zuckte ein neuer, scharfer Schmerz durch seine Hand, und ein einzelner roter Blutstropfen quoll zwischen seinen Fingern heraus und fiel zu Boden. Als Bremers Blick dem Tropfen folgte, stellte er fest, daß das gesamte Bad fast fingertief unter Wasser stand. Was zum Teufel...?

»Danke«, sagte er, schloß - nur mit der linken Hand, um den Bademantel nicht zu allem Überfluß auch noch mit Blut zu versauen - den Gürtel und drehte sich herum. »Und jetzt Frage Nummer zwei: Wer sind Sie?«

Die junge Frau trat einen halben Schritt zurück - er war sicher, sie wäre ihm noch weiter ausgewichen, wäre das Bad dazu nicht einfach zu klein gewesen -, griff in die Gesäßtasche ihrer Jeans und zog einen in Plastik eingeschweißten Dienstausweis hervor. »Kriminalobermeister Angela West«, sagte sie. »Ich bin Ihre neue Partnerin.« Sie streckte den Ausweis fast wie eine Waffe in seine Richtung. Ihre Hand zitterte ein ganz kleines bißchen. Von ihrer - ohnehin nur geschauspielerten - Selbstsicherheit war nichts mehr geblieben. Den Namen auf ihrem Ausweis konnte er übrigens nicht entziffern, denn er stand auf dem Kopf.

Wortlos nahm er ihr das Plastikkärtchen aus den Fingern, drehte es herum und sagte: »Ich arbeite nie mit einem Partner, und das Foto wird Ihnen nicht gerecht.«

West nahm ihren Dienstausweis wieder entgegen und warf einen verstörten Blick auf das Foto. »Es ist ... keine drei Wochen alt«, sagte sie.

»Genau wie der ganze Ausweis, nehme ich an«, sagte Bremer. »Trotzdem - in einer nassen Bluse sehen Sie entschieden besser aus.«

West starrte ihn eine halbe Sekunde lang an, dann blickte sie an sich herab und fuhr sichtbar zusammen.

»Keine Angst«, fuhr Bremer fort. »Das Wasser war kalt genug. Die zweite Tür links ist das Schlafzimmer. Ganz oben im Schrank finden Sie ein paar Sachen, die eigentlich passen müßten. Und beeilen Sie sich. Mir ist kalt.«

Sie setzte zu einer Antwort an, drehte sich aber dann sehr hastig um und rannte beinahe aus dem Bad. Bremer sah ihr kopfschüttelnd nach, aber sein Lächeln erlosch, kaum daß sie den Raum verlassen hatte. Es war ihm nicht nach Lächeln zumute. Ganz und gar nicht. Er fühlte sich miserabel. Er fror noch immer erbärmlich. Seine rechte Hand klopfte immer heftiger, und dieser verrückte Alptraum oder diese Fieberfantasie oder was immer es auch gewesen sein mochte, hatte ein heilloses Chaos in seinen Empfindungen hinterlassen. Er konnte nicht klar denken, so als wäre er gar nicht wirklich wach, sondern nur von einem Alptraum in den nächsten geglitten.

Zögernd - und mit mehr Unbehagen, als er sich eingestehen wollte - drehte er sich herum und blinzelte in die Badewanne hinab. Das Wasser darin war Wasser, nicht mehr und nicht weniger, und wenn man genau hinsah, konnte man einen ganz leichten rosafarbenen Schimmer erkennen. Blut. Er mußte wirklich heftig geblutet haben - oder wirklich lange. Trotzdem - es war nicht mehr als Wasser. Kein Morast. Keine schleimigen Fäden, die ihn festhielten und in die Tiefe zu zerren versuchten. Und schon gar kein schwarzer Engel.

Aus keinem anderen Grund als dem, die unheimlichen Bilder endgültig aus seinem Kopf zu verjagen, beugte er sich vor und tauchte die unverletzte Hand ins Wasser. Es war tatsächlich so kalt, wie er geglaubt hatte. Eisig. Dabei hatte er es so heiß einlaufen lassen, wie er es gerade noch ertrug. Er mußte eine Stunde in dieser Wanne gelegen haben, bevor West ihn fand, wenn nicht länger. So unwahrscheinlich ihm selbst diese Erklärung auch vorkam, er mußte wohl in der Wanne eingeschlafen sein. Wie es aussah, hatte die Kleine ihm das Leben gerettet. Das beantwortete zwar noch immer nicht die Frage, wo sie herkam, stimmte ihn aber ein wenig versöhnlicher. Vielleicht sollte er ihr - und vor allem sich selbst - einfach noch ein bißchen Zeit lassen, um sich zu sammeln.

Er wartete, bis er sie draußen wieder aus dem Schlafzimmer kommen hörte, dann ging er selbst hin, schloß sorgsam die Tür hinter sich ab (wobei er sich ein ganz kleines bißchen albern vorkam...) und zog sich an.

Bremer ließ sich eine Menge Zeit damit. Seine abgebrochenen Fingernägel erleichterten ihm die Aufgabe nicht unbedingt, auch wenn sie jetzt wenigstens aufgehört hatten zu bluten, und die Zeit, die er im eisigen Wasser gelegen hatte, hatte ausgereicht, ihn wirklich bis auf die Knochen auskühlen zu lassen. Seine Bewegungen waren weniger zielgerichtet als üblich, und nicht annähernd so präzise.

Als er das Schlafzimmer verließ, war das erste, was ihm entgegenschlug, der Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee. Er folgte ihm, ging in die Küche und fand West am Herd stehend, wo sie heißes Wasser aus dem Kessel in einen Filter goß.

Er hatte geglaubt, sich lautlos bewegt zu haben, aber West sagte ohne sich herumzudrehen: »Entschuldigen Sie, daß ich mich in Ihrer Küche breitgemacht habe, aber ich dachte, Sie könnten einen heißen Kaffee jetzt gut gebrauchen.«

»Das stimmt. Aber ich habe eine Kaffeemaschine. Warum benutzen Sie nicht die?« Er wollte noch hinzufügen: Das ist einfacher, aber dann fiel sein Blick auf die Kaffeemaschine, und er ersparte sich den Rest. Die Maschine war noch eingeschaltet, aber jemand - West, wer denn sonst? - hatte den Stecker herausgezogen. Die Glaskanne war leer, doch auf ihrem Boden hatte sich ein Ring aus schwarzer Schmiere festgesetzt. Der Geruch nach verbranntem Kaffee war selbst jetzt noch deutlich zu spüren, obwohl West keine zwei Meter daneben frischen aufbrühte.

»Also zum dritten Mal«, sagte er. »Wer sind Sie, und was tun Sie hier?«

West goß das restliche Wasser in den Filter, stellte den Kessel auf den Herd zurück und schaltete sorgsam die Platte ab, bevor sie sich zu ihm herumdrehte und antwortete:

»Mein Name ist...«

»...Angela West, ich weiß.« Angela? Wenn das ein Witz sein sollte, war es kein besonders guter. »Aber was tun Sie hier, verdammt? Und bevor Sie sich die Mühe machen: Ich will keine Antworten in der Preisklasse: Ich habe Ihnen das Leben gerettet, oder ich koche Kaffee.«

»Aber das habe ich«, antwortete sie mit einem treuen Augenaufschlag. Bremer starrte sie nur an, und West wurde sofort wieder ernst und fuhr fort: »Kriminalrat Nördlinger hat mich geschickt. Ich habe geklingelt, aber niemand hat aufgemacht.«

»Brechen Sie immer in fremde Wohnungen ein, wenn Sie klingeln und niemand aufmacht?« fragte Bremer.

»Ich bin nicht eingebrochen«, antwortete sie betont. »Die Tür war nicht abgeschlossen. Ich habe verdächtige Geräusche gehört, also bin ich reingekommen.«

»Verdächtige Geräusche?«

Die junge Frau machte ein ärgerliches Gesicht. »Zum Teufel, was soll das? Ich will ja nicht darauf herumreiten, aber wenn ich mich nicht sehr irre, dann habe ich Ihnen gerade wirklich das Leben gerettet. Bedanken Sie sich immer dafür, indem Sie ihren Lebensretter einem hochnotpeinlichen Verhör unterziehen?«

»Nein«, antwortete Bremer. Ihr aufmüpfiger Ton sollte ihn wütend machen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Sie stimmte ihn nicht nur milder, sondern weckte auch sein schlechtes Gewissen. Sie hatte nämlich recht.

»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich bin wohl ... ein bißchen durcheinander.«

»Das kann ich mir vorstellen.« West fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar, und plötzlich wurde ihm bewußt, wie nahe er ihr war. Näher noch als gerade im Bad, obwohl hier viel mehr Platz war. Er wich einen halben Schritt zurück, dann noch einen ganzen.

»Was war denn überhaupt los?« fragte sie.

»Ich ... weiß es nicht«, gestand Bremer. »Ich muß wohl eingeschlafen sein.«

»Und im Schlaf haben Sie mit Ihrer Badewanne geboxt?« West machte eine Kopfbewegung in Richtung seines Gesichts. »Und wie es aussieht, hat sie sich ganz schön gewehrt.« Bremers Finger folgten ihrer Geste, und er spürte vier dünne, aber sehr lange, parallel verlaufende Kratzer, die über seine rechte Wange verliefen. Sie taten nicht weh, deshalb hatte er sie bisher gar nicht bemerkt.

»Sie haben ... Geräusche gehört?« fragte er. Er hatte keine Lust, auf eine Frage zu antworten, deren wirkliche Antwort er gar nicht hören wollte. »Was für Geräusche?«

Woher um alles in der Welt hatte er diese Kratzer? Er konnte sich erklären, wie und wo er sich die Fingernägel abgebrochen hatte. Aber die Kratzer?

»Geräusche eben«, sagte sie achselzuckend. »Ein Platschen ... glaube ich.«

»Glauben Sie?«

»Als ob jemand in der Badewanne ausgerutscht wäre. So etwas in der Art. Ehrlich gesagt, ich habe gar nicht lange nachgedacht, sondern bin einfach losgelaufen.« Der letzte Satz war wahrscheinlich der einzig ehrliche, den sie bisher gesprochen hatte. Der Rest klang zu sehr nach einer Ausrede, um irgend etwas anderes zu sein.

»Gott sei Dank sind Sie das«, sagte Bremer. »Nördlinger hat Sie hergeschickt, sagen Sie? Warum?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt: Ich bin Ihre neue Partnerin. Er war ziemlich verstimmt - um es vorsichtig auszudrücken. Möchten Sie hören, was genau er gesagt hat?«

»Nein.« Bremer grinste. Die Vorstellung, daß er Nördlingers Blutdruck in die Höhe getrieben hatte, versöhnte ihn schon wieder halbwegs. »Ich trinke meinen Kaffee übrigens mit viel Zucker und noch mehr Milch.« Er ging zum Tisch, setzte sich und nahm zum ersten Mal all seinen Mut zusammen, um seine verletzte Hand zu betrachten. Sie schmerzte noch immer heftig, sah aber nicht annähernd so schlimm aus, wie er erwartet hatte. Drei Nägel waren abgebrochen, und wie es aussah, hatte er sich den kleinen Finger verstaucht. Nichts, worüber er sich Sorgen machen mußte. In den nächsten Tagen würde er ein paar Schwierigkeiten haben, seine Berichte zu tippen, das war alles.

»Das sieht häßlich aus.« West setzte sich, schob seinen Kaffee über den Tisch und beugte sich neugierig vor.

»Ein Kratzer.«

»Ein häßlicher Kratzer«, beharrte sie. »Ich würde Ihnen ja vorschlagen, Ihre Hand zu verbinden, aber ich kann kein Blut sehen. Wahrscheinlich müßten Sie mich hinterher versorgen. Wie ist das passiert?«

»Für jemanden, der gerade frisch von der Polizeischule kommt, sind Sie ziemlich neugierig«, sagte Bremer. »Warum finden Sie es nicht heraus? Sie sind doch Polizistin.«

»Nicht so eine Polizistin«, antwortete West. »Mein Hauptfach war Öffentlichkeitsarbeit.«

Bremers Gesicht verdüsterte sich schlagartig. »Ich glaube, jetzt verstehe ich«, sagte er. »Was genau sollen Sie sein - meine Partnerin? Oder mein Wachhund?«

»Wau, wau«, machte West. »Lassen Sie das«, sagte Bremer ruhig. »Und wenn Sie sich selbst und mir einen Gefallen tun wollen, dann trinken Sie jetzt Ihren Kaffee aus, fahren zu Nördlinger zurück und sagen ihm, daß ich niemanden brauche, der darauf achtet, was ich der Presse sage und was nicht. Ich rede prinzipiell nicht mit Journalisten.«

»Das sollten Sie aber«, antwortete West. »Es ist immer noch besser, sie verdrehen Ihnen die Worte ein bißchen, als daß sie sie sich ausdenken. Und was Ihren Vorschlag angeht: keine Chance. Kriminalrat Nördlinger war sehr deutlich. Ich soll Sie zu ihm bringen.«

»Tot oder lebendig?«

»Davon hat er nichts gesagt«, antwortete sie. »Aber ich glaube, ob verletzt oder unverletzt, wäre ihm egal.«

Bremer hob die rechte Hand. »Sie haben ein Alibi. Ich werde ihm morgen früh einfach sagen, das waren Sie.«

West leerte wortlos ihren Kaffee, stand auf und deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Wäre es hilfreich, wenn ich an Ihr Mitgefühl appelliere? Heute ist mein erster Tag. Ich würde ihn wirklich nicht gerne damit beenden, gleich meinen ersten Auftrag in den Sand zu setzen.« Wie schön, daß sie wenigstens nicht von einem Schlag ins Wasser gesprochen hatte, dachte Bremer sarkastisch. Er sagte nichts, sondern trank nur einen großen Schluck Kaffee, stand auf und wandte sich zur Tür. Wests Appell an sein Mitgefühl berührte ihn nicht im mindesten, aber in einem Punkt hatte sie recht, auch wenn sie es gar nicht so rigoros ausgedrückt hatte: Er würde nichts besser machen, wenn er noch länger herumtrödelte. Nördlinger war nicht für seine übermäßige Geduld bekannt. Es machte zwar prinzipiell Spaß, ihn zu reizen, aber Bremer wußte natürlich auch, daß er den Bogen nicht überspannen durfte. Nördlinger mochte es hinnehmen, sich in ein Nagelbrett zu setzen, das Bremer ihm untergeschoben hatte - aber ganz bestimmt nicht, wenn er das Gesicht dabei verlor.

Als sie das Wohnzimmer durchquerten, fiel sein Blick auf die Uhr. Er erschrak. Das eiskalte Wasser und der festgebrannte Satz auf dem Boden der Kaffeekanne hatten ihn vorgewarnt - aber die Zeiger der Uhr standen auf sechs. Was zum Teufel war mit ihm passiert? Ihm fehlten ganze vier Stunden!

»Ich muß zu Mecklenburg«, seufzte er. »Ich habe zwar keine Ahnung, wer das ist, aber im Moment müssen Sie vor allem zu Kriminalrat Nördlinger«, sagte West. Sie hob den Arm - Bremer war felsenfest davon überzeugt, in keiner anderen Absicht, als ihn an der Schulter zu packen und einfach vor sich herzuschieben -, besann sich dann aber eines Besseren und beließ es bei einer verunglückten und dadurch irgendwie ungelenk wirkenden Geste zur Tür. Bremer schluckte alles herunter, was ihm auf der Zunge lag. Ihm war klar, daß ihre naßforsche Art nichts anderes als überspielte Unsicherheit war; und das nicht einmal besonders gut. Aber es lohnte sich nicht, ihr den Kopf zu waschen. Was immer Nördlinger ihr auch gesagt hatte, dieses Kind würde ganz bestimmt nicht seine Partnerin werden.

Während West unaufgefordert - eben ganz der beflissene Schutzengel, der zu sein sie sich offenbar einbildete - zu seinem Schreibtisch ging und zuerst das Telefon und dann den Anrufbeantworter wieder einschaltete, ging Bremer zur Garderobe und nahm seine Jacke vom Haken. Er konnte sich nicht erinnern, sie aufgehängt zu haben. Nein - er war sogar sicher, sie nicht aufgehängt zu haben. Wahrscheinlich hatte West das getan. Wofür hielt sie sich eigentlich, verdammt?

Aber wahrscheinlich war diese Frage falsch formuliert, dachte er. Korrekt müßte sie lauten: Was hatte Nördlinger ihr erzählt?

»Können wir?« West trat an ihm vorbei, öffnete die Tür und wartete mit der Hand auf der Klinke, bis Bremer die Wohnung verlassen hatte. Allmählich begann sich Bremer über sich selbst zu wundern. Normalerweise hätte er ein solches Benehmen niemals geduldet, sondern wäre nach spätestens drei Minuten explodiert, erster Arbeitstag hin oder her. Offensichtlich hatte er doch noch nicht wieder ganz zu sich selbst zurückgefunden.

Aber was nicht ist, konnte ja noch werden. Und vielleicht war es ja ganz interessant, zu beobachten, wie weit sie noch gehen würde, um sich bei ihm einzuschmeicheln. Bremer wollte sich zum Aufzug herumdrehen, aber West schüttelte energisch den Kopf und deutete in Richtung Treppenhaus. »Mein Wagen steht auf der anderen Seite«, sagte sie. »Es ist vielleicht besser, wenn wir den Hinterausgang nehmen.«

»Und was spricht dagegen, den Aufzug zu benutzen?«

»Nichts«, sagte West. »Ich dachte nur, Sie reden nicht gerne mit Journalisten. Ich kann mich ja irren, aber ich bin fast sicher, dort unten mindestens drei Burschen gesehen zu haben, die ihre Seele für die Titelseite der morgigen Zeitung verkaufen würden.«

»Reporter? Hier?«

»Was haben Sie gedacht?« fragte West. »Sie sind ein Star, Herr Bremer. Die halbe Stadt kennt mittlerweile Ihr Gesicht. Obwohl Ihnen das Foto nicht gerecht wird. Sie sehen heute besser aus als vor fünf Jahren.«

»Was soll der Unsinn?« Trotz seines gereizten Tones setzte sich Bremer gehorsam in Richtung Treppenhaus in Bewegung, ertappte sich aber dabei, vorher noch einen schnellen, nervösen Blick zum Aufzug zu werfen.

»Ich habe nur den Auftrag, Sie ins Präsidium zu bringen. Und dafür zu sorgen, daß Sie der Presse nicht in die Hände fallen. Mehr weiß ich auch nicht.« West zog die Tür zum Treppenhaus auf, warf einen raschen Blick durch den Spalt und nickte zufrieden, als der Raum dahinter offensichtlich leer war. »Ich habe mich nicht darum gerissen, wenn es Sie beruhigt. Und es wäre auch nicht nötig gewesen, wenn Sie Ihr Telefon nicht ausgeschaltet hätten.«

Bremer spürte, daß das Gespräch erneut in eine Richtung abzudriften begann, die ihm nicht gefiel, und verbiß sich die Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Statt dessen sagte er: »Tun Sie mir einen Gefallen, Frau West. Hören Sie auf, so zu reden, als wären wir hier in einem schlechten Fernsehkrimi. Das ist weder besonders originell, noch sammeln Sie damit Pluspunkte bei mir.« Nicht, daß das nötig wäre. Er würde gute Miene zum bösen Spiel machen und sich von seinem selbsternannten Cherubim zum Präsidium fahren lassen, und das war es dann auch schon. Ihre Partnerschaft würde ein ziemlich abruptes Ende finden.

»Ganz wie Sie wünschen, Herr Bremer«, antwortete sie kühl, aber eigentlich ohne irgendeinen verletzten oder gar beleidigten Unterton in der Stimme. Er hätte mit Leichtigkeit noch einmal nachlegen können, aber wozu?

Schweigend gingen sie nebeneinander die Treppe hinunter und verließen das Haus durch den Hinterausgang. Bremer sah nicht einmal den Schatten einer Kamera, geschweige denn eines Reporters, aber er zweifelte Wests Worte trotzdem nicht an. Er hatte genug Erfahrungen mit der Presse, um diesen Kanalratten buchstäblich alles zuzutrauen. Er verstand nur nicht, warum sie es jetzt schon wieder auf ihn abgesehen hatten. Aber er stellte auch keine entsprechende Frage; wenigstens nicht an West.

Nördlinger würde es ihm schon sagen. Früher oder später.

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