Braun schaltete das Handy aus, betrachtete den Apparat einen Moment lang nachdenklich und ließ ihn dann mit einem angedeuteten Achselzucken in der Jackentasche verschwinden. Cremer antwortete nicht; das war ärgerlich, aber nicht einmal besonders außergewöhnlich. Cremer gehörte nicht unbedingt zu seinen zuverlässigsten Mitarbeitern. Es kam oft vor, daß er sich nicht sofort meldete, weil er nicht an seinem Platz war oder auch einfach keine Lust hatte. Cremer gehörte zu jenen Männern, die insgeheim nach Autorität suchten, sich aber trotzdem schwer damit taten, sie anzuerkennen, und deshalb immer wieder im kleinen den Aufstand probten. Solange er es dabei bewenden ließ, dann und wann auf einen Anruf verspätet zu reagieren oder einen Befehl ein wenig großzügig zu interpretieren, ließ ihm Braun diese kleinen revolutionären Anwandlungen. Heute war er allerdings zu weit gegangen. Er hatte sein Handy nach dem ersten Klingeln ausgeschaltet, und das würde Braun ihm nicht mehr durchgehen lassen. Aber heute nacht ging ja sowieso alles schief.
Braun fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht, unterdrückte ein Gähnen und ließ seinen Blick über die Schreibtischplatte vor sich schweifen. Theoretisch. Praktisch konnte er keinen Quadratzentimeter davon sehen, denn der Tisch quoll über von Ordnern, Computerausdrucken und Plastikschnellheftern, auf denen in feuerroten Buchstaben das Wort VERTRAULICH prangte. Der Anblick störte ihn in zweierlei Hinsicht. Zum einen haßte Braun Unordnung. Er war kein wirklicher Pedant, aber doch nicht allzu weit davon entfernt, und wenn die Theorie stimmte, daß der Arbeitsplatz eines Menschen seinen seelischen Zustand widerspiegelte, dann war bei ihm wirklich einiges nicht mehr im Lot. Zum anderen - und das war weitaus schlimmer - bewies das Chaos auf seinem Schreibtisch etwas, was er schon seit einer geraumen Weile befürchtete: Die Sache lief aus dem Ruder. Und das gründlich.
Braun nahm einen der schmalen Ordner zur Hand, schlug ihn auf und blätterte ziellos darin herum, ohne allerdings wirklich zu lesen. Er kannte ihn ohnehin auswendig; so, wie er jedes der Schriftstücke auf seinem Schreibtisch auswendig kannte. Es waren eine Menge bedruckter Seiten, trotzdem auch wieder erstaunlich wenige, wenn man die Größe der Aufgabe bedachte, die sie sich gestellt hatten. Fünf Jahre, dachte er. Fünf Jahre lang hatte alles geklappt wie am Schnürchen. Sie waren langsam voran gekommen, aber damit hatten sie gerechnet, trotzdem aber stetig, und sie hatten Fortschritte gemacht, mehr und größere als irgendeiner der Beteiligten - ihn selbst ausgenommen - auch nur ahnte. Seit ein paar Wochen aber lief alles schief. Und er wußte nicht einmal, warum.
Auch das war etwas, was Braun außerordentlich ärgerte. Er hätte es wissen müssen. Er war sozusagen die Schaltzentrale in dieser Geschichte, der Knotenpunkt, an dem alle Informationen zusammenliefen und sich zu einem Ganzen zusammenfügten. Er. Sein Gehirn, nicht das Sammelsurium bedruckten Papiers vor ihm, und erst recht keine Datenbank, denen er nicht traute. Braun setzte die modernste Technik ein, wo es nur ging, aber Computerdateien mißtraute er zutiefst. Schon weil er wie kaum ein anderer wußte, wie lächerlich das Wort Datensicherheit im Grunde war.
Das Telefon klingelte. Braun setzte dazu an, in die Tasche zu greifen, realisierte erst dann, daß es der Apparat auf seinem Schreibtisch war, nicht das Handy, und fegte unwillig einen Hefter zur Seite, um an das Gerät zu gelangen. Der Apparat hatte die Größe eines Notebooks und sah auch ungefähr so aus. Als Braun ihn aufklappte, schaltete sich der briefbogengroße LCD-Bildschirm darin automatisch ein, und er blickte in ein müdes Gesicht mit dunklen Tränensäcken unter den Augen und wirrem Haar. Die Uhrzeit, die automatisch am unteren linken Bildschirmrand eingeblendet wurde, paßte zu der Müdigkeit in diesem Gesicht. Drei Uhr zwölf. Braun fragte sich, warum er eigentlich nicht müde war. Er hatte vor fast sechsunddreißig Stunden das letztemal geschlafen.
»Ja!« sagte er knapp.
»Guten Morgen, Herr Braun«, sagte Mecklenburgs Assistent. Braun konnte sich im Moment nicht an seinen Namen erinnern. Seine Müdigkeit machte sich wohl doch stärker bemerkbar, als er angenommen hatte. »Es tut mir leid, daß ich Sie so spät noch einmal störe, aber hier geht etwas vor, was Sie wissen sollten.«
»Das macht nichts«, antwortete Braun. »Ich habe nicht geschlafen. Was gibt's?«
Mecklenburgs Assistent druckste einen Moment herum wußte augenscheinlich nicht mehr, wohin mit seinem Blick. Es war deutlich, daß er Angst vor seiner eigenen Courage hatte. Einen Entschluß zu fassen war eben manchmal doch leichter, als ihn in die Tat umzusetzen. »Wir haben wieder ... Aktivitäten«, sagte er schließlich.
»Aktivitäten?« Braun wußte genau, was er meinte. Er erinnerte sich jetzt auch an seinen Namen.
»Haymar«, antwortete Grinner nervös. »Seine ... zerebralen Werte sind mittlerweile so hoch, daß wir sie nicht mehr messen können.« Warum war Braun eigentlich nicht überrascht?
»Was sagt Doktor Mecklenburg dazu?«
»Nichts«, antwortete Grinner. »Ich meine: Er weiß es nicht. Er ... hat sich vor einer halben Stunde hingelegt, um ein bißchen zu schlafen.«
Und du hast es natürlich nicht für nötig gehalten, ihn zu wecken, dachte Braun. Der erste Eindruck, den er von Grinner gehabt hatte, schien richtig gewesen zu sein. Der Mann war ein Intrigant, hatte aber nicht die Charakterstärke, um diese Rolle mit Erfolg auszufüllen. Er würde mit Mecklenburg reden. Nein. Braun korrigierte sich in Gedanken. Er würde höchstpersönlich dafür sorgen, daß Grinner in eine hübsche kleine Wetterbeobachtungsstation am Polarkreis versetzt wurde, sobald diese Krise hier vorbei war. »In Ordnung«, sagte er. »Ich komme nach unten. Wecken Sie den Professor.« Er klappte das Gerät zu, stand auf und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer. Ein menschenleerer, nur schwach erhellter Korridor nahm ihn auf. In der Luft hing ein ganz sachter Kiefernduft, der die Stelle des Aerosol-Geruchs früherer Zeiten eingenommen hatte, und der teure Teppichboden dämpfte das Geräusch seiner Schritte fast bis zur Unhörbarkeit. Die Wände des langen Korridors waren mit pastellfarbenem Kunststoff verkleidet, und es gab eine Anzahl hochwertiger Kunstdrucke in teuren Rahmen. Die Architekten, die dieses Gebäude vor fünf Jahren renoviert hatten, hatten sich jede nur erdenkliche Mühe gegeben, seine Besucher vergessen zu lassen, daß sie sich in einem Krankenhaus befanden. Braun vergaß es keine Sekunde. Er hatte eine tiefsitzende Abneigung gegen Krankenhäuser. Die St.-Elizabeth-Klinik mochte mit zu den teuersten und vornehmsten Privatkliniken des Landes gehören aber eine Klapse blieb eine Klapse, auch wenn man sie vergoldete. Braun wußte natürlich, daß der Gedanke vollkommen irrational war, und er hätte es niemals zugegeben - aber tief in sich war er der Überzeugung, daß ein Gebäude sich stets den Menschen anpaßte, die darin lebten. All die Bekloppten, die hinter den mahagoniverkleideten Stahltüren saßen und sich für Napoleon hielten oder versuchten, Eier zu legen, konnten nicht ohne Wirkung auf dieses Haus geblieben sein.
Braun betrat den Aufzug am anderen Ende des Ganges, drückte den Knopf für die unterste Etage und wartete, bis sich die Türen geschlossen hatten. Dann drückte er noch dreimal hintereinander auf den Knopf und blickte eine Sekunde lang starr in den kleinen Spiegel, der in der Rückwand der Kabine angebracht war. Die winzige Kamera dahinter tastete seine Netzhaut ab und verglich die Aufnahme mit den gespeicherten Daten. Scheinbar änderte sich dadurch nichts, aber als das Licht für die Kelleretage über der Tür aufleuchtete, fuhr der Lift noch ein gutes Stück weiter, bevor er endlich anhielt und die Türen aufglitten.
Ein weiterer, sehr viel schmuckloserer Gang nahm ihn auf. Es gab nur wenige Türen, und die Wände bestanden aus nacktem Beton, ihr einziger Schmuck waren symmetrisch verlegte Kabelbündel und Rohrleitungen. Das gedämpfte Wummern eines schweren Generators ließ die Luft erzittern. Es roch nach heißem Öl, Feuchtigkeit und Moder.
Braun ging mit schnellen Schritten bis zu der massiven Stahltür am Ende dieses Ganges, öffnete sie mit Hilfe des Netzhautscanners an der Wand daneben und vertrieb sich die Wartezeit, die die Mechanik brauchte, um die halbtonnenschwere Tür zu öffnen, mit der Frage, was eigentlich geschehen würde, wenn es hier unten einmal zu einem totalen Systemzusammenbruch kam. Es war unwahrscheinlich, aber langjährige bittere Erfahrung hatte Braun gelehrt, daß jeder Mist, der passieren konnte, auch irgendwann passierte. Die Antwort auf seine Frage war nicht besonders ermutigend. Abgesehen von ihm selbst, Mecklenburgs Team und einer handverlesenen Anzahl Männer gab es niemanden in dieser Stadt, der auch nur wußte, daß dieses unterirdische Labor existierte. Die Anlage war eine regelrechte Festung, und sie war vor allem darauf ausgelegt, ihre Insassen drinnen zu halten. Wenn der Strom und mit ihm sämtliche Computer ausfielen, dann saßen sie hier unten wie die Ratten in der Falle.
Die Tür sprang mit einem metallischen Geräusch auf, und Braun betrat das Labor. Der Raum war taghell erleuchtet und kam ihm noch kleiner vor als sonst, obwohl sich weniger Menschen darin aufhielten. Konkret waren es nur Grinner und Mecklenburg; seine beiden anderen Assistenten hatte er vorhin auf Brauns Weisungen fortgeschickt. Grinner wirkte noch nervöser als vorhin am Telefon, während Mecklenburg nicht den Eindruck machte, als wäre er schon ganz wach.
»Also?« fragte er knapp.
Mecklenburg gähnte und sah weg, und Braun hätte auch ohne das verräterische Funkeln in seinen Augen gewußt, daß er nur den Ahnungslosen spielte. Er wußte ganz genau, was vorging. Aber es war ihm entweder egal, oder er wartete in aller Ruhe ab, um seinen Assistenten im passenden Moment auflaufen zu lassen.
Braun war nicht in der Stimmung für Spielchen. Ganz gewiß nicht.
»Das wissen Sie doch«, sagte er. »Oder hat Ihnen Kollege Grinner noch nicht alles erzählt?«
Braun sah aus den Augenwinkeln, wie der junge Forschungsassistent zusammenfuhr und noch nervöser wurde. Normalerweise hätte er die Situation genossen. Er liebte es, Leute fertigzumachen.
In diesem Punkt ähnelte er seinem ungeliebten Mitarbeiter Cremer (der in diesem Moment in der Notaufnahme einer Unfallklinik auf den OP gehoben wurde und wenige Augenblicke später ins Koma fallen sollte), nur, daß er dazu nicht die Fäuste einsetzte sondern weitaus subtilere Methoden vorzog. Aber er war wirklich nicht in der Stimmung für Spielchen.
Mecklenburg schien das zu spüren, denn er fuhr von sich aus und in kein bißchen verschlafenem Ton fort: »Anscheinend lieben Sie es, mich immer wieder dasselbe sagen zu hören. Also gut: Ich weiß es nicht. Irgend etwas geht in seinem Gehirn vor, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Das ist vielleicht keine sehr wissenschaftliche Antwort, aber leider die einzige, die Sie von mir hören werden. Oder sind Sie anderer Meinung, Kollege Grinner?« Grinner antwortete nicht, sondern zog nervös die Unterlippe zwischen die Zähne und drehte sich weg. Nach einer Weile fuhr Mecklenburg fort: »Wenn der Mann da drinnen schlafen würde, dann würde ich sagen, daß er den schlimmsten Alptraum aller Zeiten hat. Aber er schläft ja nicht.«
»Und wenn doch?« fragte Braun. Nachdenklich näherte er sich der Panzerglasscheibe und betrachtete wieder einmal den zweieinhalb Meter langen, schwarz verchromten Sarkophag, der ganz allein in dem Raum dahinter stand.
»Wie meinen Sie das?«
»Wie ich es sage«, antwortete Braun. »Wir glauben, daß er tot ist. Aber was ist, wenn er noch lebt ... irgendwie?«
Mecklenburg gab ein komisches Schnauben von sich. »Falsch, Herr Braun«, sagte er. »Sie glauben, daß er tot ist. Ich weiß, daß er es ist. Der Mann ist vor über einem Jahr gestorben.«
»Und wieso funktioniert sein Gehirn dann noch?«
»Das tut es nicht«, behauptete Mecklenburg. »Die elektrischen Aktivitäten, die wir messen, sind nur da, weil wir sein Gehirn damit stimulieren, um es vor dem Verfall zu bewahren. Wenn wir den Stecker herausziehen würden, wäre es vorbei.«
»Und trotzdem wissen Sie nicht...«
Mecklenburg unterbrach ihn gereizt. »Sie sagen es. Ich weiß nichts. Niemand weiß, was hier vorgeht! Weil niemand vorher versucht hat, das Gehirn eines Menschen so lange künstlich am...« Er stockte. Braun vermutete, daß er nach Worten suchte, weil er den Begriff Leben nicht verwenden wollte. Es dauerte gute drei Sekunden, bis er weiter sprach. »...am Funktionieren zu halten! Wir betreten vollkommenes Neuland. Genausogut könnten wir mit einem Raumschiff losfliegen und auf dem erstbesten Planeten landen, ohne vorher auch nur aus dem Fenster zu sehen! Vielleicht ist das, was im Moment in seinem Gehirn vorgeht, ganz normal. Vielleicht auch nicht. Woher zum Teufel soll ich das wissen?«
Braun hatte den Professor selten so aufgebracht erlebt. Anscheinend war er nicht der einzige, an dessen Nerven die Situation zerrte. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Professor«, sagte er versöhnlich. »Ich wollte nur...«
»Sie wollten vor allem nicht meine Meinung hören«, unterbrach ihn Mecklenburg. »Aber auch, wenn sie Sie nicht interessiert: Was wir hier tun, ist Wahnsinn! Es ist sinnlos, es ist unethisch und vielleicht sogar gefährlich. Wir sollten es beenden.«
»Über dieses Thema haben wir bereits gesprochen«, sagte Braun.
»Das haben wir nicht!« schnaubte Mecklenburg. Er war ganz offensichtlich dabei, sich in Rage zu reden. »Sie haben gesprochen, und ich habe zugehört. Was ist los mit Ihnen, Herr Braun? Haben Sie plötzlich Gewissensbisse?«
»Warum sollte ich?« fragte Braun. »Wenn Sie recht haben, gibt es dafür keinen Grund. Sagten Sie gerade nicht selbst, daß das da drinnen schon lange kein lebender Mensch mehr ist?«
»Und wenn ich mich täusche?«
Das war absurd. Mecklenburg attackierte ihn mit der gleichen Frage, die er noch vor ein paar Sekunden so vehement verneint hatte. Trotzdem fuhr er fort: »Was ist, wenn ich mich irre? Wenn wir uns alle täuschen, und das da drinnen doch mehr sind als hundertfünfzig Pfund Fleisch, die Sie nach Belieben melken können? Denken Sie einmal darüber nach. Und während Sie es tun, wünsche ich Ihnen unangenehme Träume!« Er fuhr wütend herum und stampfte zur Tür.
»Wo wollen Sie hin?« fragte Braun.
»Nach Hause«, antwortete Mecklenburg, ohne stehenzubleiben oder auch nur zu ihm zurückzusehen. »Ich gehe schlafen. Falls Sie Probleme haben, wenden Sie sich vertrauensvoll an Kollege Grinner. Er weiß von alledem genauso viel wie ich!«
Braun hätte ihm befehlen können zu bleiben, aber er verzichtete darauf. Mecklenburg war müde und nervös, weil er nicht verstand, was hier vorging. Er hatte dieses reinigende Gewitter gebraucht. Morgen würde er angekrochen kommen und ihn um Verzeihung bitten - beziehungsweise so tun, als wäre gar nichts geschehen, was seine Art von angekrochen kommen war. Braun nahm ihm diesen Ausbruch nicht übel. Er beneidete Mecklenburg sogar ein bißchen um die Fähigkeit, seinen Gefühlen wenigstens manchmal freien Lauf lassen zu können. Er wünschte sich, ebenfalls dazu in der Lage zu sein.
Er drehte sich wieder herum und blickte den Stahlsarg an. Dann ging er zur anderen Seite der großen Scheibe, hob die Hand an die Tastatur daneben und tippte eine sechsstellige Codenummer ein. Ein helles Summen erklang, und in der Wand neben der Glasscheibe öffnete sich eine mit spiegelndem Metall verkleidete Tür. Braun trat hindurch, wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte und öffnete dann die innere Tür der sterilen Schleuse. Das Thema steril hatte sich erledigt, als er seinen Override-Code benutzt hatte, um den Raum in seiner normalen Straßenkleidung zu betreten, aber das spielte wahrscheinlich keine Rolle mehr. Außerdem war es sowieso nur eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme, um irgendeinem ebenso überflüssigen Sicherheitsprotokoll Genüge zu tun. Der Sarkophag selbst war nicht nur luftdicht, sondern bestand darüber hinaus aus einem Material, das so gut wie allen bekannten Strahlungen standhielt und sich vom Vakuum des Weltalls ebenso wenig beeindrucken ließ wie von einem Druck in viertausend Metern Wassertiefe. Das bißchen Straßenstaub, das er mit hereinbrachte, war lächerlich.
Draußen im Labor begannen ein halbes Dutzend Computer zu lamentieren, die diesen Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften als nicht ganz so lächerlich erachteten, und Braun sah durch die Scheibe, daß Grinner plötzlich alle Hände voll zu tun hatte, von einem Pult zum anderen zu hasten und sie zum Schweigen zu bringen. Er blieb einen Moment stehen, wo er war, dann trat er langsam an das Kopfende des Sarkophags heran. Das schwarz verchromte Metall strahlte eine fühlbare Kälte aus, und Brauns Gesicht spiegelte sich als verzerrte bleiche Totenmaske darauf. Vielleicht war es auch gar nicht sein Gesicht. Vielleicht sah er nicht das, was wirklich da war, sondern das Gesicht, das unter den acht Schichten aus Metall und Keramik verborgen war, das Gesicht des Mannes, den sie vor fünf Jahren lebendig in diesem Sarkophag begraben hatten, lange, bevor er wirklich gestorben war.
Haymar. Er hatte den Mann gekannt. Sie waren einmal Kollegen gewesen. Keine Freunde - Haymar hatte keine Freunde gehabt. Wer suchte schon die Freundschaft eines Psychopathen, der fast genauso verrückt war wie die Irren, die er jagte? Braun verspürte keine Gewissensbisse. Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, der es verdient hätte, auf diese Weise zu enden, dann war es Haymar. Und sie hatten schließlich gar keine andere Wahl gehabt. Er erinnerte sich noch zu gut an die Frage, die Bremer Sillmann gestellt hatte, kurz bevor die Wirklichkeit in Stücke brach und der Irrsinn zu reagieren begann: Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn dieses Zeug in die Hände eines echten Psychopathen fällt?
Er konnte es sich vorstellen. Er hatte es erlebt. Haymar hatte das halbe Krankenhaus und zwei Drittel des Einsatzkommandos ausgelöscht, bevor sie endlich begriffen hatten, was wirklich geschehen war. Hätten sie ihn damals nicht im letzten Moment ausgeschaltet...
Nein. Braun wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Haymar war tot, und er hatte sich jede Sekunde des Leids, das er vorher durchstanden hatte, hundertfach verdient.
Und wenn nicht? wisperte eine Stimme in seinen Gedanken. Was, wenn er nicht tot ist? Wenn er noch lebt? Irgendwie?
Dann hatte er es genauso verdient, antwortete Braun trotzig. Und sei es nur für den unwahrscheinlichen Fall, daß es keine Hölle gab.
Sein Handy piepste. Braun riß den Apparat regelrecht aus der Tasche, klappte ihn auf und drückte die Sprechtaste, ohne auch nur vorher auf das Display zu schauen und die Nummer des Anrufers zu identifizieren. Er wußte, daß es Cremer war, und er würde ihm gehörig den Marsch blasen. »Habt ihr ihn endlich?« schnappte er.
Es war nicht Cremer. Die Stimme war so dünn, daß Braun im ersten Moment Mühe hatte, sie zu identifizieren. Sein Handy war ein Hochleistungsgerät, aber er befand sich unter unzähligen Tonnen Beton, Erdreich und Metall, und selbst die modernste Technik blieb noch ungefähr drei Lichtjahre hinter Brauns Wünschen zurück.
»Malchow hier«, flüsterte eine verzerrte Stimme an sein Ohr. »Ich bin im St.-Elizabeth-Krankenhaus. Reinhold und Cremer sind gerade eingeliefert worden.«
Braun vergaß schlagartig alles, was er sich zu Cremers Begrüßung zurechtgelegt hatte. Sein Gehirn schaltete von einem Sekundenbruchteil zum anderen um und arbeitete jetzt wieder so präzise und kalt wie ein Computer. »Was ist passiert?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Malchow.
Braun rekapitulierte blitzschnell, was er über den Agenten wußte. Ein ruhiger, präzise arbeitender Mann, vielleicht mit einem leichten Hang zur Selbstüberschätzung. Sehr zuverlässig. Wenn er sagte, daß er nichts wußte, konnte er sich jede Nachfrage sparen.
»Die beiden sind gerade eingeliefert worden. Die diensthabende Krankenschwester hat die Notfallnummer auf Cremers Ausweis angerufen. Cremer liegt im Koma. Eine schwere Gehirnerschütterung, vielleicht ein Schädelbruch. Er wird durchkommen, aber es kann Tage dauern, bis er vernehmungsfähig ist.«
»Und Reinhold?«
»Der wird vielleicht nie wieder reden können«, antwortete Malchow. »Er sieht aus, als hätte jemand versucht, ihn mit einem Vorschlaghammer zu rasieren. Die beiden sind übel zusammengeschlagen worden.« Für einen Mann wie Malchow war das eine ungewöhnliche Meldung, dachte Braun, die deutlicher als alles andere zeigte, wie sehr ihn das, was er gerade gesehen hatte, beeindruckt haben mußte.
»Bremer?« fragte er.
»Keine Spur von ihm«, antwortete Malchow. »Aber wir haben den Wagen der Kleinen gefunden. Er stand mit laufendem Motor auf der Straße. Dafür ist Cremers Wagen verschwunden.« Braun runzelte die Stirn. Was bedeutete das? Bremer hätte gegen einen Mann wie Reinhold nicht einmal dann eine Chance, wenn dieser mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen gegen ihn angetreten wäre. Innerlich aber triumphierte er. Wenn die beiden wirklich so dumm gewesen waren, Cremers BMW zu nehmen, dann hätten sie sie.
»Okay«, sagte er knapp. »Peilen Sie den Wagen an. Ich will drei komplette Teams vor Ort haben. Aber laßt euch nicht sehen und greift nicht ein, bis ich selbst da bin. Ich bin unterwegs.« Er steckte das Handy ein und drehte sich gleichzeitig herum, um den Raum zu verlassen. Diesmal schien es Ewigkeiten zu dauern, bis sich die Sicherheitstür öffnete; und noch länger, bis er endlich durch die Schleuse hindurch war. Im Sturmschritt durchquerte er das Labor, blieb aber vor dem Ausgang noch einmal stehen und drehte sich herum. Seine Gedanken arbeiteten schnell und präzise wie schon lange nicht mehr. Es war zehn, vielleicht fünfzehn Minuten her, daß jemand, von dem er nun wußte, daß es Bremer gewesen war, Cremers Handy ausgeschaltet hatte. Und ungefähr zur gleichen Zeit...
»Grinner?« Es dauerte eine oder zwei Sekunden, bis das bleiche Gesicht des Forschungsassistenten hinter einem Computer-Pult auftauchte.
»Herr Braun?«
»Diese ... zerebralen Aktivitäten, oder wie Sie es nennen wollen - Sie haben doch Aufzeichnungen davon gemacht?«
»Selbstverständlich.«
»Gut«, antwortete Braun. »Dann machen Sie mir einen Ausdruck. Ich will genau wissen, wie heftig sie waren. Und vor allem wann.«