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Nördlinger hatte noch niemals zuvor wirkliches Entsetzen in der Stimme eines Arztes gehört, aber für alles gibt es ein erstes Mal, und was er jetzt hörte, das war Entsetzen. Absoluter, vollkommener Terror. Er war allerdings ziemlich sicher, daß es nicht der Anblick der Wunde war, die den Arzt so schockierte. Der Mann mußte Schlimmeres gewohnt sein. Aber der Mann hatte zu denen gehört, die die Mitglieder des SEK aus dem Haus geschafft hatten. Er hatte gesehen, wie es passiert war. Nördlinger selbst fühlte sich ... seltsam. Ihm fiel kein besseres Wort ein, um seinen Zustand zu beschreiben. Er sollte Schmerzen haben.

Er hatte keine. Er sollte Angst haben. Er hatte keine. Er sollte verdammt noch mal wenigstens schockiert sein, während er abwechselnd seine Arme und seine Hände betrachtete, denn seine Hände lagen einen guten halben Meter neben ihm auf einer goldschimmernden Isolierfolie, und Vürfels war gerade damit beschäftigt, Eiswürfel darauf zu häufen, die er weiß Gott wo aufgetrieben hatte.

Aber alles, was er fühlte, war eine seltsame Gelassenheit, als stünde er unter dem Einfluß irgendeines Betäubungsmittels, was jedoch nicht der Fall war. Der Arzt, dessen Hände so zitterten, daß Nördlinger es sich unter normalen Umständen dreimal überlegt hätte, sich in seine Behandlung zu begeben, zog zwar in genau diesem Moment eine Injektionsnadel aus seiner Vene, aber so schnell wirkte das Schmerzmittel nun auch wieder nicht. Es war vielmehr, als wäre irgend etwas tief in ihm hundertprozentig davon überzeugt, daß er nicht in Gefahr war.

Es hatte begonnen, als West ihn berührt hatte. Das hieß - er war nicht ganz sicher, daß es West gewesen war. Nördlinger war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich halb wahnsinnig vor Schmerzen gewesen, und hoffnungslos von Panik geschüttelt. Er hatte sie kaum erkannt. Trotzdem war sie ihm auf sonderbare Weise ... verändert vorgekommen. Und kaum hatte sie ihn berührt, da waren sowohl die Schmerzen als auch die Todesangst verschwunden.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte der Arzt. »Haben Sie große Schmerzen?«

»Überhaupt keine«, antwortete Nördlinger. »Hätte ich welche, würde ich die Frage danach auch nicht besonders erfreulich finden.« Diese Antwort trug nicht gerade dazu bei, die Irritation des Arztes zu mildern.

»Das muß der Schock sein«, sagte er. »So etwas kommt vor. Seien Sie froh.«

Nördlinger fand, daß es sich wie eine Entschuldigung anhörte. Als täte dem Mann leid, daß er keine Schmerzen hatte.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, fuhr der Arzt fort. »Das wird wieder. Wenn Sie schnell genug ins Krankenhaus kommen, kann man die Hände wieder annähen - ich weiß, daß Sie das im Moment wahrscheinlich kaum glauben werden, aber mit ein bißchen Glück können Sie Ihre Hände nach einer Weile wieder ganz normal bewegen.«

»Nach einem Jahr, nehme ich an«, murmelte Nördlinger. Darauf antwortete der Arzt vorsichtshalber nicht.

»Der Hubschrauber ist schon unterwegs«, sagte Vürfels hastig. »Keine Angst, Chef. Das kommt schon wieder in Ordnung.« Nördlinger würdigte ihn nicht einmal einer Antwort.

»Wer hat die Blutung gestoppt?« fragte der Arzt.

Nördlinger sah ihn nur verständnislos an, und der Mann fuhr fort. »Das war absolut professionelle Arbeit. Besser hätte ich es auch nicht machen können. Sie hatten verdammtes Glück. Eigentlich hätten Sie daran verbluten müssen. Vor allem unter diesen ... Umständen.«

Nördlinger begann schläfrig zu werden. Das Mittel, das ihm der Arzt gespritzt hatte, wirkte offensichtlich sehr schnell. Aber er durfte nicht schlafen. Noch nicht. Er hatte noch etwas Bestimmtes zu erledigen, und es war einfach zu wichtig.

»Vürfels!« murmelte er.

»Chef?« Vürfels beeilte sich, sich über ihn zu beugen, wobei er sich große Mühe gab, überallhin zu sehen, nur nicht zu Nördlingers Armstümpfen hinab.

»Holen Sie mir den Chef des SEK«, befahl Nördlinger. »Schnell.«

Vürfels verschwand wie der Blitz, und der Arzt sagte: »Lassen Sie sich einfach fallen. Es wird alles gut.«

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Vürfels in Begleitung eines vielleicht dreißigjährigen Mannes im Kampfanzug des Sondereinsatzkommandos zurückkam: olivgrüne Hosen und Jacke, darüber eine wuchtige Panzerweste und einen klobigen Helm, der durch die nach oben gehobene Schutzbrille noch klobiger wirkte, und ein Gesicht, das so weiß wie die sprichwörtliche Wand war.

Nördlinger hatte mittlerweile Mühe, die Augen offenzuhalten. »Hören Sie mir zu«, begann er. »Es ist wichtig.«

Der Mann nickte. Er wirkte sehr nervös. »Das Ding ist ... weg, Herr Kriminalrat«, sagte er stockend. »Sollen wir es verfolgen?«

Die Frage war so überflüssig wie ein Kropf, fand Nördlinger. Unter normalen Umständen hätte der Mann, der immerhin eine Spezialeinheit der Polizei kommandierte, was zumindest bewies, daß er keine vollkommene Pfeife war, nicht eigens einen Befehl abgewartet, um einen Angreifer zu verfolgen, der die Hälfte seiner Mannschaft zu Klump geschlagen hatte.

»Verluste?« fragte Nördlinger.

Der Mann nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Ein paar gebrochene Rippen, und vielleicht ein Arm oder ein Bein. Nichts Ernstes ... aber es wird den Steuerzahler ein paar Mark kosten. Was ... was um Gottes willen war das für ein Ding?«

»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Nördlinger. Er mußte mit immer größerer Willenskraft gegen die grauen Schleier ankämpfen, die seine Gedanken einzuwickeln versuchten, und er spürte, daß es ein Kampf war, den er verlieren würde. Die gebietende Kraft, die ihn bisher bei Bewußtsein gehalten hatte, versiegte immer rascher. »Hören Sie mir zu! Fragen Sie nicht, sondern tun Sie einfach, was ich Ihnen sage.«

Der Mann nickte, aber Nördlinger entging keineswegs der rasche, nervöse Blick, den er Vürfels zuwarf. Ebenso wenig wie das hilflose Achselzucken, mit dem dieser darauf reagierte.

»Nein, ich bin nicht verrückt«, sagte er betont, und so laut, wie er es gerade noch fertigbrachte. »Und ich liege auch nicht im Koma oder fantasiere, wenn Sie das meinen! Aber ich habe nicht mehr ... viel Zeit. Also hören Sie mir zu, verdammt noch mal, und tun Sie gefälligst, was ich Ihnen sage! Und wenn nicht, dann beten Sie darum, daß ich nicht mehr aus dem Koma aufwache, in das ich vermutlich gleich fallen werde, weil ich Ihnen nämlich sonst den Arsch aufreiße, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht! Habe ich mich jetzt klar genug ausgedrückt?«

Der Mann nickte. Er war noch blasser geworden, aber er hatte begriffen.

Wahrscheinlich wäre er ziemlich erstaunt gewesen, hätte er in diesem Moment Nördlingers Gedanken lesen können. Kriminalrat Nördlinger hatte nämlich nicht die geringste Ahnung, warum er das sagte.

Da war noch etwas, das er diesem Mann mitteilen mußte, etwas von ungeheurer Wichtigkeit, aber er wußte nicht einmal, was. Die Worte nahmen erst in dem Moment in seinem Kopf Gestalt an, in dem er sie aussprach, ohne daß es eines vorherigen Wissens bedurft hätte. Nördlinger war fast selbst neugierig auf das, was er als nächstes sagen würde. Er lauschte auf seine Worte, aber sie klangen in seinen eigenen Ohren wie die eines Fremden. Trotzdem war es ihm unmöglich, nicht weiterzusprechen.

»Evakuieren Sie das Gebäude«, sagte er. »Sofort. Vergessen Sie dieses verdammte Biest und schaffen Sie die Leute hier heraus. Es ist mir egal, wie Sie es machen, aber tun Sie es. Jeder, der in fünfzehn Minuten noch in diesem Gebäude ist, stirbt.«

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