19


Sie waren eine gute Viertelstunde ziellos durch die Stadt gefahren, ehe Bremer sich endlich entschieden hatte. Angela hatte ihre Begeisterung für schnelle Wagen in dieser Zeit zumindest weit genug im Zaum gehalten, daß sie keiner Verkehrsstreife auffielen und womöglich auf der Stelle verhaftet wurden, und sie hatten auch noch in anderer Hinsicht Glück: Bremer ließ Angela vor einer Telefonzelle anhalten und blätterte das Telefonbuch durch, das er darin fand, und die Adresse, die er ihr danach nannte, war nur wenige Blocks entfernt. Trotzdem war es fast vier, als sie vor dem vierstöckigen Appartementhaus anhielten und ausstiegen.

Angela legte den Kopf in den Nacken und blinzelte an der mit kupferfarbenem Spiegelglas verkleideten Fassade empor.

»Erstaunlich«, sagte sie.

»Was?«

»Ich hätte mir vorgestellt, daß ein Mann wie dieser Professor Mecklenburg in einer Villa im Grünen wohnt«, sagte sie. »Nicht in so einem Haus.«

»Wahrscheinlich gehört es ihm«, antwortete Bremer achselzuckend. Er hatte ihr nicht erzählt, daß Mecklenburg Professor war. Er sagte nichts, notierte sich den Punkt aber auf einer länger werdenden Liste von Fragen, die er ihr stellen würde, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Im Moment hatten sie andere Probleme.

Bremer sah sich aufmerksam in beide Richtungen um ehe sie auf die Straße hinaustraten. Die Gegend war so ziemlich das genaue Gegenteil von der, in der sie auf Cremer und Reinhold getroffen waren. Die Häuser waren modern und gepflegt, und sämtliche Straßenlaternen brannten. Mit Ausnahme des BMW stand kein einziger Wagen auf der Straße. Wenn sie beobachtet wurden, hatten sich ihre Verfolger gut getarnt.

Bremer schüttelte die Vorstellung ab. Sie wurden nicht beobachtet. Es war ihrer Sache nicht dienlich, wenn er seiner Paranoia freien Lauf ließ.

Sie überquerten die Straße. Die Hausbeleuchtung ging automatisch an, als sie sich dem Eingang näherten. Bremer musterte die Namensschildchen neben den beleuchteten Klingelknöpfen und stellte ohne Überraschung fest, daß Mecklenburg im obersten Stockwerk wohnte. Seine Klingel war die einzige, die allein in einer Reihe stand. Vermutlich eine Penthouse-Wohnung. Vielleicht hatte er mit seiner Vermutung, daß Mecklenburg dieses Haus gehörte, gar nicht falschgelegen.

Er wollte die Hand nach dem Klingelknopf ausstrecken, aber Angela schüttelte den Kopf und lehnte sich mit der Schulter gegen die Haustür. Sie sprang mit einem kaum hörbaren Klicken auf.

»Jemand ist spät nach Hause gekommen und war wohl zu müde, um abzuschließen«, sagte sie.

»Woher wußtest du das?« fragte Braun mißtrauisch.

Angela schob die Tür weiter auf und deutete zugleich mit einer Kopfbewegung auf eine Spur feuchter Schuhabdrücke, die auf dem weißen Marmor des Hausflures glänzten. »Einer meiner Vorfahren hieß Sherlock Holmes«, sagte sie spöttisch. Sie grinste.

Bremer lächelte nicht. Angela hatte auf scheinbar alles eine logische Erklärung, aber das änderte nichts daran, daß sie ihm allmählich fast unheimlich wurde. Vielleicht war es auch nur seine gekränkte Männlichkeit. Wer ertrug es schon auf Dauer, mit jemandem zusammenzusein, der nur halb so alt war, das Aussehen einer Schönheitskönigin hatte, stärker und schneller als er selbst war und noch dazu alles besser konnte?

Außerdem fühlte er sich immer noch zu ihr hingezogen Jetzt vielleicht stärker denn je.

Ohne ein weiteres Wort trat er an ihr vorbei und wartete, bis sie die Tür hinter sich wieder zugeschoben hatte. Das Treppenhaus war größer als seine Wohnung und ganz mit weißem Marmor und funkelnden Messing-Accessoires ausgekleidet, und der Aufzug befand sich an seinem jenseitigen Ende. Sie traten in die Kabine, und Bremer drückte den obersten Knopf. Nichts rührte sich. Während Bremer die Schalttafel noch feindselig musterte, streckte Angela die Hand aus und drückte den Knopf für die vierte Etage, und der Lift setzte sich gehorsam in Bewegung.

Bremer ersparte sich jeden Kommentar. Wahrscheinlich handelte es sich um einen jener Aufzüge, die direkt in die Penthouse-Wohnung hineinführen, und natürlich brauchte man einen Schlüssel, damit er sich in Bewegung setzte. Darauf hätte er auch von selbst kommen können. Schweigend fuhren sie in die vierte Etage hinauf und verließen die Kabine. Der Flur, in den sie hinaustraten, war mit dem gleichen weißen Marmor ausgekleidet wie der Eingangsbereich unten. Es gab auf jeder Seite nur zwei Türen, was einen gewissen Rückschluß auf die Wohnungen dahinter zuließ, und eine fünfte, schmalere, an seinem anderen Ende. Angela eilte voraus, um sie zu öffnen, und Bremer folgte ihr in einem gewissen Abstand, und langsamer.

Erneut fiel ihm auf, wie unglaublich elegant und geschmeidig sie sich bewegte. Es war ihm jetzt fast unmöglich, sie mit der gleichen Frau zu identifizieren, die vor weniger als einer Stunde mit der Kompromißlosigkeit eines Killerinsekts über den Agenten hergefallen war und ihn fast umgebracht hätte. Außerdem kam sie ihm sehr viel schöner vor als noch am Nachmittag, als sie sich kennengelernt hatten - war das tatsächlich erst wenige Stunden her? Ihm kam es vor wie Jahre! Sie hatte sich verändert, und schien deutlich fraulicher und reifer geworden zu sein, ohne dadurch allerdings etwas von ihrer jugendhaften Unbefangenheit und Fröhlichkeit verloren zu haben.

Natürlich war ihm gleichzeitig klar, daß nichts davon wirklich der Fall war. Der einzige, der sich verändert hatte, war er. Er sah Angela anders. Vielleicht jetzt noch viel weniger als das, was sie wirklich war, wie am Nachmittag.

Angela öffnete die Tür. Sie gelangten in ein schmales, im gleichen schlichten Luxus gehaltenes Treppenhaus, das in einen dafür um so weitläufigeren Empfangsraum hinaufführte, der nur zwei weitere Türen aufwies. Die eine bestand aus Glas und führte auf einen kleinen, matt erleuchteten Dachgarten hinaus, die andere zu Mecklenburgs Wohnung.

Diesmal war Bremer als erster an der Tür und klingelte. Er hörte nichts, aber nach kaum dreißig Sekunden drehte sich der Türknauf und Mecklenburg öffnete die Tür. Er wirkte blaß und übernächtigt, aber keineswegs so, als hätte ihr Klingeln ihn aus dem Schlaf gerissen. Bremer hatte plötzlich eine ungefähre Ahnung, wer die feuchten Spuren unten im Treppenhaus zurückgelassen hatte.

Und er sah kein bißchen überrascht aus, Bremer mitten in der Nacht vor sich zu sehen.

Er wirkte schlichtweg entsetzt.

»Was ... was machen Sie denn...?« begann er. Bremer schob ihn unsanft ein Stück zurück, drückte mit der anderen Hand die Tür weiter auf und trat ein. Angela huschte wortlos an ihm vorbei und verschwand in der Wohnung. Mecklenburg schien sie nicht einmal zu bemerken. Er starrte Bremer weiter an.

»Ich weiß, es ist ein bißchen spät für einen Hausbesuch«, sagte Bremer. »Aber es handelt sich sozusagen um einen Notfall. Sie gestatten doch?« Im Vorbeigehen packte er Mecklenburg an der Schulter und zerrte ihn grob hinter sich her. Der Arzt war ein Stück größer als er, dafür aber wesentlich schlanker und mindestens zehn Jahre älter. Er schien überhaupt kein Gewicht zu besitzen. Bremer zog ihn halb, halb schubste er ihn in das großzügige Wohnzimmer hinein, das sich an die Diele anschloß, und sah sich rasch um. Der Raum war riesig. Zwei der vier Wände bestanden ganz aus Glas und führten auf den gepflegten Dachgarten hinaus, den er schon von der Eingangshalle aus gesehen hatte. Tagsüber oder in einer klaren Nacht mußte die Aussicht auf die Stadt fantastisch sein.

Abgesehen von einer zierlichen Sitzgarnitur, einem überdimensionalen Fernseher und einer kleinen Bar war der Raum praktisch leer, was den größten Luxus darstellte der Bremer bisher in diesem Haus begegnet war. Er stieß Mecklenburg auf das kleinere der beiden Sitzmöbel herab und baute sich drohend vor ihm auf.

»So«, sagte er. »Und jetzt will ich ein paar Antworten.« Sein brachiales Verhalten war kein Zufall, und er hatte auch keineswegs die Nerven verloren. Ganz im Gegenteil war sein völlig untypisches Verhalten genau kalkuliert. Bremer hatte in langen Jahren der Polizeierfahrung genug Menschenkenntnis gesammelt, um ziemlich genau zu wissen, zu welcher Art von Mensch der Professor gehörte. Er war sicher niemand, der leicht zu beeindrucken war oder sich gar einschüchtern ließ. Dafür verfügte er selbst über zuviel Macht und zuviel Erfahrung. Um so verheerender wirkte auf solche Menschen oft genug die Erfahrung primitiver, körperlicher Gewalt.

Die Rechnung ging auf. Mecklenburgs Augen quollen vor Entsetzen ein Stück weit aus den Höhlen. Er zitterte so heftig, daß die kleine Chaiselongue, auf der er saß, deutlich zu wackeln begann. »Bitte, Herr Bremer«, stammelte er. »Ich...«

»Sie werden mir jetzt zuhören!« unterbrach ihn Bremer. »Ich werde Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, und dann werden Sie reden!« Gleichzeitig gemahnte er sich in Gedanken aber auch selbst zur Mäßigung. Es hatte keinen Zweck, Mecklenburg so sehr zuzusetzen, daß er am Ende zusammenklappte. Er wollte, daß er ihm antwortete, nicht, daß er einen Herzanfall bekam. Außerdem tat ihm der alte Mann mittlerweile ehrlich leid. Aber er hatte einfach keine Zeit, nett zu sein.

Angela kam zurück. »Die Wohnung ist sauber«, sagte sie. »Niemand da.«

»Ich lebe allein«, sagte Mecklenburg. »Das hätte ich Ihnen auch sagen können. Wer sind Sie?«

»Sie gehört zu mir«, sagte Bremer und zog Mecklenburgs Aufmerksamkeit damit wieder auf sich. »Wer sie ist, spielt jetzt keine Rolle.«

»Bitte, Herr Bremer!« Mecklenburg fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Er zitterte noch immer, fand seine Fassung aber allmählich wieder. »Es gibt keinen Grund, grob zu werden. Ich ... bin froh, daß Sie hier sind, glauben Sie mir.«

»Nein«, sagte Bremer. »Tue ich nicht.«

»Das kann ich Ihnen nicht einmal verdenken«, antwortete Mecklenburg. »Aber ich meine es ernst, glauben Sie mir. Es tut mir aufrichtig leid. Ich wollte, ich hätte nie etwas mit dieser Sache zu tun gehabt.«

»Ich auch«, sagte Bremer. Er setzte sich - genauer gesagt: Er wollte sich setzen. Aber als er eine entsprechende Bewegung machte, schoß ein so greller Schmerz durch seine Nieren, daß er stöhnend die Zähne zusammenbiß und für einen Moment zitternd und nach vorne gebeugt dastand.

»Was haben Sie?« fragte Mecklenburg alarmiert.

»Nichts«, antwortete Bremer gepreßt. »Es geht gleich vorbei.«

»Jemand hat ihm in die Nieren geschlagen«, sagte Angela. »Ziemlich heftig.«

»Das ist nicht gut.« Mecklenburg stand auf. »Ich sehe mir das besser einmal an.«

Bremer hob abwehrend die Hand. Mit einiger Mühe gelang es ihm, sich wieder aufzurichten, auch wenn er dabei das Gefühl hatte, in der Mitte durchzubrechen und ihm der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. »Das ist nicht nötig«, sagte er. »Wenn ich Ihre Toilette benutzen darf, reicht das schon.«

»Mit so etwas ist nicht zu spaßen«, sagte Mecklenburg ernst, zuckte aber mit den Schultern und deutete nach links. »Die zweite Tür.«

»Danke.« Bremer biß die Zähne zusammen, damit ihm nicht ganz aus Versehen doch noch ein Schmerzenslaut entschlüpfte, und ging mit steifbeinigen, kleinen Schritten in die Richtung, die Mecklenburg ihm gewiesen hatte. Das Licht in der Toilette ging automatisch an, als er sie betrat. Bremer schloß die Tür hinter sich, ließ sich schwer dagegen fallen und blieb länger als eine Minute zitternd und mit geschlossenen Augen stehen, ehe er auch nur die Kraft fand die zwei Schritte zur Kloschüssel zu gehen. Der Schmerz in seinen Nieren wurde immer schlimmer und breitete sich allmählich in seinen ganzen Eingeweiden aus. Er war jetzt überzeugt davon, daß Cremer ihn wirklich schwer verletzt hatte. Das Urinieren war eine Qual, und als Bremer hinterher ins Becken blickte, stellte er fest, daß er eine Menge Blut von sich gegeben hatte.

Ein zweiter Schwächeanfall zwang ihn dazu, sich noch einmal gegen die Wand zu lehnen und diesmal gleich mehrere Minuten stehenzubleiben, bis der Schmerz in seinen Nieren allmählich abklang. Seine Knie zitterten, als er das Bad verließ und zu Angela und Mecklenburg zurückging. Er erlebte eine Überraschung. Die beiden saßen beieinander auf der Couch und tranken Kaffee, als hätten sie Mecklenburg nicht mitten in der Nacht in seiner Wohnung überfallen, sondern wären zu einem lang ersehnten Familienbesuch vorbeigekommen.

Als er näher schlurfte, hob Mecklenburg den Kopf und fragte: »Mit oder ohne?«

»Blut.« Bremer verzog das Gesicht, ließ sich in einen der noch freien Sessel fallen und betrachtete stirnrunzelnd die Kanne mit frisch aufgebrühtem Kaffee, die auf dem Tisch stand.

»Wie lange war ich da drinnen?« fragte er.

»Der Kaffee war schon fertig«, antwortete Mecklenburg. »Ich hatte ihn gerade aufgebrüht, als Sie so freundlich um Einlaß gebeten haben. Ich bin erst vor einer Viertelstunde gekommen.«

»Und Sie trinken immer schwarzen Kaffee, wenn Sie morgens um vier von der Arbeit kommen«, vermutete Bremer. »Um besser einschlafen zu können, nehme ich an.«

»Ich hatte nicht vor, zu schlafen«, antwortete Mecklenburg.

Bremer beugte sich umständlich vor, um sich eine Tasse Kaffee einzuschenken, und Angela nahm ihm die Mühe ab.

Mecklenburg sagte: »Das würde ich nicht tun. Wenigstens nicht, bevor sich ein Arzt Ihre Nieren angesehen hat.«

»Kennen Sie einen guten, den Sie mir empfehlen könnten?« fragte Bremer böse. Er häufte drei Löffel Zucker in seinen Kaffee, rührte um und nahm einen weiteren Löffel, nachdem er gekostet hatte. Mecklenburg schien tatsächlich nicht vorgehabt zu haben, schlafen zu gehen. Nach diesem Kaffee würde er ein Jahr lang nicht mehr schlafen können.

»Wahrscheinlich haben Sie recht, Doktor«, sagte er. »Aber ich fürchte, meine Nieren sind im Moment mein kleinstes Problem.« Mecklenburg widersprach ihm nicht, was Bremer ziemlich beunruhigend fand.

»Ich habe mich ein wenig mit Ihrer Assistentin unterhalten, während Sie auf der Toilette waren«, sagte er. »Ich kann Ihren Zorn jetzt verstehen. Es ist schlimmer, als ich dachte.«

»So?« fragte Bremer. »Was?«

»Man hat Ihnen niemals die ganze Geschichte erzählt, nicht wahr?« fragte Mecklenburg.

»Niemand hat mir irgendeine Geschichte erzählt«, antwortete Bremer betont. »Der einzige, der mir etwas erzählt hat, war mein behandelnder Arzt. Nur weiß ich nicht, ob ich ihm noch glauben kann oder nicht. Ich fürchte, das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt ist in letzter Zeit ein bißchen erschüttert worden.«

»Ich verstehe, daß Sie so denken«, sagte Mecklenburg traurig. »Aber ich habe Ihnen so viel gesagt, wie ich konnte. Eigentlich schon mehr, als ich durfte.«

»Sie arbeiten für sie«, sagte Bremer.

»Sie?«

»Ich habe keine Ahnung, wie sich der Verein nennt«, fauchte Bremer. »Wahrscheinlich hat er keinen Namen. Aber Sie wissen verdammt genau, wen ich meine! Der freundliche Herr, der mir die Nieren massiert hat, gehört dazu.«

»Ich wußte nicht, daß sie so weit gehen würden«, sagte Mecklenburg leise. »Aber wahrscheinlich war ich ziemlich naiv.« Bremer tat ihm nicht den Gefallen, zu widersprechen. Er versuchte vergebens, irgendeine Spur von Haß oder auch nur Zorn auf Mecklenburg in sich zu entdecken. Wenn ihm eines klar war, dann, daß Mecklenburg auch nicht mehr als ein Werkzeug in dieser Geschichte war. Aber er war auch nicht hierhergekommen, um ihm die Absolution zu erteilen.

»Sie können es wieder gutmachen«, sagte er. »Erzählen Sie mir, was wirklich passiert ist.«

»Sie haben die Formel verloren«, sagte Mecklenburg.

»Wie?«

»Die Azrael-Formel.« Mecklenburg trank einen Schluck Kaffee. »Sillmann hat gründliche Arbeit geleistet. Sie haben jedes verdammte Stückchen Papier unter ein Elektromikroskop gelegt, das sie in seinem Haus und in der Fabrik gefunden haben, aber ohne Erfolg. Die Formel ist weg. Ein für allemal.«

»Und es ist niemandem gelungen, sie zu rekonstruieren?« fragte Angela zweifelnd. »Mit all den Möglichkeiten, die Sie haben? Zahllosen Wissenschaftlern, unbegrenztes Geld, der modernsten Technik?«

»Selbstverständlich«, antwortete Mecklenburg. »Wir haben die Formel im letzten Molekül rekonstruiert. Aber sie wirkt nicht.«

»Ich habe etwas anderes erlebt«, sagte Bremer. »Ich erlebe es noch.«

»Ich weiß«, sagte Mecklenburg. »Wir haben die Formel ein dutzendmal überprüft. Es ist die gleiche Zusammensetzung. Aber sie wirkt nicht. Es war nicht nur die Droge, verstehen Sie? Es war...«

»Etwas in Marc Sillmanns Blut«, sagte Angela leise.

Mecklenburg nickte. »Ja. Irgendein unbekannter Faktor. Etwas, was durch die Azrael-Droge erst geweckt wurde. Weder sein Vater noch Löbach konnten es wissen, aber sie haben eine Droge zusammengemixt, die nur bei ihm gewirkt hat.«

»Weil sie Marcs Blut als Ausgangsstoff genommen haben«, vermutete Bremer.

»Ja. Azrael und irgendein unbekannter Faktor in Marcs Blut erschufen dieses ... Etwas.«

»Und nach Marcs Tod gibt es keine Möglichkeit mehr, eine zweite Azrael-Droge herzustellen«, sagte Angela.

»Ich fürchte, so einfach ist das nicht«, seufzte Mecklenburg - »Es ist ansteckend.«

»Ansteckend?« wiederholte Angela ungläubig. »Wie ... eine Krankheit?«

»Es überträgt sich durch Blutkontakt«, sagte Mecklenburg. »Gelangt es einmal in den Kreislauf eines Menschen, dann fängt dieser nach einer gewissen Zeit ebenfalls an, den Azrael-Wirkstoff in seinem Körper zu produzieren. Der Prozeß ist nicht umkehrbar. Das macht diese Droge so gefährlich. Die Männer, die damals hinter Marc und Herrn Bremer her waren, wußten das.«

»Und es war ihnen gleich?« Angela riß die Augen auf.

»Wo denken Sie hin!« antwortete Mecklenburg. »Sie sind vielleicht gewissenlos, aber nicht dumm. Dieses Zeug ist gefährlicher als eine Wasserstoffbombe! Die gesamte zivilisierte Welt versucht seit zwanzig Jahren vergeblich, AIDS unter Kontrolle zu bekommen. Können Sie sich vorstellen, was dieses Zeug anrichtet, wenn es unkontrolliert in Umlauf gelangt?«

»Das Jüngste Gericht«, murmelte Angela. Sie war sehr blaß geworden.

»So ungefähr«, bestätigte Mecklenburg. »Das Aufräumkommando war sehr gründlich, das kann ich Ihnen versichern. Der Keller, in dem Marc Sillmann und sein Vater starben, wurde sterilisiert, sämtliche Leichen an Ort und Stelle verbrannt und der einzige Überlebende unter allen nur vorstellbaren Sicherheitsvorkehrungen weggeschlossen.«

Angela sah Bremer an, sagte aber nichts dazu, sondern fragte: »Lassen Sie mich raten. Zu diesem Zeitpunkt wußten Sie noch nicht, daß Sie die Droge nicht rekonstruieren konnten.«

»Nein«, bestätigte Mecklenburg.

»Schade, daß ich ihre Gesichter nicht gesehen habe, als sie es begriffen haben«, sagte Angela.

»Anscheinend haben Sie mir nicht zugehört«, sagte Mecklenburg ernst. »Es ist gar nicht nötig, die Droge zu synthetisieren. Azrael ist noch da. Es gab einen Überlebenden. Er war infiziert.« Angela starrte Bremer an, und Mecklenburg schüttelte den Kopf. »Ich rede nicht von Herrn Bremer. Er war nicht der Überlebende.«

»Aber...«

»Ich war klinisch tot«, sagte Bremer. »Beinahe vier Tage lang.« Er wandte sich an Mecklenburg. »Dieser andere Überlebende...?«

»Sein Name war Haymar«, sagte Mecklenburg. »Einer von Sendigs Männern. Kannten Sie ihn?«

Bremer verneinte, und Mecklenburg fuhr fort: »Er wurde sehr schwer verletzt. Wir haben die letzten fünf Jahre damit zugebracht, ihn irgendwie am Leben zu erhalten.«

»Wir?«

»Ich«, gestand Mecklenburg. »Ich sagte bereits, daß ich es bedaure, mich je mit ihnen eingelassen zu haben.«

»Und warum haben Sie es getan?« Bremer sah sich demonstrativ um. »Geld?«

»Nein. Ich stamme aus einer ziemlich vermögenden Familie. Geld hat mich nie interessiert. Ich glaube, es war die Herausforderung. Die Chance, vielleicht das Geheimnis des Lebens selbst zu lüften.«

»Ist es Ihnen gelungen?« fragte Bremer.

»Moment mal«, sagte Angela. »Was soll das heißen: Du warst vier Tage klinisch tot? Niemand ist vier Tage klinisch tot und spaziert anschließend wieder herum!« Sowohl Mecklenburg als auch Bremer ignorierten sie.

»Sagen Sie mir, daß das, was ich gerade gehört habe, nicht das bedeutet, was ich glaube«, murmelte Bremer.

»Es hat fast fünf Jahre gedauert«, sagte Mecklenburg leise. »Aber wir standen kurz davor, den Azrael-Wirkstoff in seinem Blut zu isolieren. Nicht dieses Teufelszeug, das die Leute wahnsinnig macht, sondern das, wonach Löbach und Sillmann damals gesucht haben.«

»Das ist monströs«, sagte Angela. »Wie konnten Sie sich nur darauf einlassen?«

»Sie sind ziemlich naiv, mein Kind«, sagte Mecklenburg. »Haben Sie denn immer noch nicht begriffen, worüber wir hier reden? Wer immer diese Droge besitzt, hat die absolute Macht! Sie können Menschen beherrschen. Jeden beliebigen Menschen. Nicht durch Erpressung oder Bestechung. Wenn Sie ihn mit Azrael infizieren, dann wird er alles tun, was Sie von ihm verlangen. Und er wird nicht einmal merken, daß er manipuliert wird.«

»Und wenn er es merkt, wäre es ihm gleich«, fügte Bremer hinzu.

»Ja«, sagte Mecklenburg, noch immer an Angela gewandt. »Es geht hier um Macht, meine Liebe. Nicht um Geld. Um Macht. Das einzige, was zählt.«

»War es das, was Sie auch gereizt hat?« fragte Angela ernst. »Macht über Leben und Tod?« Mecklenburg antwortete nicht gleich, aber Bremer las auf seinem Gesicht, daß sie mit ihrer Frage der Wahrheit ziemlich nahe gekommen sein mußte.

»Vielleicht«, sagte er schließlich.

Nicht vielleicht, dachte Bremer. Die Antwort lautete eindeutig ja. Aber vermutlich war das das äußerste Zugeständnis, zu dem er im Moment in der Lage war.

»Dann tun Sie mir leid«, sagte Angela. »Es gibt Dinge, an die man besser nicht rühren sollte.«

»Als ob ich das nicht wüßte!« Mecklenburg griff nach seiner Tasse, stellte fest, daß sie leer war und schenkte sich nach, ließ sich dann aber wieder zurücksinken, ohne getrunken zu haben.

»Was ist schiefgegangen?« fragte Bremer.

»Schiefgegangen? Wie kommen Sie darauf, daß etwas schiefgegangen ist?«

»Wir wären jetzt nicht hier, wenn alles nach Plan verlaufen wäre, oder?« sagte Bremer.

Angela hob plötzlich mit einem Ruck den Kopf und lauschte. Bremer sah alarmiert zu ihr auf. »Was hast du?«

»Nichts«, antwortete Angela. »Es war ... nichts.« Diese zweifache Beteuerung hielt sie allerdings nicht davon ab mit einer fließenden Bewegung aufzustehen und eine weitere Sekunde konzentriert und mit geschlossenen Augen stehenzubleiben. Sie drehte sich einmal um ihre Achse ging dann zum Fenster und öffnete die Terrassentür. Ein Schwall feuchtkalter Luft wehte zu ihnen herein und ließ Bremer schaudern, als sie auf die Dachterrasse hinaustrat. Er versuchte ihr mit Blicken zu folgen, aber es gelang ihm nicht, denn irgendwie schien ihre Gestalt schon nach wenigen Schritten mit der Dunkelheit draußen zu verschmelzen. Bremer fragte sich, ob Angela vielleicht irgendeine Art von Ninja-Ausbildung genossen hatte. Wenn ja, schien sie zu funktionieren. Bremer hatte sich bisher immer geweigert, an solcherlei Humbug zu glauben - aber schließlich hatte er in den letzten vierundzwanzig Stunden eine Menge erlebt, was er noch tags zuvor für unmöglich gehalten hätte.

Er schob den Gedanken von sich und wandte sich wieder an Mecklenburg. »Also?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Mecklenburg. Für Bremers Geschmack benutzte er diese vier Worte im Verlauf ihres Gespräches entschieden zu oft. Bisher war er eher der Meinung gewesen, daß dieses Eingeständnis aus dem Munde eines Wissenschaftlers einer der sieben Todsünden gleichkam. Aber er beherrschte sich. Er spürte, daß Mecklenburg jenen Punkt erreicht hatte, an dem er ganz von selbst weiterreden würde und Fragen eher schädlich waren.

»Vielleicht sind wir einen Schritt zu weit gegangen«, fuhr Mecklenburg fort. »Irgend etwas passiert. Aber ich weiß nicht was. Ich weiß nur, daß es mir angst macht. Ich glaube, wir haben etwas ... geweckt.«

Bremer lachte, leise und ohne die Spur von Überzeugung. »Sie wollen mir doch nicht erklären, daß Sie plötzlich anfangen, an Geister zu glauben, Professor. Sie? Ein Mann der Wissenschaft?«

»Vielleicht gerade ich«, antwortete Mecklenburg. »Ich weiß genug, um zu wissen, daß ich sehr viel mehr Dinge nicht erklären kann, als ich weiß. Was passiert mit unserem Bewußtsein, wenn wir sterben, Herr Bremer? Erlischt es einfach, wie eine durchgebrannte Glühbirne? Ist es wirklich nur ein elektrisches Feld, das einfach aufhört zu existieren? Oder ist da noch mehr? Sagen Sie es mir. Sie haben es erlebt!«

Es war praktisch die gleiche Frage, die Angela ihm auch schon gestellt hatte, und er antwortete mit der gleichen Lüge: »Ich muß Sie enttäuschen, Professor. Ich erinnere mich an nichts. Ich wurde angeschossen, und das Licht ging aus. Danach bin ich in Ihrer Klinik wieder aufgewacht. Das ist alles.«

Mecklenburgs Blick machte klar, daß er ihm nicht glaubte. Er hatte recht damit. Da war mehr gewesen. Sehr viel mehr sogar. Er erinnerte sich nicht an Details, aber im Grunde nur, weil er sich mit aller Willenskraft verbot, sich zu erinnern. Sein Unterbewußtsein war voll von Bildern, Erinnerungen, Gefühlen. Da war etwas gewesen; etwas Großes, unbeschreiblich Machtvolles. Er hatte es nur flüchtig berührt, und wäre trotzdem an diesem Hauch beinahe verbrannt. Er konnte nicht einmal sagen, ob die Macht, die er gefühlt hatte, guter oder schlechter Natur war, oder vielleicht nichts von beiden, und er hütete sich auch, zu genau in seinen Erinnerungen zu forschen. Er hatte einen guten Grund, all diese Dinge tief in sich begraben zu haben. Wie hätte er weiterleben können, mit dem Wissen, daß ihn die Hölle erwartete? Und warum hätte er weiterleben sollen, wenn es das Gegenteil war?

»Schade«, sagte Mecklenburg, als er begriff, daß Bremer nicht antworten würde, ganz egal, wie lange er darauf wartete. »Ich hatte gehofft, daß Sie mir diese Frage beantworten könnten.«

»Leider«, sagte Bremer. »Ich könnte Ihnen jetzt etwas von einem langen Tunnel erzählen und einem strahlenden Licht an seinem Ende. Aber es wäre nicht wahr.«

»Es wäre auch nicht das, was ich hören wollte«, antwortete Mecklenburg. »Das Rätsel des Tunnelerlebnisses ist längst gelöst, glauben Sie mir. Die Antwort ist ziemlich ernüchternd. Vielleicht wollen die Leute sie deshalb nicht hören und klammern sich deshalb weiter an die Version von der Reise ins Licht.«

»Sehen Sie?« sagte Bremer. »Sie wissen doch mehr als ich.« Angela kam zurück und schloß die Terrassentür hinter sich.

»Was war los?« fragte Bremer.

»Nichts«, sagte Angela. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Aber draußen ist alles ruhig. Ich bin wohl nur nervös.« Dieses Eingeständnis trug nicht unbedingt zu Bremers Beruhigung bei.

Er wartete, bis Angela sich gesetzt hatte, dann wandte er sich wieder an Mecklenburg. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte er. »Was ist schiefgegangen?«

»Doch, das habe ich. Ich weiß es nicht. Irgend etwas geht vor, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Wir sollten dieses Experiment beenden. Aber das wird Braun nie zulassen.«

»Beenden? Sie meinen damit, Haymar zu töten?«

Mecklenburg gab einen seltsamen Laut von sich. »Er ist längst nicht mehr am Leben.« In dieser Behauptung verbarg sich eine Frage, die Bremer fast so deutlich hörte, als hätte er sie tatsächlich ausgesprochen. Er ignorierte sie, und bevor das Schweigen wirklich unangenehm werden konnte, stand Angela abermals auf und ging zur Tür. Kein Zweifel: Sie war nervös.

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen kann«, sagte Mecklenburg. »Aber ich habe Ihnen jetzt alles gesagt, was ich weiß. Wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf...«

»Nur zu.« Draußen in der Diele polterte etwas. Sehr leise, aber hörbar.

»Verlassen Sie die Stadt«, sagte Mecklenburg. »Braun ist der Überzeugung, daß Sie irgend etwas mit der Sache zu tun haben, und Sie haben ja schon erlebt, wozu er fähig ist. Nehmen Sie Ihre kleine Freundin, und verschwinden Sie, bevor Sie ihm in die Hände fallen. Ich kann Ihnen etwas Bargeld geben. Nicht viel, aber genug, um in die nächste Maschine zu steigen und auf irgendeine Karibikinsel zu fliegen. Ich weiß nicht, ob Sie dort vor ihm sicher sind, aber...« Das Poltern wiederholte sich. Im nächsten Sekundenbruchteil erklang ein abgehackter Schrei, und Angela kam im hohen Bogen durch die Tür geflogen, landete auf dem Parkettfußboden und schlitterte ein paar Meter davon, ehe sie zur Ruhe kam. Noch bevor sie sich wieder aufrappeln konnte, traten zwei Männer in dunklen Anzügen durch die Tür. Jeder von ihnen hielt eine großkalibrige Waffe in der Hand, mit der er auf Angela zielte.

»Nein, Professor, das wäre er nicht. Es gibt keinen Ort, an dem man sich vor mir verstecken kann. Wenigstens nicht auf diesem Planeten. Ich dachte, Sie wissen das.« Ein dritter Mann trat ins Zimmer. Er war nicht ganz so groß wie die beiden Bewaffneten und ein wenig älter, aber ebenso elegant gekleidet. Offenbar hatte die ganze Truppe nicht nur den gleichen Autolieferanten, sondern auch denselben Schneider.

Bremer erkannte ihn auf der Stelle wieder. Es war fünf Jahre her, daß er ihn das letztemal gesehen hatte. Damals war er jünger gewesen, und noch nicht der Chef, sondern ein unscheinbares Mitglied von Sendigs Schlägertrupp, aber es gab keinen Zweifel.

»Guten Morgen, Herr Bremer«, sagte Treblo. »Ich freue mich wirklich, daß wir uns wieder einmal begegnen.«

»Treblo!« murmelte Bremer.

»Braun«, antwortete Treblo. »Sie können das nicht wissen, aber im Moment ziehe ich den Namen Braun vor. Das macht Ihnen doch nichts aus, oder?« Bremer wollte aufstehen, und in Brauns Hand erschien wie hingezaubert eine Pistole. »Bitte!« sagte er kopfschüttelnd. Die Waffe war gespannt. Bremer sah, daß er den Abzug bereits halb durchgezogen hatte. Braun war tatsächlich bereit, zu schießen. Er lächelte weiter, und sein Gesicht wirkte entspannt. Aber er hatte sich nur zu neunundneunzig Prozent in der Gewalt, nicht zu hundert. Eine Spur von Unsicherheit blieb. Auch wenn Bremer es sich nicht ganz erklären konnte, wurde ihm doch schlagartig klar, daß Braun ... Angst vor ihm hatte.

Angela erhob sich vorsichtig. Die Waffen der beiden Männer an der Tür folgten ihrer Bewegung akribisch, und Braun sagte: »Langsam, wenn ich Sie bitten darf. Ich weiß, was ihr zwei mit Reinhold und Cremer gemacht habt. Ich kann mir zwar beim besten Willen nicht erklären, wie, aber ich bin ehrlich gesagt auch gar nicht sehr scharf darauf, es herauszufinden.« Angela führte ihre Bewegung sehr viel langsamer zu Ende und hob die Hände, und Bremer ließ sich vorsichtig wieder in seinen Sessel zurücksinken. Brauns Waffe blieb weiter starr auf sein Gesicht gerichtet.

»Ich bin für klare Verhältnisse«, sagte Braun. »Sehen Sie auf Ihre Brust.« Bremer gehorchte. Unmittelbar über seinem Herzen zitterten zwei winzige, rote Lichtflecke.

»Damit das ganz klar ist«, sagte Braun. »Zwei meiner Männer zielen vom Dach des gegenüberliegenden Gebäudes mit Präzisionsgewehren auf Sie. Wenn hier drinnen irgend etwas passiert, was ihnen nicht ganz koscher vorkommt, drücken sie ab. Nicht einmal ich kann sie daran hindern. Tun Sie also lieber nichts Unüberlegtes. Haben Sie mich verstanden?« Bremer nickte. Die Spannung wich ein wenig aus Brauns Gesicht, aber seine Waffe blieb weiter auf Bremer gerichtet, als er sich herumdrehte und an Mecklenburg wandte. »Sie enttäuschen mich, Professor«, sagte er. »Ich hätte wirklich nicht geglaubt, daß Sie mir so in den Rücken fallen.« Er schüttelte den Kopf, schwenkte seine Waffe herum und schoß Mecklenburg zwischen die Augen. Mecklenburg wurde mitsamt der kleinen Couch, auf der er saß, nach hinten gerissen und schlug mit verdrehten Gliedern auf dem Parkettfußboden auf, und Braun richtete die Waffe wieder auf Bremer.

Angela hatte einen ungläubigen kleinen Schrei ausgestoßen und war in eine geduckte, sprungbereite Haltung gesunken, dann aber wieder erstarrt, als die beiden Männer an der Tür drohend ihre Waffen hoben, und Bremer sah aus den Augenwinkeln, daß selbst sie Braun ungläubig und entsetzt ansahen. Bremer war ziemlich sicher, daß jeder von ihnen schon einen oder auch mehrere Menschen getötet hatte, oder zumindest dazu bereit war, doch was Braun gerade getan hatte, war etwas anderes. Und es war vor allem so sinnlos.

Fassungslos starrte er den leblosen Körper des Professors an. »Aber ... warum?«

»Wie bereits gesagt«, antwortete Braun. »Ich bin für klare Verhältnisse. Jetzt werden Sie mir glauben, daß ich es ernst meine.«

»Das hätte ich vorher auch«, sagte Bremer leise. »Es war nicht nötig, diesen hilflosen alten Mann umzubringen.«

»Seltsam«, antwortete Braun. »Aber ausgerechnet aus Ihrem Mund etwas über den Wert eines Menschenlebens zu hören, finde ich eher komisch.« Er griff mit der linken Hand in die Tasche, zog ein paar Handschellen heraus und warf sie Angela zu. »Wären Sie bitte so freundlich, sie anzulegen, meine Liebe?« fragte er.

Bremer hielt Angela aufmerksam im Auge. Sie sah einen Moment lang nachdenklich auf die Handschellen herab, und Bremer konnte regelrecht sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Er betete, daß sie keine Dummheiten machte. Er traute ihr durchaus zu, mit den beiden Agenten fertig zu werden, die auf sie angelegt hatten, vollkommen ungeachtet ihrer Waffen. Aber dann würden entweder Braun oder die beiden Männer auf dem gegenüberliegenden Dach ihn erschießen.

Angela schien wohl zu dem gleichen Schluß zu kommen, denn nach einer Sekunde zuckte sie mit den Achseln und ließ die Handschelle um ihr linkes Handgelenk schnappen. Als sie auch die andere einrasten lassen wollte, sagte Braun: »Hinter dem Rücken.« Angela warf ihm einen zornigen Blick zu, gehorchte aber. Braun machte eine entsprechende Geste, und einer seiner Männer ging rasch hin, überprüfte die Handschellen und drückte die verchromten Ringe dann enger zusammen, so daß Angela vor Schmerz die Luft einsog.

»Macht es Ihnen Spaß, Menschen zu quälen?« fragte Bremer.

»Es macht mir Spaß, am Leben zu bleiben«, antwortete Braun.

Bremer schnaubte verächtlich, bewegte sich unruhig in seinem Stuhl und sah zufällig an sich herab. Einer der beiden roten Lichtpunkte über seinem Herzen war verschwunden.

Braun fiel es im gleichen Moment auf wie ihm. Er runzelte die Stirn, griff in die Tasche und zog ein Handy heraus. Noch während er es ans Ohr hob, drückte er eine einzelne Taste.

»Einheit drei!« schnappte er. »Was ist bei euch los?« Offensichtlich bekam er keine Antwort, denn er wiederholte seine Frage noch einmal und rammte das Handy dann regelrecht in seine Jackentasche zurück.

»Schwierigkeiten?« fragte Bremer.

Braun zog eine Grimasse, kam näher und griff ein zweites Mal in die Tasche. Als er Bremer erreicht hatte, erlosch auch der zweite rote Laserpunkt auf seiner Brust. Braun fluchte, drückte seine Waffe auf Bremers Stirn und zog mit der anderen Hand eine verchromte Injektionspistole aus der Tasche. Ohne viel Federlesens stieß er Bremer die Nadel durch die Jacke in den Bizeps und drückte den Kolben herunter.

Bremer keuchte vor Schmerz. Er wußte nicht, was Braun ihm gespritzt hatte, aber es brannte wie konzentrierte Säure in seinem Arm, und es wirkte sofort. Ihm wurde schwindelig. Etwas wie ein grauer, dämpfender Schleier legte sich über Bremers Sinne.

Als Braun die Nadel aus seinem Arm zog und sich aufrichtete, implodierte die Fensterscheibe, und die Wirklichkeit wurde endgültig zum Alptraum.

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