Auch wenn er Nördlinger nicht so gut gekannt hätte, wäre Bremer klar gewesen, daß die Szenerie sorgsam einstudiert war. Trotz aller unbestrittener Intelligenz war Nördlinger ein Mensch, der leicht zu durchschauen war; und ein Mensch mit einem starken Hang zur Theatralik.
Was er im Moment tat, war regelrecht albern. Nördlinger saß hinter seinem riesigen, vollkommen leeren Schreibtisch, hatte beide Hände auf die Armlehnen seines ledernen Drehsessels gelegt und schien vor kurzem einen Besenstiel verschluckt zu haben. Beides - Stuhl und Tisch - waren eine Spur zu groß für ihren Besitzer, und beides sah aus, als wäre es vor ungefähr einer Stunde angeliefert und frisch ausgepackt worden. Dabei wußte Bremer, daß die Möbel gut und gerne fünfzehn Jahre auf dem Buckel hatten. Nördlingers Blick - Bremer war ziemlich sicher, daß er nicht ein einziges Mal geblinzelt hatte, seit West und er hereingekommen waren - wanderte mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms zwischen ihm und dem Zifferblatt der Standuhr in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers hin und her, und er hatte bisher nicht nur nicht mit der Wimper gezuckt, sondern auch kein einziges Wort gesprochen. Sie waren seit ungefähr einer Minute hier. Vielleicht länger.
Wahrscheinlich, dachte Bremer, baute er darauf, daß sein beharrliches Schweigen die Autorität des leeren Schreibtisches und die unbehagliche Stille unterstrich, um Bremer auf diese Weise noch mehr einzuschüchtern, aber das passierte nicht. Möglicherweise dachte er ja auch, daß er in irgendeiner Form beeindruckend oder gar ehrfurchtgebietend wirkte, wie er so stocksteif auf seinem Thron hockte und ihn anstarrte. Bremer fand sein Benehmen einfach nur kindisch.
Schließlich beendete er die groteske Performance, indem er sich seinerseits im Sessel herumdrehte und auf die Uhr sah.
»Es ist viertel nach sieben«, sagte Nördlinger, noch bevor er sich wieder herumgedreht hatte.
»Eben«, bestätigte Bremer. »Ich versäume das Glücksrad im Fernsehen. Das ist meine Lieblingssendung.« Es gelang ihm ebensowenig, Nördlinger mit dieser dummen Bemerkung aus der Fassung zu bringen, wie Nördlinger umgekehrt ihn mit seinem Benehmen beeindruckte. Und sie war auch nicht sonderlich intelligenter. »Sie wollten mich sprechen?«
»Schön, daß Sie sich wenigstens daran erinnern«, sagte Nördlinger. »Ich wollte Sie tatsächlich sprechen. Wenn ich mich richtig erinnere, so gegen vierzehn Uhr. Das war vor fünf Stunden.«
»Ich ... wurde aufgehalten«, antwortete Bremer. Er konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, einen Blick in Wests Richtung zu werfen; das hörbare Stocken in seinen Worten nicht. Bremer verfluchte sich dafür innerlich. Das alberne Machtspielchen, das Nördlinger und er seit Jahren spielten, verlief nach komplizierten Regeln, die zwar niemals explizit aufgestellt worden waren, von ihnen beiden aber sorgsam eingehalten wurden. Mit diesem kurzen Zögern in seiner Antwort hatte er diese Runde eindeutig verloren. Nördlinger spürte das. Er verbiß sich ein triumphierendes Lächeln, aber Bremer konnte es regelrecht spüren.
»Ich sage es Ihnen jetzt zum wirklich allerletzten Mal«, fuhr er fort. »Sie sind Polizist, Herr Bremer, kein Postbote. Auch wenn Sie nicht im Dienst sind, sind Sie im Dienst. Ich verlange, daß Sie erreichbar sind. Haben Sie das jetzt verstanden?« Fast zu seiner eigenen Überraschung antwortete Bremer nur mit einem einfachen ›Ja‹ auf diese Frage, und beinahe noch überraschender war, daß Nördlinger ausnahmsweise einmal nicht auf seinem kleinen Etappensieg herumritt, sondern es bei einem knappen Kopfnicken beließ. Einen Teil des Besenstiels, den er heruntergeschluckt hatte, schien er wohl mittlerweile verdaut zu haben, denn er gab seine steife Haltung auf, beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf der Tischplatte auf und verschränkte die Hände unter dem Kinn.
»Also gut«, begann er, »dann können wir uns ja jetzt vielleicht wichtigeren Dingen zuwenden. Ich habe zwar Wichtigeres zu tun, als dieses ... Glücksrad im Fernsehen zu sehen, aber selbst jemand in meiner Position kennt die Bedeutung des Wortes Feierabend, ob Sie es glauben oder nicht.« Er deutete auf West. »Ihre neue Kollegin haben Sie ja bereits kennengelernt, wie ich sehe.«
»Ja«, antwortete Bremer. »Deshalb bin ich hier. Sie wissen, daß ich nicht mit einem Partner zusammenarbeite.«
»Haben Sie etwas gegen die Kollegin West?«
»Darum geht es nicht«, erwiderte Bremer kopfschüttelnd. Nein, er würde sich nicht von Nördlinger provozieren lassen. »Ich arbeite am besten allein. Ich kann nicht ständig auf jemanden Rücksicht nehmen.«
»Sehen Sie - genau so geht es mir auch«, sagte Nördlinger. Offensichtlich hatte er sich gut auf dieses Gespräch vorbereitet. »Und ich habe auf Sie und Ihre sonderbare Arbeitsauffassung bisher mehr Rücksicht genommen als auf irgendeinen anderen Ihrer Kollegen, Herr Bremer. Und ich glaube, das wissen Sie auch sehr gut. Ich weiß, daß Sie hier eine Art Sonderstatus genießen, und Sie wissen, wie sehr mich das ärgert. Aber in diesem Fall lasse ich nicht mit mir reden, ganz gleich, was Sie auch tun und wen immer Sie auch anrufen werden, sobald Sie dieses Büro verlassen haben. Warum sparen wir uns also nicht ein weiteres, überflüssiges Gespräch und reden gleich über den Fall?« Zu sagen, daß Bremer sprachlos war, wäre übertrieben gewesen. Aber doch ein wenig überrascht. Nördlinger hatte mit jedem Wort recht. Aber Bremer hatte bisher geglaubt, daß sie sich auf eine Art Status quo geeinigt hätten, an dem keiner von ihnen ohne wirklich zwingenden Grund rüttelte. Hatte Nördlinger einen zwingenden Grund?
»Außerdem war es nicht meine Idee, Ihnen einen Maulkorb zu verpassen«, fuhr Nördlinger fort. »Die Weisung kommt direkt aus dem Rathaus. Offensichtlich ist Ihr Name dort noch in guter Erinnerung, Herr Bremer. Um es ganz deutlich zu sagen: Es ist Ihnen nicht gestattet, Interviews zu geben oder auch nur ein einziges Wort mit der Presse zu reden. Mit niemandem, zumindest nicht, ohne es mit mir oder Kollegin West vorher abzustimmen. Haben Sie das verstanden?«
Verstanden schon, aber: »Warum?«
Nördlinger seufzte. »Wo waren Sie den ganzen Tag, Bremer? Auf dem Mond? Die ganze Stadt spricht über nichts anderes als über Rosen - und die anderen. Würden wilde Spekulationen bezahlt, wäre Berlin mittlerweile die Stadt mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen des Landes. Die Leute reden über nichts anderes mehr als über den Racheengel, der herumläuft und Bremers Liste abhakt.«
»Bremers Liste?«
»Der Ausdruck stammt nicht von mir.« Nördlinger nickte grimmig, zog eine Schublade in seinem Schreibtisch auf und nahm eine zusammengefaltete Zeitung heraus. Schwungvoll ließ er sie über die Tischplatte schlittern und fuhr fort, noch bevor Bremer sie auffangen konnte: »Die Abendpost von heute. Ein Vorabexemplar, mit freundlichen Grüßen und ohne Wissen der Redaktion. Wenn Sie dieses Gebäude wieder verlassen, hat jeder Dummkopf in der Stadt ein Exemplar davon in der Hand.« Bremer faltete die Zeitung auseinander und erblickte genau das, was Nördlinger vorhergesagt hatte. Die Schlagzeile, die sich quer über die komplette Titelseite zog und tatsächlich größer war als der Artikel darunter, lautete schlicht BREMERS LISTE. Darunter prangte ein mindestens zehn Jahre altes Foto von ihm und ein noch älteres Bild von Rosen. Der Artikel selbst war keiner. Bremer benötigte ungefähr eine Sekunde, bis er begriff, daß der Buchstabensalat unter den Fotos ein Blindtext war.
»Der Text war bei diesem Andruck noch nicht fertig«, sagte Nördlinger. »Aber ich glaube, wir beide wissen ziemlich genau, was da stehen wird.«
»Und was?« wollte West wissen.
Nördlinger sah unwillig auf. Bremer war fest davon überzeugt, daß er sie anraunzen oder ihre Frage einfach übergehen würde. Aber dann antwortete er doch. »Die Details kann Ihnen Kollege Bremer nachher in Ruhe erzählen, Frau West. Die Kurzfassung lautet, daß er vor vier Jahren ein etwas ... verunglücktes Interview gegeben hat, in dem...«
»Es war kein Interview«, unterbrach ihn Bremer gereizt. »Ich wußte nicht einmal, daß ich mit einem Journalisten rede, verdammt noch mal! Und ich habe das, was da stand, so nie gesagt.«
»Das glaube ich Ihnen sogar«, antwortete Nördlinger. »Leider ändert es nichts an dem, was am nächsten Tag in der Zeitung stand. Ihr Kollege hat die Namen einiger Verdächtiger aufgezählt, in deren Fall die Justiz seiner Meinung nach versagt hat. Die Liste war ziemlich lang. Und unter anderem waren darauf die Namen Halbach, Lachmann und Rosen zu finden.«
»O«, sagte West. »Das wußte ich nicht.«
»Ich habe damit nichts zu tun!« verteidigte sich Bremer. »Als Halbach umgebracht wurde, war ich nicht einmal in der Stadt!«
»Wen interessiert das?« seufzte Nördlinger. »Irgend jemand hat dieses verdammte Interview von damals ausgegraben, und was dort steht, ist alles, was interessiert.«
»Vielleicht ist es ja gar nicht einmal so weit hergeholt«, sagte West nachdenklich. Sie hob die Hand, als sich Bremer zu ihr herumdrehte und etwas sagen wollte. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich weiß, daß Sie nichts damit zu tun haben. Aber vielleicht hat sich irgendein Verrückter tatsächlich Ihre ... Liste genommen und arbeitet sie der Reihe nach ab.«
»Blödsinn!« protestierte Bremer. »Wir sind hier in Berlin, nicht in Hollywood!«
»Ja, und die Kriminalitätsrate Berlins ist mittlerweile höher als die von Los Angeles«, fügte Nördlinger düster hinzu. Gleichzeitig aber schüttelte er den Kopf und wandte sich dann mit einem Blick direkt an West. »Außerdem wurde keiner der drei tatsächlich umgebracht. Ich dachte, Sie hätten die Akten gelesen, die ich Ihnen geschickt habe?«
West sagte nichts, sondern lächelte nur verlegen, und Bremer sagte: »Es war eindeutig Selbstmord. In allen drei Fällen. Wenn auch ziemlich bizarre Selbstmorde.« Er hob die Schultern. »Ich könnte auch nicht unbedingt sagen, daß mir einer der drei Kerle besonders leid tut.«
»So etwas will ich nicht hören«, sagte Nördlinger scharf.
»Warum?« erwiderte Bremer. »Bedauern Sie, was Halbach zugestoßen ist? Oder hat Ihnen der Anblick von Rosens Leichnam das Herz gebrochen?«
»Was ich denke oder fühle, steht hier nicht zur Debatte«, erwiderte Nördlinger. »Ebensowenig wie Ihre Gefühle, Herr Bremer. Bemerkungen wie diese sind genau der Grund, aus dem wir jetzt mehr Ärger am Hals haben, als wir wahrscheinlich schon selbst wissen. Was ist, wenn Kollegin West recht hat, und dort draußen wirklich irgendein Verrückter herumläuft, der glaubt, unsere Arbeit tun zu müssen, und Leute umbringt? Möchten Sie die Verantwortung für sein Handeln übernehmen?«
»Habe ich die nicht schon?« murmelte Bremer.
Die Worte waren gar nicht für Nördlinger bestimmt gewesen, aber er hatte sie trotzdem gehört und antwortete:
»Nein. Jedenfalls nicht, so weit es mich angeht. Ich weiß, wie gerne Sie den Märtyrer spielen und jedem erzählen, wie ungerecht ich Sie doch behandele. Aber Tatsache ist, daß ich Sie bisher nach Kräften beschützt habe - und sei es nur aus Eigennutz. Ich werde nämlich durchaus für Ihre Handlungen verantwortlich gemacht, wissen Sie? Außerdem stehe ich prinzipiell hinter meinen Leuten - auch, wenn ich sie nicht mag.« Dieser letzte Nebensatz war überflüssig, dachte Bremer. Aber er hütete sich, das laut auszusprechen, oder sich seine wahren Gefühle auch nur anmerken zu lassen. Nördlinger hatte ihm immer noch nicht verraten, warum er eigentlich hier war. Und er hatte das sichere Gefühl, daß im Laufe dieses Gespräches vielleicht noch die eine oder andere unangenehme Neuigkeit auf ihn wartete.
»Ich habe eine Sonderkommission gebildet, die sich um den Fall kümmert«, fuhr Nördlinger fort. »Sie haben damit nichts zu tun. Um das Ganze klarzumachen, Herr Bremer: Ich gebe Ihnen nicht nur einen anderen Fall, ich untersage Ihnen ausdrücklich, sich in irgendeiner Form um diese Geschichte zu kümmern. Weder dienstlich noch privat.«
Das war die normale Verfahrensweise, die Bremer nicht überraschte. Trotzdem fragte er mit einer Kopfbewegung zu West: »Und wozu dann mein Schutzengel?«
»Weil ich leider nicht die Macht habe, die Presse zum Schweigen zu bringen«, antwortete Nördlinger offen. »Und auch nicht, die Leute auf der Straße am Spekulieren zu hindern. Ginge es nach mir, würde ich Sie für die nächsten zwei Wochen vom Dienst suspendieren, oder Sie auf eine Dienstreise zum Nordpol schicken. Leider geht es nicht nach mir.«
»Sondern?«
Nördlinger ignorierte die Frage. »Ich möchte auf jeden Fall, daß Sie sich da raushalten, Bremer. Im Klartext: Ich will weder irgendwelche Interviews mit Ihrem Namen darunter lesen, noch Statements oder auch nur eine Äußerung aus einer Bierlaune heraus in irgendeinem Revolverblatt zitiert finden.« Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wenn Sie zu Rosen oder einem der anderen befragt werden, dann werden Sie auf der Stelle vergessen, daß Sie jemals Sprechen gelernt haben. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
»Ich glaube schon«, sagte Bremer. Er fühlte sich immer noch wie betäubt, ausgelaugt von dem Erlebnis in dem Badezimmer und unwohl angesichts der schwachen Position, in die ihn Nördlinger bugsiert hatte.
»Das glaube ich nicht«, antwortete Nördlinger. »Sie klingen nicht so, als hätten Sie mich verstanden, Herr Bremer. Vielleicht glaube ich Ihnen auch nur einfach nicht, weil ich Sie kenne. Ich möchte es deshalb ganz klar und vollkommen unmißverständlich ausdrücken: Ich will nicht sehen, erleben, lesen oder auch nur hören, daß Sie mit einem Journalisten auch nur reden. Wenn mir zu Ohren kommt, daß Sie auch nur auf der gleichen Straßenseite mit einem Reporter gesehen worden sind, kontrollieren Sie am nächsten Morgen wieder Parkuhren. War das deutlich genug?«
»Was soll das?« fragte Bremer. Er warf einen flüchtigen Blick in Wests Richtung und wandte sich dann wieder an Nördlinger. »Halten Sie mich für dumm?«
»Bestimmt nicht«, antwortete Nördlinger. Schon die Schnelligkeit, mit der diese Antwort kam, machte Bremer klar, daß er auch mit dieser Reaktion gerechnet hatte. Wie vermutlich mit jeder Reaktion. Er nahm sich vor, nicht mehr allzu viel zu sagen. Diese Runde ging an Nördlinger. Er konnte nichts gewinnen, wenn er sich auf diesen unfairen Kampf einließ.
Nördlinger wartete sichtbar darauf, daß Bremer weiter sprach und ihm Gelegenheit gab, eine seiner vermutlich hundert sorgsam zurechtgelegten Antworten loszuwerden. Als dies nicht geschah, faltete er die Hände unter dem Kinn auseinander und ließ sich im Sessel zurücksinken, um zwei oder drei weitere Sekunden verstreichen zu lassen.
»Ich halte Sie ganz im Gegenteil für einen verdammt guten Polizisten, Herr Bremer«, sagte er schließlich. »Das ist der einzige Grund, aus dem Sie jetzt noch hier sitzen. Wäre es anders, hätte ich mich schon vor fünf Jahren von Ihnen getrennt, ganz egal, über was für mächtige Freunde Sie auch verfügen, glauben Sie mir. Aber es geht nicht darum; Es geht um nichts von alledem.«
»Worum dann?« fragte Bremer.
»Verstehen Sie das wirklich nicht?« fragte Nördlinger. »Vielleicht ist das alles nur Hysterie. Vielleicht ist es tatsächlich nur eine Verkettung von nahezu unglaublichen Zufällen, und diese drei Verdächtigen haben tatsächlich Selbstmord begangen. Aber das glaube ich nicht. Und Sie glauben es auch nicht. Ich glaube, daß wir es hier mit dem Schlimmsten zu tun haben, was wir uns überhaupt denken können. Mit Selbstjustiz. Irgendwo in dieser Stadt läuft jemand herum, der sich für den Terminator hält, oder einen Batman für Arme.« West lachte leise, und in Nördlingers Augen blitzte es zornig auf. »Das ist nicht komisch, Frau West!« sagte er. Seine Stimme klang plötzlich so spröde und kalt wie Glas. Wests Lachen verstummte, und nur den Bruchteil einer Sekunde darauf verschwand auch der dazugehörige Ausdruck von ihrem Gesicht und machte dem einer tiefen Verunsicherung Platz.
»Sie kommen frisch von der Polizeischule«, fuhr Nördlinger fort. »Vielleicht sollte ich deshalb ein wenig rücksichtsvoller sein. Vielleicht sollte ich auch besonders kleinlich sein. Hat man Ihnen nicht beigebracht, was Selbstjustiz bedeutet? Den Anfang vom Ende, Frau West. Es gibt eine Institution, die für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung zuständig ist, sie allein und sonst niemand. Und diese Institution sind wir. Wir können nicht zulassen, daß die Leute anfangen, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen - und wenn wir hundertmal im stillen der Meinung sind, daß sie recht haben. Es spielt keine Rolle.«
»Ich weiß«, sagte West, doch Nördlinger hatte sich zu sehr in Rage geredet, um jetzt einfach wieder das Thema zu wechseln. Das Telefon klingelte, aber Nördlinger sah nicht einmal in seine Richtung.
»Ganz offensichtlich wissen Sie es nicht«, sagte er. Seine Finger begannen einen hektischen Takt auf der Schreibtischplatte zu trommeln, der sich dem Takt des immer noch klingelnden Telefons anpaßte. »Ich weiß, daß es in letzter Zeit chic geworden ist, so zu denken. Diese ganze ... Video-Gesellschaft dort draußen ist offensichtlich der Meinung, daß die einzige Gerechtigkeit die des alten Testaments ist. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und daß man lieber einen oder zwei Unschuldige opfern als einen Schuldigen entkommen lassen sollte. Wissen Sie, was passiert, wenn wir so etwas einreißen lassen? Was das Ergebnis wäre? Anarchie! Glauben Sie denn, all diese Schlagzeilen und Fernsehberichte heute wären ein Zufall? Das sind sie nicht. Die Leute warten auf jemanden, der sich als Racheengel aufspielt. Sie wollen jemanden, der auf ganz altmodische brachiale Art für Recht und Ordnung sorgt - oder das, was sie dafür halten.«
»Vielleicht wäre das nicht so, wenn wir etwas effektiver arbeiten würden«, antwortete Bremer.
Nördlinger starrte ihn an. »Wie bitte?«
»Wir fangen diese Kerle doch mittlerweile nur noch ein, damit irgendein überliberaler Richter sie gleich wieder auf freien Fuß setzen kann!« sagte Bremer. Seine innere Stimme warnte ihn, nicht weiterzureden. Das, was er auf Nördlingers Gesicht las, riet ihm, es nicht zu tun, und seine eigene Logik sagte ihm, daß das Klügste, was er jetzt noch sagen konnte, gar nichts war. Er hatte schon viel zuviel gesagt. Und trotzdem wedelte er mit der Hand, die die Zeitung hielt, und fuhr fort: »Wundern Sie solche Schlagzeilen wirklich? Mittlerweile werden die Verbrecher in diesem Land doch besser behandelt als die Opfer! Wem sollen die Leute dort draußen noch vertrauen, wenn sie wissen, daß die Mörder ihrer Kinder vielleicht schon wieder frei sind, bevor die Opfer unter der Erde sind?«
Nördlinger sagte nichts. Er starrte ihn nur mit steinernem Gesicht an, dann hob er ganz langsam die linke Hand und legte sie auf das Telefon, aber nicht, um den Hörer abzuheben. Dann sagte er, sehr leise und sehr ruhig: »Das war's dann, Herr Bremer. Ich suspendiere Sie mit sofortiger Wirkung vom Dienst.«
»Warum?« fragte Bremer.
Nördlinger nahm den Telefonhörer nun doch ab und legte die rechte Hand über die Sprechmuschel, bevor er antwortete.
»Das weiß ich noch nicht. Rufen Sie mich morgen früh an. Bis dahin habe ich Zeit genug, mir einen Grund einfallen zu lassen. Ja?!« Das letzte Wort hatte er beinahe ins Telefon geschrien. Bremer konnte sich die Überraschung des Teilnehmers am anderen Ende der Leitung lebhaft vorstellen. Solange er sich erinnerte, hatte er Nördlinger noch niemals schreien hören. Vermutlich hatte das niemand. Bremer hatte bis zu diesem Moment noch nicht einmal gewußt, daß Kriminalrat Nördlinger überhaupt schreien konnte. Er schrie auch nicht weiter. Einige Sekunden lang sagte er gar nichts, aber dafür war der Ausdruck auf seinem Gesicht um so beredter. Für einen Moment erstarrten seine Züge einfach. Dann schien jede Kraft aus seinen Gesichtsmuskeln zu weichen. Der so seltene Zorn verrauchte buchstäblich von einem Augenblick auf den anderen, und Bremer war sicher, daß das, was sich nun auf Nördlingers Gesicht spiegelte, ein Gefühl war, das ziemlich nahe an Entsetzen grenzte.
»Nummer vier?« fragte er, nachdem Nördlinger ohne ein weiteres Wort eingehängt hatte.
»Strelowsky«, antwortete Nördlinger. »Sie haben ihn gerade in seinem Wagen gefunden. Tot.«
»Wo?« fragte Bremer.
»Strelowsky?« wollte West wissen. »Wer ist das?«
»Einer der schlimmsten Rechtsverdreher der Stadt«, sagte Bremer. Nördlingers Blick wurde noch härter, und Bremer schluckte den zweiten Teil seiner Antwort herunter. Ist nicht besonders schade um ihn. Statt dessen sagte er: »Und rein zufällig Stefan Rosens Rechtsanwalt. Er hat ihn damals rausgeholt.«
»Und jetzt ist er tot.« West schürzte die Lippen.
»Was für ein Zufall.«
»Was ist passiert?« wollte Bremer wissen. »Wieder ein bizarrer Selbstmord?«
»Er ist tot«, antwortete Nördlinger, »mehr weiß ich auch nicht. Und mehr müssen Sie auch nicht wissen.« Er gab sich einen sichtbaren Ruck, streifte das Telefon noch einmal mit einem sonderbaren Blick, fast, als mache er den Apparat für die schlechten Nachrichten verantwortlich, und fuhr dann in verändertem Ton und wieder direkt an Bremer gewandt fort: »Ich habe Sie vor zwei Minuten vom Dienst suspendiert, haben Sie das bereits vergessen?«
»Aber das ... das war doch wohl nicht ernst gemeint, oder?« murmelte Bremer. »Ich meine...«
»Hatten Sie jemals den Eindruck, daß ich mit solchen Dingen scherze?« fragte Nördlinger. »Sie sind raus, Bremer. Raus aus diesem Fall und zumindest für den Rest der Woche raus aus dem Polizeidienst.« Er stand auf. »Bis nicht wenigstens etwas Gras über diese leidige Angelegenheit gewachsen ist, möchte ich Sie nicht mehr sehen. Nicht in diesem Gebäude, und erst recht nicht in der Nähe irgendeines der an diesem Fall Beteiligten.«
»Ist das schon alles?« fragte Bremer.
»Beinahe«, antwortete Nördlinger. »Ob ich Sie mit oder ohne Ihre Bezüge suspendiere, das hängt von den nächsten Sätzen ab, die ich von Ihnen zu hören bekomme.«
»Dann wäre es vielleicht das Klügste, wenn ich jetzt überhaupt nichts mehr sage«, murmelte Bremer verstört.
»Das scheint mir auch so«, sagte Nördlinger. »Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, Herr Bremer. Ich melde mich nächste Woche bei Ihnen - falls Ihr Telefon eingeschaltet ist, heißt das.« Bremer suchte eine oder zwei Sekunden lang nach einer passenden - oder wenigstens originellen - Antwort, aber schließlich sah er ein, daß die einzig vernünftige Antwort in diesem Fall keine Antwort war. Er stand auf, drehte sich ohne ein weiteres Wort herum und ging.
Erst, als er das Büro und auch Nördlingers Vorzimmer durchquert hatte, blieb er wieder stehen. Seine Hände begannen zu zittern, und sein Puls beschleunigte sich schlagartig. Zu sagen, daß diese Runde an Nördlinger gegangen war, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen. Es war ein klarer, technischer K.O. - und er wußte nicht einmal, warum. Bremer kam erst jetzt zu Bewußtsein, daß Nördlinger ihm den eigentlichen Grund ihres Gespräches nicht einmal genannt hatte. Er hatte ihn bestimmt nicht um diese Zeit hierherbestellt, nur um ihn rauszuschmeißen.
Seine Hände begannen fast ohne sein Zutun in den Jackentaschen zu graben. Er hatte das Rauchen vor drei Jahren aufgegeben und seit mehr als einem Jahr keinen Appetit mehr auf Nikotin verspürt; jetzt hätte er für eine Zigarette einen Mord begangen. Alles, was er fand, waren seine Autoschlüssel und eine halb aufgeweichte Tankquittung. Und ein Stück rostiger Draht, etwas kürzer als sein kleiner Finger und mit einer dunkelbraunen Verfärbung an einem Ende. Es dauerte eine Sekunde, bis er sich wieder erinnerte, woher dieses Stück Altmetall kam. Er hatte es am Morgen auf dem Hinterhof aufgehoben, auf dem sie Rosens Leiche gefunden hatten. Warum er ihn eingesteckt hatte, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht, weil es sich bei der häßlichen Verfärbung an seinem Ende um Rosens Blut handelte? Seltsam. Ganz abgesehen davon, daß er damit ein Beweisstück vom Tatort entfernt hatte (Nördlinger hätte seine helle Freude daran gehabt, dachte er sarkastisch) war es eigentlich nicht seine Art, Trophäen zu sammeln. Schon gar nicht solche.
Blut. An dem winzigen, verbogenen Draht klebte Blut. Vielleicht auch nicht. Vielleicht war es auch nur eine zufällig Verfärbung, die er nur dafür hielt. Es spielte keine Rolle. Etwas daran war wichtig. Und gefährlich. Es war die Lösung, der geheime Plan, auf dem die genaue Position jedes einzelnen Teiles dieses bisher scheinbar so sinnlos anmutenden Puzzles verzeichnet war, eingeschlossen all derer, die sie bisher noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatten. Er schüttelte den Gedanken beinahe wütend ab, warf das kleine Drahtstück in den nächsten Papierkorb und ging mit schnellen Schritten zum Aufzug. Etwas stimmte nicht mit ihm, und man mußte weder Doktor der Tiefenpsychologie noch der legitime Nachfolger Sherlock Holmes' sein, um zu wissen, was. Es hatte am Morgen angefangen, als er Rosens Leichnam gesehen hatte, und der Zwischenfall in seinem Bad und seine selbstzerstörerische Reaktion auf Nördlingers Gardinenpredigt waren nur die konsequente Fortsetzung. Er konnte nicht einmal sagen, von was. Nur, daß er diesen Weg zu Ende gehen mußte.
Der Aufzug ließ auf sich warten. Bremer drückte den Rufknopf mit wachsender Ungeduld drei-, viermal, obwohl er wußte, wie sinnlos es war. Irgend jemand blockierte weiter unten die Türen. Er konnte den verdammten Knopf drücken, bis ihm der Fingernagel abfiel, ohne die Sache damit irgendwie zu beschleunigen. Aber er wollte auch nicht einfach stehenbleiben und warten, bis der Lift irgendwann einmal kam. Früher oder später würden Nördlinger oder West aus der Tür hinter ihm treten, und das wirklich letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war einem von ihnen zu begegnen. Also ging er bis zum Ende des menschenleeren Korridors und öffnete die Glastür zum Treppenhaus. Seine Begeisterung, die acht Etagen zu Fuß nach unten zu gehen, hielt sich in Grenzen, aber er konnte auch nicht einfach hierbleiben und warten. Eine seltsame Unruhe hatte ihn ergriffen. Es war nicht allein der unbehagliche Gedanke, Nördlinger oder West wiederzusehen. Etwas würde passieren. Er konnte es beinahe körperlich fühlen; so wie die veränderte Elektrizität in der Luft, die man manchmal vor einem besonders schweren Gewitter spürt.
Die Tür fiel mit einem lauten Knall hinter ihm ins Schloß, und das Licht flackerte. Als es wieder richtig brannte, war das Treppenhaus nicht mehr das Treppenhaus.
Vor ihm lag ein schmaler, schwindelerregend steil in die Tiefe führender Schacht mit nackten Betonwänden. Ausgetretene Zementstufen hatten die Stelle des billigen Marmor-Imitats eingenommen, und unter der Decke brannten keine kalten Neonleuchten mehr, sondern mattgelbe Glühbirnen in kleinen Drahtkörbchen. Rauch trieb in faserigen grauen Schwaden durch die Luft, und er hörte das Prasseln von Flammen, begleitet von einer fast regelmäßigen Abfolge dumpfer, polternder Laute, die nicht zusammenhingen, trotzdem aber irgendwie zusammenzugehören schienen.
Die Vision - diesmal war er sicher, daß es sich um eine solche handelte - war noch nicht ganz perfekt. Hier und da schimmerte die Wirklichkeit noch hindurch, als hätte man einen Film genau im Augenblick der Überblendung angehalten. Und es nutzte nichts, zu wissen, daß er einer Halluzination erlag. Ganz im Gegenteil schien dieses Wissen den Sturz hinüber in die Unwirklichkeit noch zu beschleunigen; so wie das Wissen um die vermeintliche Gefahr einen Nichtschwimmer in hüfthohem Wasser ertrinken lassen konnte. Bremer war sich jenseits allen Zweifels darüber im klaren, daß das, was er zu erleben meinte, nicht wahr war, sondern nur (Erinnerung?) eine Ausgeburt seiner Fantasie. Und doch war er unfähig, dieses Wissen zu seinem Vorteil einzusetzen, oder auch nur zu seinem Schutz. Er versuchte, sich an den verblassenden Resten der Wirklichkeit festzuklammern, aber auch dieser Versuch scheiterte kläglich. Nach ein paar Sekunden fand er sich endgültig und hoffnungslos gefangen in der surrealen Alptraumwelt einer weiteren, noch schlimmeren Vision wieder.
Der Treppenschacht hatte Substanz gewonnen, dabei aber nichts von seiner erschreckenden Unwirklichkeit verloren. Flackernder roter Feuerschein drang aus seiner Tiefe zu Bremer hoch, gefiltert von immer dichter werdendem, braunem und grauem Rauch, durch den zuckende Bewegung und flackernde Lichtblitze drangen, Schreie, hektische Bewegung und Schüsse, das Wogen eines riesigen, geflügelten Schattens.
Der zeitliche Ablauf der Vision stimmte nicht. Es war auch keine Vision.
Es war Erinnerung. Pure, brutale Erinnerung, und sie kam schlagartig und parallel, so daß er gleichzeitig erlebte, was geschehen war, was geschah und was geschehen würde.
Bremer versuchte einen Schritt zurückzuweichen, aber es ging nicht. Seine Umgebung war real geworden, gehorchte aber immer noch den Gesetzmäßigkeiten eines Alptraumes. Es gab nur eine einzige Richtung, in die er sich bewegen konnte. Das Prasseln der Flammen wurde stärker, war nun das Geräusch von brennendem Fleisch, die Schreie wurden zu den Schreien brennender Menschen.
Dann spürte er, wie der Schatten hinter ihm entstand. Gefangen in seiner Vision, war er immer noch nicht in der Lage, auch nur einen Muskel zu rühren, geschweige denn, sich herumzudrehen, aber wie zum Ausgleich dafür schien sich sein Wahrnehmungsvermögen auf fast magische Weise erweitert zu haben. Der Schwarze Engel entstand unmittelbar hinter ihm, als wäre er nicht mehr als sein eigener Schatten, der auf gespenstische Weise Gestalt und Substanz angenommen hatte, entfaltete seine gewaltigen schwarzen Schwingen und glitt dann einfach durch ihn hindurch. Seine Berührung war das kalte Feuer der Hölle. Bremer schrie wie unter Schmerzen - oder hätte geschrien, wäre er dazu in der Lage gewesen -, aber was er in Wahrheit empfand, das war etwas ungleich Schlimmeres als körperlicher Schmerz. Die rauchigen Schwingen des Todesengels berührten etwas tief in ihm. Nichts Körperliches. Nicht einmal etwas wirklich Psychisches, sondern etwas weit jenseits davon, vielleicht sein Menschsein selbst. Und diese Berührung war das Grauenhafteste, was Bremer jemals erlebt hatte. Hätte er die Wahl gehabt, zu sterben oder die Berührung der schwarzen Flügel auch nur noch eine einzige Sekunde länger zu ertragen, er hätte den Tod gewählt.
Der Schwarze Engel tobte weiter und raste die Treppe hinab. Seine gespreizten Flügel schlugen Funken aus den Wänden des schmalen Schachtes, und seine bloße Berührung reichte aus, um die Männer, die unter ihm standen und verzweifelt ihre Waffen auf ihn abfeuerten, zu zerschmettern und brennend die Treppe hinunterstürzen zu lassen. Einige von ihnen lebten noch. Sie schrien verzweifelt um Hilfe, bettelten um Gnade, aber welche Hilfe gab es gegen die Mächte der Hölle? Und Gnade gehörte nicht zum Wortschatz des Kolosses, der gekommen war, um das zu Ende zu bringen, was hinter der brandgeschwärzten Metalltür am unteren Ende der Treppe vor so langer Zeit seinen Anfang genommen hatte. Es spielte keine Rolle, daß sie unschuldig daran waren. Auch das Wort Schuld gehörte nicht zum Vokabular des geflügelten Giganten.
Er tobte weiter die Treppe hinab. Die eisernen Krallen an den Enden seiner Flügel rissen fingertiefe Furchen in den Beton, und unter seinen Schritten bebte die Erde. Die Schreie wurden lauter, verzweifelter, hoffnungsloser und brachen dann ab, und das Schweigen, das ihnen folgte, war auf unheimliche Weise vielleicht noch schlimmer.
Bremer spürte, wie die Spannung in ihm weiter und weiter wuchs, die Grenzen des Erträglichen erreichte, schließlich die Grenzen des überhaupt Vorstellbaren, und noch immer weiter und weiter anstieg. Etwas in ihm würde zerbrechen, wenn er dieser fürchterlichen Vision nicht entging, nicht irgendwann, nicht bald, sondern jetzt. Aber er konnte ihr nicht entkommen. So wenig, wie er diese Vision heraufbeschworen oder sich ihr freiwillig hingegeben hatte, stand es in seiner Macht, sie zu beenden. Er mußte sie ertragen oder daran zerbrechen.
Weder das eine noch das andere geschah. Plötzlich war der Schwarze Engel wieder da, und etwas hatte sich verändert.
Bremer war vom Zuschauer zum Akteur geworden; vielleicht auch zum Opfer. Aus Erinnerung wurde Hier und Jetzt.
Der Gigant stand wie aus dem Boden gewachsen vor ihm. Die schwarze Fläche, die dort war, wo sein Gesicht sein sollte, starrte auf Bremer herab, und etwas dahinter erwachte zu grausigem Leben. Bremer spürte, wie ihm Etwas seine Aufmerksamkeit zuwandte, wie das gigantische, träge Auge eines Gottes, dessen flüchtiges Blinzeln schon ausreichen mußte, ihn zu Asche zu verbrennen. Bremer schrie. Er wollte schreien, aber auch sein Kehlkopf war gelähmt. Er taumelte zurück, als der Gigant die Hand nach ihm ausstreckte, aber seine Bewegung war zu langsam, kraftlos. Bremer prallte gegen die Wand, sank hilflos wimmernd in die Knie und hatte nur noch die Kraft, die Arme über den Kopf zu heben, wie ein Kind, das sich hilflos unter dem Angriff eines Erwachsenen krümmt. Er konnte sich nicht wehren. Er wollte sich nicht wehren. Es war sinnlos. Azrael war zurückgekommen, um es endlich zu Ende zu bringen, und auf eine resignierende Art war er froh darüber. Die Hand des Giganten näherte sich seinem Gesicht, aber dann ergriff sie nur seine Schulter und rüttelte daran. Einmal, zweimal, dann ein drittes Mal, und so heftig, daß sein Kopf unsanft nach hinten geworfen wurde und gegen die Wand prallte. Dieser ganze profane, körperliche Schmerz brach den Bann. Nicht nur ohne, sondern schon beinahe gegen seinen Willen griff er nach dem Handgelenk des Riesen, versuchte es zu packen und spürte, wie er statt dessen selbst gepackt und grob in die Höhe gerissen wurde. Der Schmerz in seiner Schulter war so schlimm, daß er stöhnte und für eine Sekunde nur noch bunte Lichtblitze und Farben sah.
Als sich sein Blick wieder klärte, war aus dem schwarzen Todesengel ein dunkelhaariges, schlankes Mädchen geworden, das schräg und mit gespreizten Beinen vor ihm stand. Ihre linke Hand hatte sein rechtes Handgelenk gepackt und hielt es mit eiserner Kraft fest, und ihr Daumen drückte seine Hand direkt zwischen den Ballen so fest zurück, daß es weh tat. Die andere hatte sie in einer Haltung vor die Brust gehoben, über die er lieber nicht nachdachte.
»Alles wieder in Ordnung?« fragte West.
Bremer antwortete nicht - er konnte es gar nicht, denn seine Hand tat wirklich weh -, aber etwas in seinem Blick schien ihm diese Mühe abzunehmen, denn West blieb nur noch eine knappe halbe Sekunde so stehen, dann ließ sie abrupt seinen Arm los, trat einen weiteren halben Schritt zurück und entspannte sich. Zumindest körperlich. Ihr Blick blieb weiter und sehr aufmerksam auf Bremers Gesicht geheftet.
»Was ist passiert?« fragte sie.
Bremer nahm vorsichtig die rechte Hand herunter und begann das Gelenk mit der anderen zu massieren. Seine Hand prickelte. Wests Daumen mußte einen Nerv erwischt haben. »Sie haben mir fast die Hand gebrochen, das ist passiert«, sagte er. »Bezahlt Nördlinger Sie eigentlich dafür, mich zu quälen?«
»Sie haben geschrien«, sagte West. Sie warf einen raschen Blick die Treppe hinauf, dann in die entgegengesetzte Richtung. »Ich wundere mich eigentlich, daß nicht das ganze Haus zusammengelaufen ist. Was war los?«
»Nichts«, antwortete Bremer. »Ich war ... einen Moment weggetreten.« Er hörte auf, seine Hand zu massieren, und ließ den Arm sinken. Die Finger seiner rechten Hand prickelten bis in die Fingerkuppen hinein. »Ich hoffe, das wird nicht zu einer schlechten Angewohnheit.«
»Daß Sie für einen Moment wegtreten?«
»Daß Sie mir ständig das Leben retten.«
West blieb ernst. »Meinen Sie nicht, daß Sie mir eine Erklärung schuldig sind?« fragte sie.
»Nein«, antwortete Bremer. »Das meine ich nicht. Danke.«
»Danke? Das ist alles?«
»Das ist alles«, antwortete Bremer. »Was erwarten Sie noch? Daß ich Ihnen sämtliche finsteren Geheimnisse meines Lebens beichte?«
»So, wie ich Sie einschätze, haben Sie keine«, antwortete West. »Für den Anfang würde es mir schon reichen, wenn Sie mir einen Kaffee spendieren. Oder ist das auch zu viel verlangt?«