27


Das erste, was ihm auffiel, als er das Labor betrat, war Grinners Nervosität. Irgend etwas war passiert.

Der junge Forschungsassistent war allein, was so ziemlich gegen alles verstieß, was Braun jemals angeordnet hatte. Im Moment war ihm dieser Umstand aber nur recht.

Bis er einen wirklich guten Nachfolger für Mecklenburg gefunden hatte, mußte er eben mit diesem Möchtegern-Intriganten vorliebnehmen. Danach ... nun, er würde sehen.

»Was ist passiert?« fragte er übergangslos.

»Passiert?« Grinner zündete sich nervös eine Zigarette an, sah dann erschrocken zu Braun auf und blickte sich hektisch um. Neben ihm stand ein halbvoller Kaffeebecher, in dem mindestens schon ein Dutzend Kippen schwamm. Braun winkte ab, und Grinner behielt die Zigarette im Mundwinkel und zog nervös daran. »Wie ... kommen Sie darauf, daß etwas passiert ist?«

»Ich kann Gedanken lesen«, sagte Braun ungeduldig. »Also?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Grinner. »Irgendwas ... stimmt nicht.«

»Er ist wieder aktiv«, vermutete Braun.

»Ja«, sagte Grinner. »Nein ... wie man's nimmt.«

»Na, das nenne ich doch mal eine wissenschaftlich fundierte Auskunft«, sagte Braun.

Grinner wurde noch nervöser. »Ich weiß nicht, was es bedeutet«, sagte er. »Er ist aktiv, das ist alles, was ich sagen kann.«

»Jetzt im Moment?« Um ein Haar hätte Braun sich erschrocken umgesehen.

»So einfach ist das nicht«, antwortete Grinner. »Was ich Ihnen vorhin gesagt habe, das war vielleicht ... nicht ganz präzise.« Er wußte plötzlich nicht mehr, wohin mit seinem Blick, aber Braun wurde der Grund für seine Nervosität plötzlich um einiges klarer. »Ich habe mir die Aufzeichnungen der letzten Tage noch einmal genauer angesehen. Er ist ... strenggenommen die ganze Zeit aktiv. Ich meine, es ... es schwankt. Mal mehr, mal weniger. Aber diese erhöhten Aktivitäten halten im Grunde nahezu zwanzig Stunden an.«

»Seit wann genau?« wollte Braun wissen.

»Seit gestern nachmittag. Es gibt immer wieder Spitzen, aber...«

Braun hörte gar nicht mehr richtig hin. Wenn Grinner diesmal die Wahrheit sagte, dann würde das bedeuten, daß das Ding seit gestern nachmittag ununterbrochen aktiv war.

Möglicherweise mordete es ja nicht im Akkord, sondern brauchte Ruhepausen, um sich von der anstrengenden Arbeit des Tötens zu erholen. Vielleicht hatte es aber auch bereits eine blutige Spur durch ganz Berlin gezogen, die sie noch gar nicht richtig entdeckt hatten. Es wurde Zeit, die Sache zu Ende zu bringen.

»Erhöhen Sie die Dosis des Beruhigungsmittels«, sagte er.

Grinner erschrak. »Das ... das geht nicht!« sagte er.

»Was ist so schwer daran, ein paar Knöpfe zu drücken?« fragte er. »Oder eine Spritze aufzuziehen?«

»Das meine ich nicht«, antwortete Grinner. »Aber wenn ich die Dosis weiter erhöhe, dann töte ich ihn vielleicht. Er bekommt jetzt schon viel mehr, als eigentlich zu verantworten ist.«

»Das Risiko müssen wir eingehen«, sagte Braun.

»Das kann ich nicht«, beharrte Grinner.

Braun sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, ihm so offen zu widersprechen.

»Nicht ohne Professor Mecklenburg.«

»Professor Mecklenburg«, antwortete Braun ruhig, »ist nicht länger Leiter des Projekts.«

»Professor Mecklenburg ist...«

»...aus dem Projekt ausgestiegen«, bestätigte Braun. »Ich bin eigentlich nur heruntergekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß ich Sie zum kommissarischen Leiter des Projektes bestimmen wollte - wenigstens, bis die Frage von Mecklenburgs Nachfolge endgültig geklärt ist.«

Grinner starrte ihn geschlagene zehn Sekunden lang einfach nur an. Dann sagte er: »Ich weiß nicht, ob ich dazu qualifiziert genug bin.«

So viel Ehrlichkeit überraschte Braun. »Ich bin sicher daß Sie es sind«, antwortete er. »Wie lange arbeiten Sie jetzt hier?«

»Seit fünf Jahren. Von Anfang an.«

»Dann sollten Sie doch mittlerweile wissen, daß mich vor allem interessiert, was ein Mann leistet, nicht, wie viele akademische Grade er hat.«

»Aber ich habe nicht einmal...«

»Von mir aus«, unterbrach ihn Braun, »können Sie gelernter Klempner sein, oder Dachdecker. Solange Sie Ihre Arbeit gut machen, interessiert mich das nicht. Also, was ist jetzt? Wollen Sie den Job oder nicht?« Er meinte das in diesem Moment sogar ernst. Grinner war Mecklenburgs engster Mitarbeiter gewesen. Er verstand von allem hier wahrscheinlich genau so viel wie der selige Professor. Und vor allem: Er gehörte dazu. Das Projekt war in eine Phase getreten, in der es Braun noch unangenehmer als sonst gewesen wäre, fremde Gesichter in seiner Truppe zu sehen. Jeder Neue bedeutete zugleich auch ein unkalkulierbares Risiko, und das konnte er sich im Moment einfach nicht leisten!

»Kann ich ... darüber nachdenken?« fragte Grinner.

»Sicher«, antwortete Braun.

»Wie lange?«

»Zehn Sekunden«, sagte Braun. »Neun ... acht...« In Grinners Gesicht arbeitete es. Braun hätte in diesem Moment nicht mit ihm tauschen mögen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was jetzt in Grinner vorging. Besser vielleicht, als der junge Forschungsassistent ahnen mochte. Vielleicht rührte seine Antipathie Grinner gegenüber einfach daher, daß sie sich im Grunde sehr ähnlich waren. Braun hatte vor fünf Jahren vor nahezu der gleichen Entscheidung gestanden wie Grinner jetzt - als Haymar praktisch die ganze Truppe ausgelöscht hatte und plötzlich niemand mehr da war, der ihm Befehle erteilen konnte. Er hatte die Chance ergriffen, ohne zu zögern, aber er erinnerte sich auch noch sehr genau daran, wie lange es gedauert hatte bis er sicher war, nicht an dem Brocken zu ersticken, den er sich geschnappt hatte. Als er in seinem gedanklichen Countdown bei drei angekommen war, nickt Grinner.

»Hervorragend«, sagte Braun. »Ich wußte, daß ich Sie richtig eingeschätzt habe. Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung. Sie bekommen natürlich auch das gleiche Gehalt wie Mecklenburg.«

»Danke«, murmelte Grinner.

Darum war es ihm offensichtlich zuallererst gegangen.

»Ich hoffe nur, der Professor...«

»Professor Mecklenburg kommt nicht wieder«, unterbrach ihn Braun. »Es gab eine ... häßliche Szene zwischen uns, aber das hat nichts mit Ihnen zu tun. Machen Sie sich keine Sorgen. Und jetzt tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe: Wir beenden das Experiment. Geben Sie dem armen Kerl da drinnen seine wohlverdiente Ruhe.« Braun ließ bewußt ein paar Sekunden verstreichen, in denen er sich über das verstörte Flackern in Grinners Blick amüsierte. Nachdem er ihn vor dreißig Sekunden zum Leiter des Forschungsprojekts gemacht hatte, erklärte er ihm jetzt praktisch, daß seine erste Aufgabe darin bestand, sich selbst arbeitslos zu machen.

»Keine Angst«, sagte er, nachdem er Grinner lange genug hatte schmoren lassen. »Es geht weiter. Nur auf eine etwas ... andere Weise.« Er straffte die Schultern. »Wie lange wird es dauern?«

»Eine Stunde«, antwortete Grinner. »Vielleicht etwas weniger.«

»Dann fangen Sie an.« Braun wandte sich zur Tür. »Ich komme später noch einmal herunter. Alles andere besprechen wir dann morgen in meinem Büro - nachdem Sie sich gründlich ausgeschlafen haben.« Er verließ das Labor, trat in den Aufzug und drückte den Knopf für die oberste Etage. Es wurde Zeit, daß er sich um Bremer und die Kleine kümmerte. Es war nicht gut, wenn sie zuviel Gelegenheit zum Reden bekamen. Er schätzte, daß er Bremer bald so weit hatte, wie er wollte, aber die Kleine war ein Problem. Das Luder war mißtrauisch, und wahrscheinlich nicht halb so harmlos, wie sie sich gab. Natürlich hatte er nicht vor, sie laufen zu lassen, aber solange er Bremer noch nicht ganz eingewickelt hatte, mußte er vorsichtig sein.

Der Lift erreichte die erste Etage und hielt an. Die Türen glitten auf, und Braun blickte in Malchows Gesicht.

Der Agent sah reichlich mitgenommen aus. Er war blaß. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, und sein linker Arm hing in einer Schlinge vor seiner Brust. Sein ehemals weißes Hemd war schmutzig und dunkel von eingetrocknetem Blut.

»Malchow!« Braun trat mit einem raschen Schritt aus dem Lift. »Sie haben es geschafft! Was ist mit Ihrem Arm?«

»Nichts«, antwortete Malchow. Seine Stimme verriet mehr über seinen Zustand, als ihm vermutlich klar war. Sie war flach und zitterte. Wahrscheinlich stand er unter dem Einfluß irgendeines Schmerzmittels. Braun unterzog ihn einer zweiten, raschen Musterung und stellte beiläufig fest, daß sein Arm sehr professionell verbunden war. Die Schlinge, in der er hing, gehörte zur Standardausrüstung eines Rettungswagens.

»Was ist mit den anderen?«

Malchow schüttelte den Kopf. »Das Biest hat sie alle erwischt«, sagte er. »Mich hat es anscheinend für tot gehalten.«

»Dann hatten Sie Glück.« Braun sah auf die Uhr. »In einer Stunde geht der offizielle Betrieb hier los. Spätestens dann wird hier ja wohl ein Arzt aufkreuzen, der sich um Ihren Arm kümmern kann. Halten Sie noch so lange durch?« Malchow nickte, und Braun wollte sich umdrehen und wieder in den Lift treten.

»Da ist noch etwas«, sagte Malchow.

»Ja?«

Malchow griff mit der unverletzten rechten Hand ungeschickt in die linke Jackentasche und zog etwas heraus, das Braun in der schwachen Nachtbeleuchtung der Empfangshalle im ersten Moment nicht richtig erkennen konnte.

»Dieser Nördlinger war da«, sagte er. »Zusammen mit einem Priester. Er hat gesagt, ich soll Ihnen das hier geben.« Braun erkannte verblüfft, daß es sich um eine in abgewetztes schwarzes Kunstleder gebundene Bibel handelte. Ein gelber Merkzettel war zwischen die Seiten geklebt, und als Braun die entsprechende Stelle aufschlug, sah er, daß jemand eine bestimmte Stelle mit rotem Filzstift unterstrichen hatte.

»...Denn sie wissen nicht, was sie tun...«, las er vor. Verwirrt blickte er Malchow an. »Und das hat Nördlinger Ihnen gegeben? Was wollte er?«

»Sich aufspielen«, antwortete Malchow. »Hat versucht, mich einzuschüchtern, aber ich habe nichts gesagt. Am Schluß hat er aufgegeben und mir das da gegeben. Er meinte, Sie wüßten schon, was es zu bedeuten hat.«

»Nein zum Teufel!« sagte Braun. »Das weiß ich...« Braun stockte. Irgend etwas stimmte mit dieser Bibel nicht. Da war etwas unter ihrem Einband. Eine ganz sachte, harte Erhebung. Er drehte das Buch in den Händen, schlug es auf und fuhr mit den Fingerspitzen über das hintere Schmutzblatt. Die Erhebung war hier deutlicher zu spüren. Das Blatt fühlte sich ein ganz kleines bißchen feucht an, und es war zerknittert.

So als hätte jemand erst vor kurzem und in großer Hast etwas hineingeklebt...

Braun löste mit den Fingernägeln seinen oberen Rand. Es ging viel zu leicht ab. Darunter kam etwas von der Größe eines Zehnpfennigstücks zum Vorschein, das einen zehn Zentimeter langen, geringelten Schwanz aus Kupferdraht hatte. Braun mußte keinen Sekundenbruchteil lang darüber nachdenken, was es war. Und auch der Smiley und die beiden Worte, die jemand hastig mit dem gleichen roten Filzstift in Blockbuchstaben darunter gekritzelt hatte, wären nicht mehr nötig gewesen: BIS GLEICH!

Braun schloß für eine Sekunde die Augen. Dann riß er den Minisender aus dem Buch, ließ ihn zu Boden fallen und zertrat ihn unter dem Absatz.

»Malchow, Sie sind ein Arschloch«, sagte er.

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