Kriminalrat Nördlinger legte die Hand auf den Telefonhörer, strich ein paar Sekunden lang mit den Fingerspitzen über das kühle, glatte Plastik und zog den Arm dann wieder zurück, ohne gewählt zu haben. Ihm gingen langsam die Argumente aus. Seine Augen brannten, und er fühlte eine ganz leichte Übelkeit; wahrscheinlich eine Folge der zahllosen Tassen Kaffee, die er im Laufe dieser Nacht in sich hineingeschüttet hatte.
Müde sah er auf die mit Bleistift geschriebene, hastig niedergekritzelte Liste vor sich herab. Die meisten Namen waren durchgestrichen oder mit einem Haken versehen. Es nutzte nichts, die Augen davor zu verschließen: Ihm gingen langsam die Nummern aus, die er noch anrufen konnte.
Und die Wahrscheinlichkeit, auf ein offenes Ohr zu stoßen, sank mit jeder Minute, die verstrich. Nördlinger kannte nicht allzu viele Menschen, die besonders amüsiert darauf reagierten, nachts um vier aus dem Bett geklingelt zu werden.
Er tröstete sich damit, daß die statistische Wahrscheinlichkeit, Erfolg zu haben, beim letzten Anruf kein bißchen kleiner war als beim ersten, nahm den Hörer ab und begann die Nummer zu wählen, hängte dann aber wieder ein, bevor er die letzte Ziffer eingetippt hatte. Diese Nummer würde er in frühestens zwei Stunden anrufen. Ministerialrat Ewald war dafür bekannt, alles andere als ein Frühaufsteher zu sein; und er war darüber hinaus vielleicht derjenige auf Nördlingers Liste, der ihm noch am ehesten Glauben schenken würde. Er würde den Teufel tun und diese vielleicht letzte Chance verschenken, indem er Ewald mit einem nächtlichen Anruf verärgerte. Ein paar von den Leuten, die er bis jetzt angerufen hatte, hatten wütend wieder eingehängt, ohne daß er auch nur wirklich zu Wort gekommen war.
Somit blieben ihm noch drei Namen, aber Nördlinger bezweifelte, daß einer davon ihm wirklich weiterhelfen konnte. Oder wollte. Es war zum Verrücktwerden! Er hatte nicht erwartet, daß es leicht sein würde, etwas über diesen Braun herauszufinden - aber es war nicht nur nicht leicht, es schien vollkommen unmöglich zu sein! Braun war wie ein Gespenst, von dem noch nie jemand gehört hatte, das aber trotzdem jeden, den er darauf ansprach, mit Angst erfüllte. Nördlinger selbst machte da keine Ausnahme. Der Dienstausweis, den Braun ihm präsentiert hatte, als er am Abend so großkotzig in sein Büro marschiert kam, war geradezu ehrfurchtgebietend; einer von der Art, bei der man es sich dreimal überlegte, ehe man jemanden anrief, um sich von der Identität seines Besitzers zu überzeugen. Nördlinger hatte es trotzdem getan und genau die Antwort erhalten, die er erwartet hatte: Braun war jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte.
Für Nördlinger war das eher ein Grund, es trotzdem zu tun. Gerade weil Nördlinger ein Mann war, der fest an den Sinn und Nutzen von Autorität und Rangordnungen glaubte, ging ihm ein Benehmen wie das Brauns gehörig gegen den Strich. Braun durfte sich so benehmen, wenn er es wollte; aber er sollte es nicht. Wenn zu viele Menschen ihre Macht bis an die Grenze ausnutzten, dann war das ganze System in Gefahr, zusammenzuklappen wie ein Kartenhaus. Außerdem hatte ihn Braun belogen.
Nördlinger nahm das Telefon wieder auf, wählte aber keine Nummer von seiner Liste, sondern tippte Meilers Durchwahl - hatte Meiler Nachtschicht? - ein. An seiner Stelle meldete sich Vürfels. Er klang, wie jeder zwei Stunden vor Ende der Nachtschicht geklungen hätte: ziemlich knurrig.
»Ja?«
»Schon etwas Neues von Bremer?« fragte Nördlinger, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
»Nein«, antwortete Vürfels. »Die ganze Stadt sucht ihn. Meiler war gerade noch einmal in seiner Wohnung. Offensichtlich ist eingebrochen worden - oder Bremer lebt in dem größten Saustall, den ich jemals gesehen habe.«
»Fehlt etwas?«
»Das könnte höchstens Bremer selbst beantworten«, sagte Vürfels, »Aber dafür müssen wir ihn erst einmal haben.«
»Sucht weiter«, sagte Nördlinger. »Und haltet mich auf dem laufenden.« Vürfels wollte noch etwas sagen, aber Nördlinger hängte ein, ehe er dazu kam. Er wußte ohnehin was er hatte fragen wollen - das, was alle wissen wollten - Warum die gesamte Berliner Polizei in dieser Nacht einen ihrer eigenen Kollegen suchte.
Nördlinger konnte diese Frage nicht beantworten. Er hatte die Fahndung nach Bremer herausgegeben, ohne einen Grund zu nennen - womit er sich strenggenommen nicht anders verhielt als Braun. Er nutzte seine Machtposition aus, um etwas zu tun, was er zwar durfte, aber eigentlich nicht sollte.
Aber sie mußten Bremer finden, bevor Braun ihn fand. Es war wichtig. Für Bremer vielleicht lebenswichtig. Und er würde herausfinden, wer dieser Kerl überhaupt war! Als er zum Telefon griff und die nächste Nummer auf seiner Liste wählen wollte, schwang die Tür zurück und ein dunkelhaariger Mann in einem schwarzen Anzug mit weißem Priesterkragen trat ein.
»Wer...?« begann Nördlinger.
»Kriminalrat Nördlinger?« unterbrach ihn der andere.
»Der bin ich«, antwortete Nördlinger automatisch. »Aber wer zum Teufel sind Sie? Und wie kommen Sie überhaupt hier herein?«
»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte der Mann im Priesterkragen. »Mein Name ist Thomas. Ich muß mit Ihnen reden. Es ist wichtig!«
Nördlinger stand mit einer energischen Bewegung auf. »Zuallererst einmal werden Sie mir sagen, wie Sie hier hereinkommen!« verlangte er.
»Es geht um Bremer«, sagte Thomas. »Bitte hören Sie mir zu! Wir haben nicht mehr viel Zeit!«