12


»Hier. Trink!« Bremer hatte noch nie viel davon gehalten, Alkohol zu trinken, um sich zu beruhigen, oder überhaupt mit irgendeinem Problem fertig zu werden. Er wußte, daß es nicht funktionierte. Aber er hatte einfach nicht die Energie, Angela zu widersprechen, oder gar eine end- und sinnlose Diskussion über den Nutzen oder Schaden von Alkohol zu beginnen. Außerdem brauchte er irgend etwas, um seine Hände zu beschäftigen. So griff er nach dem Glas, das sie ihm über den Tisch hinweg zugeschoben hatte, setzte es an und leerte es mit einem einzigen Zug. Er wußte selbst hinterher nicht, was er getrunken hatte. Es schmeckte wie etwas mit einer Konzentration jenseits von Salzsäure, das brennend seinen Hals hinablief. Als es seinen Magen erreichte, verwandelte sich das Brennen in intensive Wärme, die sich rasch in seinem Leib ausbreitete. Das Zittern seiner Hände beruhigte es nicht.

»Noch einen?« fragte Angela. Sie setzte schon dazu an, aufzustehen und zur Theke zu gehen, um ein zweites Glas Was-auch-immer zu holen, aber Bremer schüttelte den Kopf, und sie ließ sich wieder zurücksinken. »Ist vielleicht auch besser so«, sagte sie. »Wir beide müssen uns unterhalten. So etwas geht besser mit einem klaren Kopf.«

»Unterhalten?« Bremer hob mit einiger Mühe den Kopf und versuchte, Angela mit Blicken zu fixieren. Es mißlang. Sein Inneres war so sehr in Aufruhr, daß es ihm nicht möglich schien, seine Gedanken länger als eine Sekunde auf einen bestimmten Punkt zu konzentrieren. Geschweige denn seinen Blick. Mit noch mehr Mühe schüttelte er den Kopf und fügte schleppend hinzu: »Ich wüßte nicht, worüber.«

Angelas Blick machte sehr deutlich, was sie von dieser Antwort hielt. Hätten sie sich an irgendeinem anderen Ort aufgehalten, wäre ihre Reaktion vermutlich auch etwas lautstarker ausgefallen. Zu Bremers Glück waren sie das aber nicht. Angela hatte irgendwann - vielleicht nach zehn Minuten, vielleicht nach einer Stunde, er hatte nicht die geringste Ahnung - angehalten und ihn fast gewaltsam aus dem Wagen gezerrt. Jetzt befanden sie sich in einer ziemlich kleinen, ziemlich heruntergekommenen und vor allem beinahe leeren Kneipe. Es gab nur ein halbes Dutzend Tische, die allesamt leer waren. Außer Angela und ihm selbst befanden sich nur noch der Wirt und zwei weitere Gäste hier, die an der Bar saßen und sich mit gesenkten Stimmen unterhielten. Bremer war klar, daß sie für ein gewisses Aufsehen sorgten. Er hatte keine Ahnung, wo sie waren, und Angela wahrscheinlich auch nicht. Er war ziemlich sicher, daß sie diese Kneipe nur deshalb ausgewählt hatte, weil sie trotz der vorgerückten Stunde noch auf war. Aber es war weder eine Gegend noch die Art von Gastwirtschaft, in der er normalerweise verkehrte. Und Angela schon gar nicht.

Als sie antwortete, tat sie es jedenfalls leise, mit einem Achselzucken und in einem Ton, der zumindest beiläufig klingen sollte, ohne es wirklich zu tun. »Oh, zum Beispiel über die Frage, warum ich plötzlich von Typen gejagt werde, die ich bis gestern nur aus amerikanischen Agentenfilmen kannte. Oder warum ich vorhin geglaubt habe, etwas zu sehen, von dem ich ganz sicher bin, daß ich es gar nicht gesehen haben kann... Und was es mit Azrael auf sich hat.« Wäre die winzige Pause zwischen den beiden Sätzen nicht gewesen, dann hätte ihre Frage vielleicht wirklich so beiläufig geklungen, wie sie sollte. So machte sie Bremer endgültig klar, daß sie sehr viel mehr über die ganze Sache wußte, als sie eigentlich konnte.

Bremer schwieg. Angela starrte ihn herausfordernd an, aber Bremer schwieg beharrlich weiter. Es blieb dabei: Er wollte sie nicht mit in die Sache hineinziehen - für seinen Geschmack steckte sie schon viel zu tief drin -, aber der hauptsächliche Grund für seine momentane Schweigsamkeit war ein durch und durch alberner: Er wußte nicht, wie er sie ansprechen sollte. Bremer hatte sich stets schwer damit getan, Menschen zu duzen, und andere ihn duzen zu lassen; nicht aus Überheblichkeit oder gar Arroganz - beides traf in keinster Weise auf ihn zu -, sondern weil das förmliche Sie ihm immer noch eine gewisse Distanz zu seinem Gegenüber verschaffte, die für ihn sehr wichtig war. Bremer war alles andere als kontaktscheu. Er mochte Menschen, und er liebte es, in Gesellschaft ganze Nächte durchzureden oder auch einfach nur herumzualbern. Trotzdem hatte er eine genau definierte Fluchtdistanz festgelegt, die niemand unterschreiten durfte, weder körperlich noch mit Worten, ohne daß er in Panik geriet. Angela mit ihrer schon fast aufdringlichkumpelhaften Art hatte diese Fluchtdistanz eindeutig unterschritten, aber er wußte nicht, wie er es ihr beibringen sollte, ohne sich lächerlich zu machen. Nicht nach dem, was sie gerade gemeinsam erlebt hatten. Also zog er es vor, gar nichts zu sagen.

»Also gut«, sagte sie, als das Schweigen weiter anhielt und ihr klar wurde, daß er es von sich aus auch nicht brechen würde; wenn auch bestimmt nicht, warum. »Dann fange ich eben an. Irgendeiner muß den ersten Schritt machen. Ich weiß, daß...«

»Nein«, unterbrach sie Bremer.

Angela blinzelte. »Nein? Aber du weißt doch noch gar nicht, was ich sagen wollte.«

»Das ist auch überhaupt nicht nötig«, sagte Bremer. »Diese ganze Geschichte geht nur mich etwas an, und im Grunde nicht einmal das. Nur, daß mich leider niemand gefragt hat.«

»Genauso wenig wie mich«, antwortete Angela. Sie klang ein bißchen verärgert, aber Bremer war nicht sicher, ob dieser Eindruck echt oder beabsichtigt war, um Punkte zu sammeln. »Mich nicht mit hineinziehen zu wollen, ist ja vielleicht eine noble Idee, aber sie kommt ein bißchen zu spät. Ich stecke nämlich schon drin. Ich hätte nur gerne gewußt, worin eigentlich. Ich dachte, Sendig und seine ganze Bagage wären damals endgültig aus dem Verkehr gezogen worden.« Jetzt war Bremer an der Reihe, ehrlich überrascht zu sein.

»Wie?«

»Ich sagte doch, daß ich damit anfange, mit offenen Karten zu spielen.« Angela gab sich keine besondere Mühe, ihren Triumph zu verhehlen. »Ich weiß nicht alles, aber doch so ziemlich alles über die Geschichte von damals. Und bevor du fragst: Es ist kein Zufall, daß Nördlinger mich dir zugeteilt hat. Ich habe dafür gesorgt.«

»Wieso?«

»Weil du mich fasziniert hast.« Angela lächelte. »Nicht du. Deine Geschichte. Das, was damals passiert ist. Ich weiß fast alles darüber.«

»Diese Informationen sind streng geheim«, sagte Bremer. Das war untertrieben. Selbst Nördlinger wußte nicht, was damals wirklich geschehen war. Es ging ihn auch nichts an.

Angelas Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. »Ein Hoch auf die moderne Technik«, sagte sie. »Gottlob gehen selbst die Behörden manchmal mit der Zeit. Alles, was über die Geschichte damals bekannt ist, ist in der einen oder anderen Datenbank gespeichert. Und es gibt fast keinen Computer, der mir widerstehen kann. Ich gebe zu, ich habe ein bißchen Datenklau betrieben.«

»Das ist strafbar«, sagte Bremer.

»Leute gegen ihren Willen als Versuchskaninchen zu benutzen auch«, sagte Angela achselzuckend. »Und sie umzubringen erst recht. Du kannst mich ja anzeigen, wenn du willst.«

Bremer schwieg ein paar Sekunden. Dann sagte er, sehr leise und sehr ernst: »Vielleicht sollte ich das tun. Eine Gefängniszelle ist im Moment wahrscheinlich ein sehr viel sichererer Ort als meine Nähe.«

Angela wollte antworten, aber in diesem Moment trat der Wirt an ihren Tisch und sagte: »Feierabend, Leute, Sperrstunde.« Angela seufzte, griff in die Tasche, zog ihren Dienstausweis hervor und reichte ihn dem Wirt. »Nicht für uns.« Der Mann nahm den Ausweis entgegen, begutachtete ihn ausgiebig und unterzog seine Besitzerin anschließend einer noch ausgiebigeren Inspektion, bevor er ihn zurückgab.

»Das ist wirklich beeindruckend«, sagte er, »aber es bleibt dabei. Ich mache Schluß.« Angela wollte auffahren, doch diesmal war Bremer schneller.

»Schon gut«, sagte er. »Sie ist neu und kennt die Spielregeln noch nicht. Bringen Sie uns noch zwei Kaffee, und wir räumen friedlich das Feld, einverstanden?« Der Mann sah ganz und gar nicht einverstanden aus, aber die Art, auf die Bremer das Wort friedlich ausgesprochen hatte, schien ihn wohl überzeugt zu haben, daß es besser war, nicht herauszufinden, was im anderen Fall geschehen würde.

»Also gut«, brummelte er. »Ich muß noch Kasse machen. Das dauert zehn Minuten. Aber danach verschwindet ihr.« Er ging. Angela blickte ihm zornig nach und wandte sich dann mit nicht weniger verärgertem Gesicht an Bremer.

»Vielen Dank für die Anfängerin.«

»Das hat er sowieso gemerkt«, sagte Bremer. »Niemand benimmt sich so, außer vielleicht im Fernsehen. Bringt man euch auf der Polizeischule heutzutage nicht mehr bei, daß man seinen Dienstausweis nicht benutzt, um Leute einzuschüchtern?«

»Mein Hauptfach war Informatik«, sagte Angela ärgerlich.

»Ich dachte, Öffentlichkeitsarbeit?«

»Das eine funktioniert nicht ohne das andere«, antwortete Angela. »Lenk nicht ab. Wir waren bei der Azrael-Geschichte. Ich dachte, nach Sillmanns Tod hätte der Spuk ein Ende gehabt. Jedenfalls steht es so im Computer.«

»Das dachte ich auch, bis vor ein paar Stunden«, sagte Bremer. »Verdammt, ich weiß nicht, was los ist! Mark Sillmann war das letzte, in dessen Blut dieses Scheißzeug war. Nach seinem Tod hätte es aufhören müssen.«

»Azrael«, erklärte Angela, »ist die Abkürzung von Amphetamin Z 7 Reciprocal Ascarin Ethylmescalin Lophophinderivat.« Bremer war ein wenig überrascht, wie leicht ihr dieses komplizierte Wortungeheuer von den Lippen ging, und Angela grinste erneut. »Ich habe meine Hausaufgaben gemacht«, sagte sie. »Die Datenbanken des BKA sind wirklich sehr ergiebig.«

»Aber offenbar nicht unbedingt auf dem letzten Stand«, fügte Bremer hinzu. »Jedenfalls nicht, wenn die Kerle von vorhin wirklich die sind, für die ich sie halte.«

»Wofür hältst du sie denn?« wollte Angela wissen.

Statt zu antworten, reagierte Bremer mit einer Gegenfrage: »Was sagt der Computer, wer sie sind?«

»Aber Herr Bremer!« Angela drohte ihm spöttisch mit dem Finger. »Ich muß mich doch sehr wundern! Diese Informationen sind streng geheim. Allein diese Frage zu stellen, ist schon illegal. Sie wollen mich doch nicht etwa zu einer Straftat anstiften?« Bremer schwieg, und nach ein paar Augenblicken erlosch Angelas Grinsen. Sie zuckte mit den Schultern. »In diese Dateien konnte ich nicht eindringen.«

»Ach? Und ich dachte, es gäbe keinen Computer, der der Königin der Hacker standhält.«

»Ich hätte ihn knacken können«, antwortete Angela beleidigt. »Aber ich war nicht ganz sicher, daß ich keine Spuren hinterlassen würde. Das Risiko wollte ich nicht eingehen.« Der Wirt kam und brachte den bestellten Kaffee. Sie schwiegen, bis er wieder außer Hörweite war, dann fuhr Angela fort: »Eins habe ich nicht verstanden... Wieso ein Engel?«

»Es war nicht irgendein Engel«, antwortete Bremer. »Azrael war der Todesengel des alten Testaments. Der himmlische Sendbote, der geschickt wurde, um Dinge zu Ende zu bringen. Marc hat ein Bild dieses Engels in einer alten Bibel gesehen, als er ein Kind war. Später, unter dem Einfluß der Droge, hat sein Unterbewußtsein dann genau dieses Bild heraufbeschworen. So einfach war das.«

»Einfach?« Angela nippte an ihrem Kaffee und schüttelte sich. »Es klingt eher fantastisch. Im Sinne von wenig glaubwürdig.«

»Ich würde es auch nicht glauben«, bestätigte Bremer. »Aber ich habe es selbst gesehen. Ich bin kein Wissenschaftler. Ich verstehe nicht einmal etwas von Drogen. Soweit ich die Sache damals verstanden habe, bewirkte die Azrael-Droge eine Art kollektiver Halluzination.«

»Das heißt, eine ganze Gruppe nimmt gemeinsam die Droge...«

»...und erlebt den gleichen Trip, ja«, bestätigte Bremer. »Das war jedenfalls die Grundidee. Was Sillmann und Löbach nicht ahnten, das war, daß ihr kleiner Drogencocktail noch viel weiter ging. Offensichtlich verursachte er nicht nur eine Kollektivhalluzination, sondern sorgte auch für eine Art telepathischer Verbindung zwischen allen Teilnehmern des Trips, wobei die stärkste Persönlichkeit sozusagen die Führung übernahm.«

»Sillmanns Sohn.«

»Marc, ja.« Bremer trank ebenfalls einen Schluck Kaffee und kam zu dem Schluß, daß Angelas Schütteln gerade nicht auf seine Worte zurückzuführen war, sondern auf das Gebräu, das der Wirt ihnen gebracht hatte. Der Kaffee war nur noch lauwarm und schmeckte, als hätte er mindestens zwei oder drei Stunden auf der Warmhalteplatte gestanden. Er stellte ihn zurück, ohne mehr als ein paar Tropfen getrunken zu haben. »Er konnte nicht wissen, daß der Junge ein ausgewachsener Psychopath war.«

»Marc Sillmann? Der Computer sagt etwas anderes.«

»Der Computer war nicht dabei«, antwortete Bremer heftig. Er spürte die Gefahr, in die er sich selbst hineinmanövrierte. Seine Worte beschworen Bilder und Erinnerungen herauf, die besser da bleiben sollten, wo sie waren. Er hatte sich nicht umsonst jahrelang große Mühe gegeben, jene schrecklichen Stunden zu vergessen. Aber er spürte auch zugleich, daß er jetzt gar nicht mehr aufhören konnte. Einmal geweckt, begann seine Erinnerung rasch ein Eigenleben zu entwickeln, gegen das er machtlos war. »Der arme Junge konnte wahrscheinlich gar nichts dafür. Sein Vater hat zuerst seine Mutter ins Irrenhaus gebracht und dann seinen eigenen Sohn als Versuchskaninchen mißbraucht. Die Sache konnte nicht gutgehen. Marcs ... Halluzination hat erst alle anderen umgebracht und am Schluß ihn selbst.«

»Und wenn es mehr war als nur eine Halluzination?« Bremer sah sie einen Moment lang verständnislos an. Es war mehr gewesen als eine Halluzination. Er hatte das Ding gesehen, das die Droge ins Marcs Blut hatte entstehen lassen. Trotzdem schüttelte er nach einigen Augenblicken den Kopf und griff wieder nach seiner Kaffeetasse. Allerdings nicht, um zu trinken, sondern nur, um etwas zu haben, womit er seine Hände beschäftigen konnte.

»Es ist vorbei«, sagte er. »Sillmann hat die Formel für die Herstellung der Droge vernichtet, und sein Sohn war der letzte, der sie in sich trug.«

»Ich hatte nicht den Eindruck, daß es vorbei ist«, sagte Angela. »Jedenfalls nicht vor einer halben Stunde.«

Bremer schüttelte beharrlich den Kopf. »Das war kein Engel« sagte er. »Es war ein...« Ein Dämon? Der Gedanke kam ihm so grotesk vor, daß er es nicht wagte, das Wort auch nur laut auszusprechen. Er war auch nicht sicher, ob er das ... Ding, das er gesehen hatte, richtig beschrieben hatte. Er hatte es ja auch nur für den Bruchteil einer Sekunde wirklich gesehen: Ein riesiges, groteskes Geschöpf mit Krallen und Zähnen und gewaltigen zerfetzten Schwingen wie die ledrigen Flügel einer riesigen Fledermaus. Er wußte nicht, was er gesehen hatte. Im Grunde wußte er nicht einmal, ob er überhaupt etwas gesehen hatte.

»So oder so, es kann kein Zufall sein«, sagte Angela kopfschüttelnd. »Dafür sind sich die Ereignisse zu ähnlich.«

»Ähnlich?« krächzte Bremer. Angela nickte heftig. »Damals begann es mit diesem Artner, nicht wahr? Ein Arzt, der ein sexuelles Verhältnis zu einer seiner Patientinnen unterhielt. Ein Journalist, der Informationen gefälscht und Leute erpreßt hat. Der Arzt, der Sillmann geholfen hat, seine Frau in die Klapsmühle zu bringen...« Sie schüttelte ein paarmal den Kopf. »Das klingt nach biblischer Gerechtigkeit. Vielleicht auf eine ziemlich naive Art, aber trotzdem... Jemand hat den Racheengel geschickt. Und jetzt Belozky, Lachmann, Halbach und Rosen. Er ist wieder unterwegs.« Ihre Worte waren von einer so simplen und zugleich zwingenden Logik, daß er sich selbst lächerlich dabei vorkam, zu widersprechen. Trotzdem tat er es.

»Es ist unmöglich. Marc Sillmann ist tot. Ich war dabei, als er starb. Und die Azrael-Formel wurde vernichtet.«

»Was einmal entwickelt worden ist, kann auch ein zweites Mal entwickelt werden«, beharrte Angela. »Und was den Tod angeht...« Sie legte den Kopf schräg. »Warst du das nicht auch? Klinisch tot, meine ich?«

»Und?« Bremer machte eine wegwerfende Geste. »So etwas kommt alle Naselang vor. Die Ärzte holen andauernd Leute zurück ins Leben, die klinisch tot sind.« Das war die Übertreibung des Tages. Menschen, die nicht nur im Koma lagen, sondern tatsächlich klinisch tot waren, holte man nicht nach drei Tagen so einfach zurück. Nach allem, was er wußte, lag der Weltrekord bei etwas über einer Stunde, und alle außer ihm, die länger als zwanzig Minuten lang weg gewesen waren, waren als sabbernde Wracks wieder aufgewacht, atmende, essende und verdauende Fleischklumpen mit dem Intelligenzquotienten einer Bratkartoffel. Die man besser da gelassen hätte, wo sie waren. Trotzdem würde man seinen Fall vergebens im Guinness-Buch der Rekorde suchen.

»Du hast drei Kugeln aus einer Maschinenpistole abbekommen«, fuhr Angela fort. »Die Ärzte müssen mehr als ein Wunder vollbracht haben.«

»Der BKA-Computer ist wirklich nicht auf dem neuesten Stand«, antwortete Bremer. »Es waren fünf. Und ich habe persönlich schon Leute gesehen, die schlimmer zugerichtet waren und durchgekommen sind. Der menschliche Körper ist eine seltsame Maschine. Manchmal reicht eine Kleinigkeit, um sie anzuhalten, aber manchmal ist sie auch unglaublich zäh.«

»Wie ist das?« fragte Angela geradeheraus. »Tot zu sein?«

»Was ist denn das für eine Frage?«

»Wahrscheinlich die einzige, die sich jeder Mensch auf der Welt schon einmal gestellt hat«, antwortete Angela. In ihre Augen trat ein Ausdruck, der Bremer nicht gefiel. »Und jetzt sag nicht, du hättest es nicht auch getan. Vorher, meine ich.« Das Gespräch begann sich immer mehr in eine Richtung zu verschieben, die ihm nicht behagte. Trotzdem antwortete er.

»Natürlich habe ich das. Aber ich kann leider nicht mit einer Antwort auf die Frage nach der himmlischen Glückseligkeit dienen. Ich erinnere mich an nichts. Ich wurde angeschossen, verlor das Bewußtsein und wurde im Krankenhaus wieder wach, und das war alles.« Womit die Abteilung Lügen- und Fantasiegeschichten endgültig eröffnet war. Er hätte eine Menge darüber erzählen können, was danach kam, aber er wollte es nicht. Mit manchen Erinnerungen wurde man vielleicht fertig, wenn man sich ihnen stellte, aber manche ließ man besser, wo sie waren.

»Das ist ... schade«, sagte Angela. Sie klang ehrlich enttäuscht. »Ich dachte, ich könnte auf diese Weise vielleicht mehr darüber erfahren. Aus erster Hand, sozusagen.«

»Das kommt schon noch früh genug«, murmelte Bremer. »Ich für meinen Teil weiß noch viel zu wenig über das Leben, um mich für den Tod zu interessieren.«

»Wie philosophisch«, parierte Angela spöttisch. »Von wem ist dieser Satz?«

»Von mir«, antwortete Bremer. »Und jetzt schlage ich vor, daß wir das Thema wechseln.« Er wies mit einer Kopfbewegung zur Theke. »Und vor allem das Lokal. Der Wirt hat mir zu große Ohren.«

»Gute Idee«, sagte Angela. »Gehen wir zu dir oder zu mir?«

»Bitte nicht«, seufzte Bremer. »Ich bin wirklich nicht in der Stimmung für solche Scherze.«

»Wer sagt, daß ich scherze?« fragte Angela. »Wir haben wirklich ein Problem. Wir können nicht in deine Wohnung. Selbst wenn es dort noch nicht von unseren Freunden wimmelt, beobachten sie garantiert den ganzen Block. Und dasselbe gilt wahrscheinlich für meine Wohnung. Vorausgesetzt, sie haben mich erkannt - aber wir gehen besser davon aus, daß sie es haben. Hast du irgendwelche Freunde, zu denen wir könnten?« Bremer schüttelte den Kopf. Er hatte eine Anzahl Bekannter, aber niemanden, den er wirklich als Freund bezeichnet hätte. Und hätte es einen solchen gegeben, hätte er den Teufel getan, und ihn in diese Geschichte hineingezogen.

»Kollegen?«

Darauf antwortete er gar nicht.

Angela seufzte. »Dann bleibt uns nur ein Hotel. Ich bin erst seit ein paar Tagen in der Stadt. Ich kenne hier noch niemanden.« Sie lachte. »Ist das nicht komisch? Noch vor ein paar Stunden wolltest du mich auf der Stelle zum Teufel jagen. Und jetzt verbringen wir schon unsere erste Nacht zusammen im Hotel.«

»Nein«, antwortete Bremer betont, »das ist nicht komisch Und wir werden es auch nicht tun. Ich verbringe die Nacht in einem Hotel (Er hatte nicht vor, das zu tun, aber je weniger sie wußte, desto sicherer war sie vermutlich), und du fährst nach Hause. Oder sonstwohin. Das hier geht nur mich etwas an.«

»Beeindruckend«, sagte Angela. »Dabei gibt es nur ein Problem: Ich habe die Autoschlüssel. Und ich verleihe meinen Wagen prinzipiell nicht.«

»Es gibt fünftausend Taxen in Berlin«, antwortete Bremer und stand auf. »Mit ein bißchen Glück werde ich vielleicht eine davon ergattern.«

»Aber...«

»Nichts aber.« Bremer hatte die Stimme weit genug erhoben, daß sowohl der Wirt als auch die beiden Gäste an der Theke, die trotz der angeblichen Sperrstunde noch dasaßen, und ihr Bier tranken, die Köpfe hoben und zu ihnen herübersahen. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Frau West. Aber alles, was jetzt noch kommt, erledige ich besser allein.«

»Frau West?« Angela klang verletzt, und genau das sollte sie auch, gerade weil sie ihm nicht gleichgültig war. Ihre Worte hatten eine viel nachhaltigere Wirkung auf ihn ausgeübt, als ihr selbst klar sein mochte. So unterschiedlich die Voraussetzungen auch waren, die Ereignisse von damals und die von heute ähnelten sich in einem ganz bestimmten Punkt zu sehr, um es als bloßen Zufall abzutun. Es hatte wieder angefangen. Vor fünf Jahren hatte es mit dem Tod beinahe aller Beteiligten geendet, und allein das war mehr als Grund genug für ihn, sich von ihr zu trennen. »Das ist ... ein bißchen billig«, murmelte Angela, als er nicht antwortete.

Bremer zuckte mit den Schultern. »So bin ich nun einmal«, sagte er grob.

Bevor sie die Gelegenheit fand, etwas zu erwidern, drehte er sich um und ging.

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