39


Der Sarkophag war zweieinhalb Meter lang, einen Meter breit und bestand aus einem Material, das wie Chromstahl ausgesehen hätte, wäre es nicht vollkommen schwarz gewesen. Trotz seiner eigentlich schlanken Form wirkte er äußerst massiv; man sah ihm irgendwie an, daß es nicht viel gab, was dieses Gebilde ernsthaft beschädigen konnte, und vielleicht nichts, was in der Lage wäre, es wirklich zu zerstören.

Bremer trat mit klopfendem Herzen näher. Es war ein Sarkophag, das wußte er. Das Gebilde ähnelte tatsächlich jenen Särgen, die man in den Gräbern altägyptischer Könige gefunden hatte, war aber sehr viel schlichter. Das Material, aus dem es bestand, schien das darauf fallende Licht zu schlucken, und als Bremer vorsichtig die Hand ausstreckte und es berührte, spürte er, wie kühl und glatt es sich anfühlte, nicht wie Metall oder Glas, sondern wie eine geheimnisvolle, temperatur- und reibungsfreie Legierung, die vielleicht von einem anderen Planeten stammen mochte. Im oberen Drittel des Sarkophags war eine fünf mal fünf Zentimeter große Taste angebracht, die in einem dunklen, bräunlichen Glanz schimmerte; wenn auch nur so blaß, daß man sehr genau hinsehen mußte, um sie zu erkennen. Bremer streckte die Hand nach dieser Taste aus, zögerte dann aber und sah noch einmal zu Angela herüber. Sie stand mit konzentriertem Gesichtsausdruck vor dem Computer. Ihre Lippen bewegten sich, fast als würde sie mit dem Gerät reden. Es war besser, wenn er sie nicht störte. Außerdem war er nicht einmal sicher, ob er wollte, daß sie herkam. Dies hier war ganz allein seine Sache.

Wieder streckte er die Hand aus, und wieder zögerte er. Er glaubte ein Wispern zu hören, als unterhielten sich lautlose Stimmen in den Schatten, und als er den Blick hob, da meinte er für einen ganz kurzen Moment tatsächlich eine huschende Bewegung zu erkennen, gerade außerhalb des Bereiches, in dem er wirklich scharf sehen konnte.

War es die Kreatur, die gekommen war, um ihren Herrn zu beschützen?

Nein. Wäre sie es, dann wäre er jetzt schon nicht mehr am Leben. Was immer die Aufgabe des Dämons war, den Haymar erschaffen hatte, sie bestand nicht darin, ihn zu töten. Dazu hätte sie ein dutzendmal Gelegenheit gehabt. Vielleicht war es genau umgekehrt. Vielleicht hatte ihre Aufgabe nur darin bestanden, ihn hier herunter zu bringen, damit er die arme, leidende Seele in dem schwarzen Sarkophag endlich erlösen konnte.

Bremer streckte mit einem Ruck den Arm aus und drückte die Taste.

Ein leises Klicken erscholl. Einige Sekunden herrschte Stille, dann hörte Bremer ein dunkles, allmählich lauter werdendes Summen, und im gerade noch so fugenlos erscheinenden Metall erschien ein haarfeiner Riß, der das obere Drittel des Sarkophags in zwei symmetrische Hälften teilte, die langsam auseinanderglitten. Zischend entwich eiskalter, nach einem scharfen Desinfektionsmittel riechender Dampf aus dem Behälter, und unter der Decke des Raumes begann eine rote Warnleuchte zu blinken.

Bremer wich einen Schritt zurück und sah automatisch wieder zu Angela hoch, konnte sie aber durch die immer dichter werdenden Dampfschwaden nicht erkennen. Zu dem flackernden roten Licht gesellte sich jetzt noch ein mißtönendes Hupen. Offensichtlich war in den Computerprogrammen, die den lebenden Leichnam in dem Sarkophag bewachten, nicht vorgesehen, daß jemand die Glaswand der Isolierkammer einschlug und dann den Sarg öffnete. Bremer wartete, bis der Strom aus eisigem Dampf allmählich schwächer wurde, und trat dann mit klopfendem Herzen an den offenstehenden Sarkophag heran. Über dem Behälter lag noch immer eine Schicht aus faserigem grauem Dunst, so daß er im ersten Moment noch immer nicht genau erkennen konnte, was darin lag.

Vielleicht war es auch gut so. Vielleicht hätte er den Anblick sonst nicht ertragen. Und vielleicht ertrug er ihn noch nicht einmal jetzt, obwohl ihn die ganz allmählich auseinandertreibenden grauen Schwaden noch einige wertvolle Sekunden ließen, um sich daran zu gewöhnen.

Das erbarmungswürdige ... Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war, lag auf der golden schimmernden Isolierfolie, mit der das gesamte Innere des Sarkophags ausgekleidet war. Sein Körper war auf die Masse eines Skeletts abgemagert, über das sich graue, an zahllosen Stellen aufgerissene Totenhaut spannte. Bremer schätzte, daß der Mann zu Lebzeiten an die zwei Meter groß und außergewöhnlich kräftig gewesen sein mußte. Jetzt konnte er kaum noch mehr als fünfzig Kilo wiegen. Wenn es ein Mann gewesen war. Sein Geschlecht war praktisch nicht mehr zu erkennen, obwohl seine gesamte Körperbehaarung verschwunden war. Jemand hatte seine linke Hand entfernt. Wo sie gewesen war, mündete jetzt ein Bündel von Schläuchen, dünnen Rohrleitungen und verschiedenfarbigen Kabeln in seinen Armstumpf, ein komplettes Ver- und Entsorgungssystem, mit dem sein Körper überwacht und gegen seinen Willen dazu gezwungen wurde, am Leben zu bleiben.

Den schrecklichsten Anblick aber bot sein Gesicht. Seine Lippen waren zu einem fürchterlichen Totenkopfgrinsen zurückgewichen, das noch grauenhafter wirkte, weil er so gut wie keine Zähne mehr hatte; Bremer konnte bis weit hinter seinen ausgetrockneten, riesigen Kehlkopf sehen. Die Haut, die sich pergamenttrocken über den Schädelknochen spannte, war über Wangen, Schläfen und Nasenbein gerissen, so daß der kranke Knochen zum Vorschein kam. Seine Augen waren entfernt worden. Unter den eingesunkenen Lidern schlängelten sich zwei durchsichtige Plastikschläuche hervor, in denen eine wasserklare Flüssigkeit zirkulierte.

Und das Allerschlimmste war, daß sich die Brust der ausgemergelten Gestalt in einem ganz flachen, langsamen Rhythmus senkte und hob.

Der Mann lebte! Bremer stand mehrere Minuten lang einfach nur da und starrte in den schwarzen Chromsarg hinab. Er wußte nicht, was er in diesem endlosen Augenblick empfand: Schmerz, Wut, und eine so große, vollkommene Erschütterung, daß Worte nicht mehr ausreichten, um sie zu beschreiben. Er hatte diesen Mann gekannt. Sie waren keine Freunde gewesen, oh nein, ganz gewiß nicht. Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen vor gut fünf Jahren hatten sie mehrmals versucht, einander umzubringen, und keiner von beiden hätte auch nur einen Sekundenbruchteil gezögert, es auch zu tun. Aber kein Mensch, ganz egal, was er getan hatte, kein Mensch hatte ein solches Schicksal verdient. Und es war das gleiche Schicksal, das Braun ihm zugedacht hatte.

Bremer stöhnte. Seine Hände öffneten und schlossen sich ununterbrochen, ohne daß er es auch nur merkte, und die Wunde in seiner Schulter brach wieder auf und begann zu bluten. Einige einzelne rote Tropfen liefen an seinem Arm hinab und fielen auf Haymars Gesicht herab. Es sah aus, als hätte er blutige Tränen geweint.

Er mußte diese arme, geschundene Kreatur erlösen. Bremer hatte nicht den Mut, die Hände um den Hals des Mannes zu legen und zuzudrücken, was wahrscheinlich die barmherzigste Lösung gewesen wäre, und er wußte auch noch viel weniger, wie man die Maschinen abschaltete, die diesen lebenden Leichnam zwangen, zu atmen und Pein zu ertragen, aber er konnte etwas anderes tun.

Er beugte sich vor, griff nach dem Bündel von Schläuchen und Leitungen, das sich aus Haymars Armstumpf ringelte, und begann einen nach dem anderen zu lösen. Blut und andere, hellere Körperflüssigkeiten tropften auf die goldene Isolierfolie herab, und vielleicht fügte er Haymar auf diese Weise noch größere Schmerzen zu, aber wenn, dann waren sie nur von kurzer Dauer. Sobald er die Verbindung zwischen Mensch und Maschine getrennt hatte, würde der geschundene Körper endgültig aufhören zu funktionieren.

Als er die Hälfte der Kabel- und Schlauchverbindungen gelöst hatte, erschien der Schatten hinter ihm.

Bremer wußte, was er sehen würde, noch bevor er sich herumdrehte und dem Blick der faustgroßen Insektenaugen begegnete, die aus mehr als zwei Metern Höhe auf ihn herabstarrten.

Er las keine Feindseligkeit darin. Da war kein Haß. Keine Wut. Kein Versprechen auf Tod. Sie waren niemals darin gewesen.

Während er dastand und den zwei Meter hohen, geflügelten Koloß anstarrte, begriff er endgültig, wie sehr er sich getäuscht hatte.

Dieses Geschöpf war niemals sein Feind gewesen. Es hatte niemals seinen Tod gewollt. Ganz im Gegenteil: Es hatte ihn beschützt, vom ersten Moment an. Selbst dieser Gedanke erschreckte ihn. Die Vorstellung, einen solchen Verbündeten zu haben, war fast mehr, als er ertragen konnte.

Hinter ihm erklang ein gedämpftes Seufzen, gefolgt von einem halblauten, sonderbar weichen Aufprall.

Bremer fuhr herum. Sein erster Blick galt Angela, aber sie war nicht mehr da. Der Platz hinter dem Computer war leer. Dann sah er zu Braun hin.

Und auch er war nicht mehr da. Eine breite, glitzernde Blutspur führte von der Stelle aus, an der er gelegen hatte, zurück ins Labor und verschwand zwischen den Computerpulten, und noch bevor Bremer wirklich begriff, was er da sah, geschahen zwei Dinge praktisch gleichzeitig: Braun richtete sich hinter dem Computerpult auf, hinter dem Angela vor wenigen Minuten gestanden hatte, und der Dämon stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte an Bremer vorbei. Nur den Bruchteil einer Sekunde darauf, prallte er gegen Braun, riß ihn mit sich und schmetterte ihn mit unvorstellbarer Wucht gegen die Tür.

Bremer rannte los, flankte mit einem einzigen Schritt über die Reste der zerbrochenen Scheibe und den blutüberströmten Leichnam dahinter und war mit zwei, drei Schritten hinter dem Pult, hinter dem er Angela das letztemal gesehen hatte. Dabei streifte sein Blick die rote Digitalanzeige auf dem Monitor. Der Countdown war bei 01:07:01 stehengeblieben.

Er erwartete, Angela tot oder schwer verletzt am Boden zu finden, aber sie war nicht da. Bremer fuhr herum, hetzte auf die andere Seite des Tisches, fand sie aber auch dort nicht. Hinter ihm schrie der Dämon, und auch Braun brüllte. Er hörte Schläge, ein fürchterliches Reißen und Splittern, das Geräusch zerbrechender Knochen und splitternden Chitins, sah sich aber nicht einmal nach den Kämpfenden um. Er gönnte Braun jede einzelne Sekunde, die er noch lebte.

Statt dessen flankte er über das Pult und suchte verzweifelt nach Angela. Er fand sie nicht, fuhr abermals herum und blickte hinter jedes Pult, jeden Schreibtisch, aber sie war nicht mehr da.

Hinter ihm erklang ein gellendes, schmerzerfülltes Kreischen, und als Bremer herumfuhr, bot sich ihm ein ganz und gar unglaubliches Bild: Braun und das Ungeheuer rangen mit verzweifelter Kraft miteinander. Die Bestie hatte Braun eine ganze Anzahl grauenhafter Verletzungen zugefügt, von denen jede einzelne hätte tödlich sein müssen, aber der Mann stand seinem höllischen Gegner in Nichts nach. Auch das Ungeheuer wankte. Einer seiner riesigen Flügel war gebrochen und hing nutzlos herab, und sein stahlharter Chitinpanzer war an zahlreichen Stellen unter Brauns Fausthieben gesplittert und geborsten. Die beiden Gegner waren sich nicht wirklich ebenbürtig: Der Mensch würde den Kampf verlieren, das sah Bremer. Aber nur knapp.

Und das war ganz und gar unmöglich. Bremer taumelte fassungslos zurück, prallte gegen ein Instrumentenpult und spürte, wie sein Fuß gegen etwas stieß, das klirrend davonrollte. Er senkte den Blick, sah etwas kleines, Schimmerndes und hob es auf.

Es war eine Spritze. Die Injektionsnadel war nur drei oder vier Zentimeter lang und verbogen, als wäre sie mit großer Kraft in etwas hineingestoßen worden, und in der kleinen Glasphiole in ihrem Inneren glitzerten noch einige Tropfen einer hellen Flüssigkeit.

Bremer wurde klar, was Braun getan hatte. Langsam hob er den Blick und sah zu Braun und dem Dämon hinüber. Braun lag am Boden, der Kampf war so gut wie vorbei, aber auch der geflügelte Koloß taumelte. Braun hatte ihn furchtbar verletzt. Hätte er sterben können, hätte auch er den Kampf nicht überlebt.

Er spürte, wie etwas hinter ihm materialisierte, drehte sich herum, und Angela stand hinter ihm. Braun erkannte sie sofort und ohne den geringsten Zweifel wieder, obwohl das Geschöpf, dem er gegenüberstand, ihr nicht einmal ähnelte.

Es war über zwei Meter groß, strahlendweiß und schien unter einem sanften, inneren Licht zu erglühen. Seine Züge waren die eines Menschen, zugleich aber auch mehr, unendlich viel mehr. Bremer konnte nicht sagen, ob es Mann oder Frau war, Kind oder alt; es wirkte alterslos, nein, mehr: Zeitlos, unbefangenes Kind und uraltes abgeklärtes Wesen zugleich. Sein langes, weißes Haar fiel bis weit über den Rücken herab, und seine gewaltigen Schwingen standen denen des Dämons um nichts nach, waren aber vom gleichen, von innen heraus leuchtenden Weiß wie sein Körper.

»Angela, wie?« fragte Bremer leise. »Ich wußte, daß es ein Witz war.«

»Aber ein guter, das mußt du zugeben«, antwortete er/sie/es. »Immerhin bist du darauf hereingefallen.«

»Warum ... hast du es mir nicht gesagt?« fragte Bremer.

»Ich war gespannt darauf, wie lange du brauchst, bis du von selbst darauf kommst«, antwortete der Engel. »Eigentlich warst du ganz gut - für einen Menschen.«

Bremer war ein wenig irritiert. Schließlich stand er einem Engel gegenüber. Er hätte erwartet, daß ein solches Wesen vollkommen anders war, friedfertiger, durchgeistigter ... und vor allem und auf keinen Fall so kriegerisch. Andererseits - was hätte er erwarten können? Schließlich hatte er dieses Wesen erschaffen. In einem gewissen Sinne.

»Kein Wunder, daß ich mich in dich verliebt habe«, murmelte er. »Ich wußte gar nicht, daß ich so narzißtisch veranlagt bin.«

Der Engel legte den Kopf auf die Seite und sah ihn an. Er schwieg, aber in seinen uralten, weisen Augen glomm ein sanftes Lächeln auf.

Bremer hatte plötzlich das intensive Bedürfnis, ihn zu berühren, aber zugleich wagte er es auch nicht. Er wußte, daß er sterben würde, wenn er es täte. »Haben wir euch erschaffen?« fragte er zögernd. »Haymar und ich?«

»Erschaffen?« Der Engel schwieg einen Moment, als müsse er erst über den Sinn dieser Frage nachdenken, bevor er imstande war, sie zu beantworten. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Nur einer ist imstande, Leben zu erschaffen. Ihr seid nur dazu fähig, es zu zerstören. Obwohl ich zugeben muß, daß ihr gut darin seid.«

»Aber wie...?«

»Manche von euch sind in der Lage, uns zu rufen«, unterbrach ihn der Engel, bevor er seine Frage zu Ende formulieren konnte. »Manche kraft der Reinheit ihres Geistes - wenn du diesen hochtrabenden Ausdruck entschuldigst, aber mir fällt im Moment kein passender ein - manche auf ... anderem Wege.«

Einige Sekunden vergingen, bis Bremer begriff, was das Geschöpf gerade gesagt hatte. »Dann ... dann bist du ein wirklicher Engel?« keuchte er.

»In dem Sinne, in dem ihr das Wort benutzt ... ja«, antwortete die Lichtgestalt. »Aber es ist viel komplizierter, als du denkst. Und zugleich einfacher.«

»Wer bist du?« fragte Bremer. Er fühlte sich wie erschlagen.

»Mein Name ist Azrael«, antwortete der Engel. »Aber das weißt du doch.«

»Azrael?« krächzte Bremer. Ein noch schwacher, aber durch und durch grauenhafter Verdacht begann in ihm aufzukeimen, aber der Gedanke war so furchterregend, daß er ihn hastig erstickte, bevor er vollends Gestalt annehmen konnte. »Der ... der Todesengel?«

»Das ist meine Aufgabe«, bestätigte die Lichtgestalt. »Wir sind Gottes Krieger. Das waren wir immer. Nur habt ihr irgendwann beschlossen, das zu vergessen.«

»Aber ... aber ich dachte...«, stammelte Bremer. Er drehte sich hilflos herum und deutete auf den spinnenköpfigen Dämon. Der geflügelte Todesbringer war neben seinem Opfer auf die Knie gesunken und wimmerte leise. »Ich dachte, daß er es ist!«

»Auch er ist Azrael«, sagte der Engel. »Ich bin immer das, was ihr in mir sehen wollt.« Er deutete auf den Dämon. »Für dich bin ich er. Für einen anderen bin ich das, was du siehst.«

»Er ist mein Abbild?« Bremer starrte den Dämon an. Seinen höllischen Schutzengel. »Er?!«

Azrael nickte. Er/sie/es schwieg. Ein Ausdruck sanfter Trauer erschien in den unergründlichen Augen des Wesens.

Und Bremer stieß einen lautlosen, gedanklichen Schrei aus. Es war zu viel, um es zu ertragen. Zu viel. Zu viel!

»Er war immer dein Geschöpf«, fuhr Azrael erbarmungslos fort. »Du hast dich entschieden, ihn zu rufen, und er hat getan, was du von ihm verlangt hast. Dein Wille geschehe - Mensch.«

»Dann habe ich sie getötet«, murmelte Bremer. »Rosen. Strelowsky. Halbach. Lachmann.«

»Und all die anderen«, bestätigte Azrael. Das Lächeln in den Augen des Lichtgeschöpfes war erloschen und hatte einer Härte Platz gemacht, die ebenso gewaltig und grenzenlos war wie die Güte, die er noch vor Sekunden darin gelesen hatte. »Es ist so, wie Vater Thomas gesagt hat: Das ist es, was geschieht, wenn Menschen die Macht bekommen, alles zu tun, was sie wollen. Und am Ende hast du auch ihn getötet.«

»Aber ich wollte das nicht!« wimmerte Bremer. »Ich wollte nicht, daß all diese Menschen sterben!«

»Doch«, antwortete Azrael. »Tief in dir drinnen wolltest du es. Es war dein Wille. Wir waren nur die Vollstrecker.«

»Aber ... aber wenn ich dieses Ding erschaffen habe«, stöhnte Bremer; er starrte den Dämon an, und das Wesen erwiderte seinen Blick aus seinen kalten, grundlosen Augen, »wer hat dann dich gerufen?«

Azrael lächelte wieder. »Für den einen ist der Tod ein Werkzeug«, sagte er/sie/es. »Für den anderen eine lang ersehnte Erlösung. Ich bin nicht nur eine Waffe, weißt du?«

Bremer starrte die Isolierkammer und den jetzt offenstehenden Sarkophag darin an. Er wußte, daß der Engel die Wahrheit sprach, ganz einfach, weil das Wesen ja gar nicht imstande war, zu lügen, und doch kamen ihm seine Worte wie der Gipfel der Ironie vor. Er, ein völlig normaler, allenfalls ein wenig selbstgefälliger, aber im Grunde seines Herzens trotzdem gerechter Mann, hatte dieses Ungeheuer geschaffen, ein ... Ding, von dessen Klauen noch immer das Blut seines letzten Opfers tropfte, und das zum Töten und nur zum Töten und zu nichts anderem gut war, während diese strahlende Lichtgestalt hinter ihm dem Geist eines Menschen entsprungen war, der endlose Ewigkeiten des Martyriums hinter sich hatte. Der nichts anderes mehr wollte, als endlich zu sterben.

»Dann ist es endlich, endlich vorbei«, sagte er leise.

Azrael schüttelte den Kopf. »Es ist nie vorbei.«

Bremer verstand im ersten Moment nicht einmal wirklich, was der Engel meinte. Oder doch. Vielleicht wollte er es nur nicht verstehen. Dann aber blickte er wieder seinen eigenen, teuflischen Cherubim an. Das Geschöpf richtete sich langsam, zitternd und noch unsicher auf. Seine furchtbaren Wunden waren verheilt, aber seine Kraft war noch nicht zur Gänze zurückgekehrt. Der Anblick machte Bremer auf subtile Weise klar, daß auch diese Geschöpfe sterblich waren, auf eine bestimmte Weise. Ihre Kraft war unvorstellbar, aber endlich.

Auch Braun - oder in was auch immer er sich zu verwandeln begonnen hatte - begann sich zu erheben. Sein Fleisch begann dort, wo es von den Klauen und Kiefern des Dämons aufgerissen worden war, zu brodeln und zu zerfließen, wie kunstvoll geformtes Wachs, das zu lange in der Sonne gelegen hatte. Doch nachdem die Wunden sich geschlossen hatten, sah er nicht mehr aus wie vorher. Als er sich wieder aufrichtete, schien er größer geworden zu sein, und zugleich muskulöser, wirkte aber zugleich auch mißgestaltet und verzerrt, als hätte jemand alle Teile seines Körpers genommen und nicht richtig wieder zusammengesetzt und zusätzlich noch etwas hinzugefügt. Der Azrael-Wirkstoff tat auch bei ihm seinen Dienst, genau wie bei Bremer und Haymar. Es waren niemals nur Angelas heilende Hände gewesen, die ihm geholfen hatten, all das zu überleben, was man seinem Körper in den letzten vierundzwanzig Stunden angetan hatte, so wenig, wie es niemals nur die Maschinen gewesen waren, die den Mann in dem offenstehenden schwarzen Sarkophag zwangen, weiter am Leben zu bleiben.

Bremer blickte die Kreatur an, in die Braun sich immer schneller zu verwandeln begann, und fragte sich, ob es überhaupt noch möglich war, sie zu vernichten. Haymar hatte ihm ein furchtbares Geschenk hinterlassen. Braun hatte die Unsterblichkeit bekommen, nach der er sich gesehnt hatte, aber um den Preis seiner Menschlichkeit. Er wagte nicht einmal, sich vorzustellen, welche Art von Ungeheuer er rufen würde, sollten sich seine Fähigkeiten im gleichen Maße entwickeln wie die Haymars und seine eigenen.

»Könnt ihr ... es besiegen?« fragte er. »Was immer er rufen wird?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete der Engel. Seine gewaltigen Flügel raschelten leise. »Es gibt Feinde, die auch wir fürchten.« Er sah Bremer an. »Und du? Kannst du ihn besiegen?« Er deutete auf den Dämon. Das geflügelte Ungeheuer und das, was einmal Braun gewesen war, begannen sich zu umkreisen. Diesmal war der Ausgang des Kampfes vollkommen ungewiß, denn nun waren sich beide Gegner ebenbürtig.

»Wenn du mir hilfst«, murmelte er.

»Das steht nicht in meiner Macht«, antwortete Azrael. Er seufzte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine unerträglich edlen Züge und gaben ihm für einen Moment wieder etwas mehr von einem Menschen. Nicht viel.

Braun und der geflügelte Dämon prallten brüllend aufeinander und tauschten die ersten Hiebe aus.

»Es ist wohl so, wie ihr Menschen sagt«, seufzte Azrael. »Wenn du willst, daß etwas getan werden soll, dann tu es selbst. Entschuldige mich bitte - ich muß meinem Kollegen unter die Arme greifen.« Lautlos und mit schlagenden Flügeln stürzte sich der Todesengel in die Schlacht.

Und während Gottes Krieger und der Diener des Höllenfürsten Seite an Seite antraten, um gegen einen Feind zu kämpfen, den menschlicher Größenwahn und Ignoranz erschaffen hatten, drehte sich Bremer herum, trat an den Computer und lächelte traurig, als sein Blick auf die rotleuchtende Digitalanzeige auf dem Bildschirm fiel. Azrael hatte gesagt, daß er ihm nicht helfen könnte, aber das stimmte nicht.

Er hatte es bereits getan. Der Countdown war bei 00:00:01 stehengeblieben. Engel konnten offensichtlich doch lügen. Bremers Finger senkten sich auf die Taste.

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