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Die letzte halbe Stunde der Nachtwache, fand Schwester Inge, war immer die schwerste. Sie hatte sich vor mehr als drei Jahren freiwillig dazu entschieden, nur noch nachts zu arbeiten, und sie hatte den Entschluß im Grunde nie bedauert - wenn man sich einmal daran gewöhnt hatte, hatte es eine Menge Vorteile -, aber sie bereute es fast jeden Morgen in der Zeit zwischen fünf Uhr dreißig und sechs.

Die Nacht war ziemlich ruhig gewesen. Die meisten Nächte auf der Intensivstation waren sehr ruhig - dafür wurde es um so hektischer, wenn einmal etwas los war. Aber ihre Patienten pflegten im allgemeinen nicht alle paar Minuten nach der Bettpfanne zu klingeln, sich über ein geschlossenes oder offenes Fenster zu beschweren, über das Schnarchen des Bettnachbars oder laute Schritte auf dem Flur, die es gar nicht gab, und sie klingelten sie auch nicht um halb drei heraus, um sich zu erkundigen, was es am nächsten Morgen zum Frühstück gab. Die einzige Störung in dieser Nacht hatte darin bestanden, daß ein neuer Patient eingeliefert worden war, der jetzt in Zimmer 23 im Komma lag und frühestens in zwei oder drei Tagen aufwachen würde, wenn überhaupt. Niemand hatte Schwester Inge gesagt, was dem armen Kerl zugestoßen war. Das war nicht üblich, und es war auch nicht notwendig. Nach fünfzehn Jahren Arbeit im Krankenhaus wußte sie, wenn sie das Opfer eines Verbrechers vor sich hatte. Jemand hatte dem Mann den Schädel eingeschlagen.

Sie sah auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten. Eigentlich hätte ihre Ablösung bereits da sein sollen. Eigentlich. Aber Schwester Bianca kam oft in der letzten Minute (und nur zu oft auch noch später), und sie hatte immer eine gute Ausrede parat. Inge ärgerte das mehr, als ihre Kollegin ahnen mochte. Einer der Unterschiede zwischen der normalen Arbeitszeit und permanenter Nachtschicht war, daß man lernte, mit jeder Minute zu geizen. Schwester Inge war müde und wollte nichts mehr als nach Hause und ins Bett. Sie überlegte einen Moment, ob sie sich noch einen Kaffee kochen sollte, entschied sich aber dann dagegen. Sie hatte in dieser Nacht schon viel zuviel Kaffee getrunken und bereits einen pelzigen Geschmack auf der Zunge. Außerdem trank sie in letzter Zeit prinzipiell zuviel von dem Zeug und schlief dafür um so weniger. Sie mußte ein wenig aufpassen. Schließlich hatte sie keine besondere Lust, eines Tages als ihre eigene Patientin in einem der Zimmer zu landen, die sie von ihrer Glaskabine am Ende des langen Korridors aus überblicken konnte.

Auf einem der kleinen Monochrom-Monitore vor ihr bewegte sich etwas. Schwester Inge blickte hoch und sah rasch den Flur entlang, dann senkte sie ihren Blick wieder auf die Bildschirme, die den Gang, den Bereich vor der Sicherheitstür und in regelmäßig wechselnder Folge die acht Zimmer zeigten, die zu ihrem Reich gehörten. Für einen Moment hatte sie geglaubt, einen Schatten zu sehen, der rasch durch eines der Bilder huschte. Aber es mußte wohl eine Täuschung gewesen sein.

Es konnte gar nichts anderes gewesen sein. Mit Ausnahme des Aufzuges gab es nur eine einzige Tür, die in die Station führte, und die befand sich unmittelbar vor dem Bereitschaftszimmer und ließ sich zudem nur mit dem Schlüssel oder durch einen Druck auf den Türöffner aufmachen, der sich unmittelbar vor ihr befand. Und ihre Schutzbefohlenen gehörten nicht zu der Art von Patienten, die nachts (oder auch tagsüber) herumspazierten, sondern lagen zumeist in ihren Betten und waren gar nicht fähig, sich zu rühren: Opfer von Verkehrsunfällen, Herzinfarkten und Schlaganfällen, arme Schweine wie das, das sie in der vergangenen Nacht eingeliefert hatten oder Krebspatienten, die noch nicht ganz so weit waren, daß ihre liebenden Anverwandten sie in ein Sterbehospiz abschieben konnten... Die Liste der Dinge, die einem Menschen zustoßen konnten, um ihn hierher zu bringen, war ziemlich lang. Und selbst Schwester Inge lernte fast jeden Tag noch etwas dazu. Obwohl sie fast (aber eben nur fast) sicher war, sich getäuscht zu haben, huschten ihre Finger in rascher Folge über die Kontrolltafel der Videoanlage, so daß die Bilder auf den Monitoren wechselten, und unterzog jedes Zimmer einer schnellen, aber gründlichen Kontrolle. Nichts. Sie hatte sich geirrt. Müde fuhr sie sich mit beiden Händen über die Augen und gähnte so herzhaft, daß es in ihren Ohren knackte.

Im nächsten Moment wurde aus dem Knacken ein wütendes Summen, als der Computer neben ihr Alarm schlug. Schwester Inge nahm die Hände herunter und starrte eine Sekunde lang verständnislos auf die große, gelbe 23, die plötzlich auf dem Monitor flackerte. Zimmer 23 - der neue Patient, der vergangene Nacht eingeliefert worden war. Sie hatte es vor kaum einer halben Sekunde kontrolliert.

Trotzdem sprang sie augenblicklich hoch, schaltete noch in der Bewegung das Alarmsummen ab und lief mit schnellen Schritten los.

Danach ging einfach alles so schnell, daß sie zu keinem klaren Gedanken mehr kam. Sie reagierte einfach. Als sie in die Schleuse stürmte, sah sie, daß in dem Zimmer dahinter kein Licht mehr brannte. Trotzdem glaubte sie eine Gestalt zu erkennen, die sich über den Patienten im Bett beugte; einen Schatten, der ihr auf sonderbare Weise falsch erschien, als trüge er einen zu großen Mantel oder eine altmodische Pelerine.

»He!« schrie sie, während sie bereits die Tür aufriß und hindurchstürmte. »Was tun Sie da?!« Schwester Inge sah die Bewegung nicht einmal, mit der der Schatten herumfuhr und nach ihr schlug. Sie wurde halbwegs von den Füßen gerissen, stolperte mit wirbelnden Armen durch das Zimmer und stolperte über ein Beistelltischchen mit einen Infusionsautomaten, den sie mit sich zu Boden riß. Ihre linke Schulter, wo sie der Schlag getroffen hatte, blutete, aber sie spürte nur Wärme und klebrige Nässe, die an ihrer Brust hinablief, keinen Schmerz. Aber der Aufprall war so heftig, daß sie im ersten Moment völlig benommen war und sogar fürchtete, das Bewußtsein zu verlieren. Wahrscheinlich war es nur die Sorge um ihren Patienten, der sie überhaupt noch wach hielt.

Als sich die tanzenden Schleier vor ihren Augen wieder lichteten, bot sich ihr ein so gräßlicher Anblick, daß sie ihn nie wieder im Leben wirklich vergessen sollte.

Der Patient lag noch in seinem Bett, aber auf der Seite. Jemand hatte den Infusionsschlauch brutal aus seinem Arm gerissen. Die Wunde in seiner Vene blutete heftig. Seine Beine zuckten unkontrolliert, und er stöhnte ganz leise, was Schwester Inge zu der fürchterlichen Vermutung Anlaß gab, daß er wahrscheinlich wach war und genau mitbekam, was mit ihm geschah.

Wenn es so war, dann mußte er Unvorstellbares erleiden. Die linke Seite seines Rückens war eine einzige, grauenhafte Wunde. Die Gestalt, die Schwester Inge von draußen für einen Mann in einer Pelerine gehalten hatte (es war keiner) stand auf der anderen Seite des Bettes und stieß einen seltsamen, schrillen Laut aus, ein fast triumphierend klingendes Zwitschern, wie ein Geräusch, das ein unvorstellbar großer Vogel verursachen mochte. Seine Hände (Hände. Hände!!) waren halb erhoben und blutig.

»Nein«, wimmerte Schwester Inge. »Nein!« Der Kopf des Wesens ruckte herum, und Schwester Inge erkannte endgültig, daß es kein Mensch war. Das Gesicht, das sie anstarrte, war grotesk. Es hätte einer gigantischen Spinne gehören können. Schwester Inges Keuchen verstummte. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war einfach zugeschnürt.

Das Geschöpf trat um das Krankenbett herum, kam mit sonderbaren, staksigen Schritten auf Schwester Inge zu und beugte sich vor. Sie sah jetzt, daß es keinen Mantel trug, sondern ein Paar gewaltiger, nachtschwarzer Flügel. Der Körper darunter schien ebenfalls der eines Insekts zu sein, aber Schwester Inge war viel zu sehr von Grauen geschüttelt, als daß sie genau hingesehen hätte.

Das Monster beugte sich über sie. Die fürchterlichen Zangen vor seinem Gesicht klappten auseinander, und Schwester Inge fiel endgültig in Ohnmacht.

Sie bemerkte nicht mehr, wie sich das Ding wieder aufrichtete, ohne sie auch nur berührt zu haben, an Cremers Krankenbett zurücktrat und ihm auch noch die zweite Niere herausriß.

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