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Zehn Minuten der Stunde, von der Grinner Braun gegenüber gesprochen hatte, waren bereits verstrichen, aber er zögerte noch immer, die entsprechende Sequenz einzuleiten. Es gab keinen wirklichen Grund dafür. Alles war vorbereitet, die Computer entsprechend programmiert - er mußte jetzt nur noch die ENTER-Taste vor sich drücken, und die Automatik würde den Rest erledigen; wobei es im Grunde sehr viel mehr darum ging, Dinge nicht mehr zu tun, als Dinge zu tun. Das, was einmal ein Mensch gewesen war und was sie auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe eingesperrt hatten, wurde ohnehin nur noch durch einen unvorstellbaren technischen Aufwand in einem Zustand gehalten, den man nur noch mit sehr viel gutem Willen als Leben bezeichnen konnte. Wenn er die Maschinen abschaltete, tat er ihm einen Gefallen.

Warum also hatte er trotzdem das Gefühl, einen Mord zu begehen? Wenn er einen Grund hatte, Schuldgefühle zu haben, dann wegen dem, was er in den letzten fünf Jahren getan hatte, nicht wegen dem, was er jetzt tun würde. Haymar endlich sterben zu lassen, war eine Art der Barmherzigkeit.

Trotzdem drückte er die ENTER-Taste nicht, sondern brach das Programm im Gegenteil ab, um es noch einmal zu modifizieren. Er brauchte kaum fünf Minuten dazu, und als er fertig war, war der Computer bereit, fünfundzwanzig Einheiten Morphium in Haymars Kreislauf zu pumpen. Genug, um einen Elefanten umzubringen, und mehr als genug, um Haymar auf die schmerzloseste und angenehmste Art einschlafen zu lassen. Grinner glaubte nicht, daß in dem von Drogen zerfressenen Gehirn noch so etwas wie ein Bewußtsein war. Aber für den sehr, sehr unwahrscheinlichen Fall, daß es doch so sein sollte, wollte er ihm in seinen letzten Augenblicken auf keinen Fall Schmerzen zufügen. Als er die Hand nach der Taste ausstreckte, hörte er ein Geräusch hinter sich.

Grinner sah erschrocken hoch. Er war allein im Labor. Wäre jemand hereingekommen, hätte er es gehört. Die zentnerschwere Stahltür ließ sich nicht lautlos öffnen, ganz egal, wie vorsichtig man auch war. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, einen Lichtreflex vor sich auf dem Monitor zu erkennen, als hätte sich irgend etwas hinter ihm bewegt, doch als Grinner erschrocken im Stuhl hochfuhr stellte er fest, daß er allein war.

Was blieb, war das Gefühl, es nicht zu sein.

Unsinn, dachte Grinner. Natürlich war er allein. Niemand war hier, außer ihm und dem Toten auf der anderen Seite der Glasscheibe. Was er spürte, war lediglich seine eigene Nervosität. Und eine Mischung aus Müdigkeit und schlechtem Gewissen - beides in weit größerem Maße, als ihm lieb war. Er hatte den Grund dazu, müde zu sein, und was sein schlechtes Gewissen anging... Er redete sich ein, daß es nur mit Haymar zu tun hatte, aber natürlich wußte er, daß es nicht so war. Es war Mecklenburg. Unbeschadet von allem, was Braun gesagt hatte, hatte Grinner das Gefühl, den Professor verärgert zu haben. Sicher, er hatte nicht wirklich etwas getan, um seinen Job zu bekommen, aber wie oft hatte er sich gewünscht, es zu tun, und vor allem: Er war bereit dazu gewesen. Auch wenn es keinen wirklich rationellen Grund dafür gab - Grinner kam sich wie ein Leichenfledderer vor.

Er verscheuchte den Gedanken, streckte die Hand erneut nach der Taste aus, und etwas in seinen Gedanken sagte laut und vernehmlich: Nein.

Es war nicht wirklich dieses Wort. Grinner hörte keine Stimme, und er empfing auch keine telepathische Botschaft oder so etwas. Aber das Gefühl, daß er das, was er vorhatte, auf keinen Fall tun durfte, war so stark, daß er gar nicht anders konnte, als die Hand wieder zurückzuziehen. Zugleich hatte er wieder das Empfinden, nicht mehr allein zu sein, und als er sich diesmal herumdrehte, sah er, daß es auch so war.

Das Wesen stand zwei Meter hinter ihm. Es war riesig, viel größer, als ein Mensch, und es ähnelte nichts, was Grinner je zuvor im Leben gesehen hatte - nicht wirklich. Trotzdem wußte er sofort, wem er gegenüberstand.

Grinner wartete auf den Tod, denn nichts anderes konnte es bedeuten, einem Geschöpf wie diesem zu begegnen, aber er kam nicht.

Statt dessen ruhte der Blick der riesigen, von einem uralten, allumfassenden Wissen erfüllten Augen des Geschöpfs für einige endlose Sekunden auf ihm, und als es sich schließlich herumdrehte und seine gewaltigen Flügel ausbreitete, um an den geheimnisvollen Ort zurückzukehren, von dem es gekommen war, da wußte auch Grinner, was er zu tun hatte.

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