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Der erste Hieb war ins Leere gegangen, aber der nächste hatte seine linke Schulter getroffen und bis auf den Knochen hinab zerfleischt.

Wenigstens nahm er das an. Er hatte bisher nicht den Mut aufgebracht, einen Blick auf seine Schulter zu werfen, um sich von der Schwere seiner Verletzung zu überzeugen, aber sein linker Arm hing so nutzlos wie ein Stück totes Holz an seiner Seite, und seine Jacke war naß und schwer von Blut. Obwohl der Regen immer heftiger strömte und er längst bis auf die Haut durchnäßt war, spürte er, wie ein zähflüssiges, warmes Rinnsal an seinem Arm hinablief und sich über der Handwurzel teilte, um an den Fingern entlang zu Boden zu tropfen. Hätte es nicht geregnet, hätte er eine gewundene Spur aus unterschiedlich großen Tropfen und Pfützen hinterlassen, die die Stationen seiner Flucht markierten. Er wußte nicht einmal mehr genau, wie viele. Sein unheimlicher Verfolger hatte ihn drei- oder auch viermal gestellt, aber es war ihm jedesmal gelungen, ihn noch einmal abzuschütteln.

Die Frage war nur: Wie oft noch? Trotz der Schmerzen, der atemabschnürenden Furcht und der immer stärker werdenden Erschöpfung war er noch nicht so sehr in Panik, daß sein logisches Denken vollends ausgeschaltet gewesen wäre. Der Angreifer hatte ihn mindestens einmal ganz bewußt entkommen lassen; wahrscheinlich sogar jedes Mal. Er spielte mit ihm.

Und Rosen hatte nicht vor, dieses Spiel zu verlieren. Seine Chancen standen nicht einmal schlecht. Sicher, er war verletzt, er wußte nicht, mit wem er es zu tun hatte, und er befand sich in einer Gegend der Stadt, in der er sich überhaupt nicht auskannte. Aber er war zäh. Die Verletzung war zwar schmerzhaft, aber wahrscheinlich nicht tödlich, und er hatte noch nicht einmal angefangen, sich ernsthaft zur Wehr zu setzen.

Der Regen ließ für einen Moment nach; nicht vollkommen, und bestimmt auch nicht auf Dauer. Es war nur ein kurzes Atemholen, dem ein vermutlich noch intensiverer Guß folgen würde - aber für Rosen stellte diese Ruhepause eine neue, noch größere Gefahr dar. So quälend der Eisregen sein mochte, war er bisher doch sein einziger Verbündeter gewesen. Das seidige, leise Rauschen hatte das Geräusch seiner Schritte ebenso zuverlässig verschluckt wie die silbernen Schleier seine Gestalt. Nichts, was weiter als sechs oder sieben Meter entfernt war, war in den niederstürzenden Wassermassen noch zu erkennen. So wenig, wie er seinen Verfolger sehen konnte, konnte dieser ihn im Auge behalten. Und die wenigen Straßenlaternen, die in unregelmäßigen Abständen brannten, machten es eher schlimmer: Statt die Dunkelheit zu vertreiben, verwandelten sie den Regen vollends in einen dicht gewobenen Vorhang aus Quecksilberfäden. Wenn der Regen jetzt nachließ - oder gar ganz aufhörte -, dann war er seinem Verfolger wie auf dem Präsentierteller ausgeliefert.

Rosen nahm all seine Kraft zusammen, um abermals seine Schritte zu beschleunigen. Er wußte, daß es jetzt auf jede Sekunde ankam. Und auch darauf, seine Taktik zu ändern: Er rannte jetzt nicht mehr nur stur geradeaus, sondern in einem geschwungenen Zickzack, mit dem er den Straßenlaternen und ihrem verräterischen Licht auswich, das plötzlich zu einer Gefahr zu werden drohte. Sich auf sein Glück zu verlassen, bedeutete nicht, seinen Verstand auszuschalten oder die grundlegendsten Vorsichtsmaßnahmen zu vergessen.

Seine Schritte erzeugten jetzt, da das Geräusch des Regens nicht mehr jeden anderen Laut übertönte, ein hörbares Platschen in den flachen Pfützen, die die Straße wie Millionen asymmetrischer Spiegelscherben bedeckten. Das Wasser war eisig und drang bei jedem Schritt schmerzhaft in seine Schuhe ein. Für zwei, drei Augenblicke versuchte er, diesen Pfützen auszuweichen, gab es aber praktisch sofort wieder auf; es war lächerlich, sich wie ein Kind zu bewegen, das Hinkelkästchen spielte - und außerdem nicht schnell genug. Der Regen ließ weiter nach. Es war jetzt nicht mehr annähernd so dunkel wie noch vor Augenblicken Wenn sein Verfolger ihn überhaupt jemals aus den Augen verloren hatte, dann würde er ihn in spätestens fünf bis zehn Sekunden wieder sehen, wenn er auf dieser Straße blieb.

Wenn er wenigstens gewußt hätte, wo er war! Die Situation kam Rosen mit einem Male vollkommen grotesk vor, wenn auch kein bißchen komisch: Er befand sich in einer der größten Städte des Landes, einer Metropole mit mehreren Millionen Einwohnern, aber die Straßen, über die er sich bewegte, waren nicht nur menschenleer, sondern schienen niemals Leben beherbergt zu haben. Abgesehen von den wenigen noch funktionierenden Straßenlaternen, die aussahen, als stammten sie noch aus dem vergangenen Jahrhundert, brannte nirgendwo Licht. Vor ihm erstreckte sich eine scheinbar endlose, aber auch real sicher noch zwei Kilometer lange Straße, die von heruntergekommenen braunen und grauen Backsteingebäuden flankiert wurde. Es gab sehr viele Mauern ohne Fenster, und sehr wenige Fenster, in denen noch Glas war. Offensichtlich befand er sich in einem aufgegebenen Industriegebiet; einem jener Viertel der Stadt, in denen das Versprechen auf eine neue Freiheit und den damit verbundenen Wohlstand nicht eingelöst worden war.

Hinter ihm polterte etwas. Rosen drehte im Laufen den Kopf und stieß einen leisen, abgehackten Schrei aus, als die plötzliche Bewegung einen rasenden Schmerz durch seine Schulter jagte. Für einen Moment glaubte er eine Bewegung zu erkennen: Ein mächtiges, gleitendes Fließen und Wogen inmitten der Dunkelheit, als verberge sich etwas darin, das noch dunkler war als die vollkommene Schwärze, die die Straße hinter ihm erfüllte.

Im ersten Moment schrieb er diesen Eindruck dem Zustand zu, in dem er sich befand: Er war vollkommen erschöpft, halb verrückt vor Angst und fror wie noch nie zuvor im Leben. Und er hatte eine Menge Blut verloren. Vielleicht begann man zu halluzinieren, wenn man genug Blut verloren hatte.

Dann begriff er, daß es keine Halluzination war. Hinter ihm herrschte tatsächlich vollkommene Dunkelheit.

Und das war unmöglich. Er war noch vor Sekunden dem Licht der Laternen ausgewichen.

Noch während er diesen Gedanken dachte, erlosch eine weitere Laterne hinter ihm. Die Dunkelheit folgte ihm. Vielleicht war sie sein eigentlicher Feind. Nicht das, was sich darin verbarg.

Mit nach hinten gedrehtem Kopf zu rennen, ist nicht besonders vorteilhaft. Rosen kam aus dem Tritt, versuchte mit einer ungeschickt hastigen Bewegung sein Gleichgewicht wiederzufinden und machte es dadurch nur noch schlimmer. Er fiel der Länge nach hin und beging einen zweiten, größeren Fehler, indem er beide Arme nach vorne riß, um dem erwarteten Aufprall die schlimmste Wucht zu nehmen. Seine verletzte Schulter protestierte mit einem wütenden Schmerz gegen die plötzliche Bewegung.

Im nächsten Sekundenbruchteil verlor er fast das Bewußtsein. Der Schmerz war unvorstellbar: Er explodierte zuerst in seinen Handgelenken, raste in schnellen, sich oszillierend aufbauenden Wellen durch seine Arme, riß seine Ellbogengelenke in Stücke und verwandelte seine linke Schulter in einen durchgehenden Nuklearreaktor. Es war so schlimm, daß er nicht einmal mehr schreien konnte. Mehr durch ein Wunder als durch die Kraft seines Willens gelang es ihm, bei Bewußtsein zu bleiben. Er konnte immer noch nicht schreien, aber erst jetzt registrierte er, daß er auch nicht mehr atmen konnte. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze, und sein Mund und seine Nase hatten sich mit brackigem, nach Benzin schmeckendem Wasser gefüllt.

Seine Kraft reichte nicht, sich sofort wieder zu erheben. Würgend stemmte er sich auf die Knie hoch - diesmal war er klug genug, seinen linken Arm nicht zu belasten - spuckte Wasser und Schleim aus und rang verzweifelt nach Luft.

Der Schmerz in seiner Schulter verebbte nur ganz allmählich und er konnte spüren, daß die Wunde nun sehr viel heftiger blutete. Stöhnend schloß er die Augen, wartete darauf daß die Dunkelheit hinter seinen Lidern aufhörte, sich wie wild im Kreis zu drehen, und versuchte sich gleichzeitig weiter aufzurichten. Sein Verfolger war noch immer hinter ihm. Wenn er ihn hier erwischte, mitten auf der Straße und in seinem momentanen Zustand, dann war es vorbei Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu wehren. Rosen öffnete die Augen, und sein Herz setzte für eine Sekunde aus.

Sein Gesicht spiegelte sich verzerrt und in tausend Streifen zerbrochen in der Pfütze, in der er vor Augenblicken noch fast ertrunken wäre. Darüber hätte der Himmel sichtbar sein müssen.

Aber das war er nicht. Der Verfolger hatte ihn eingeholt. Er stand unmittelbar hinter ihm. Seine Gestalt ragte als riesiger, grotesk verzerrter Schatten über ihm empor, viel zu groß für den eines Menschen und auf unheimliche Weise verdreht und mißgestaltet, wie etwas, das vielleicht ein Mensch hatte werden wollen, es aber nicht geschafft hatte, sondern in einer früheren, unfertigen Entwicklungsphase steckengeblieben war. Rosen fuhr mit einem Schrei herum, sprang auf die Füße und stolperte zurück, riß die unverletzte Hand vor das Gesicht und erstarrte zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden.

Er war allein. Hinter ihm war niemand.

Die Dunkelheit war ihm weiter gefolgt. Auch die beiden Lampen, an denen er gerade vorbeigelaufen war, waren jetzt erloschen, und er war nun sicherer denn je, daß sich etwas in dieser Finsternis bewegte, etwas Riesiges, Groteskes, das da in der Schwärze stand und ihn anstarrte. Es hätte ihn erledigen können. Er hatte mit Sicherheit zehn oder mehr Sekunden hilflos dagelegen, mehr als genug Zeit für dieses unfaßbare Wesen, ihn einzuholen und zu Ende zu bringen, was es begonnen hatte, aber es stand einfach nur da und starrte ihn an, wie ein schwarzer Dämon, der sich von seiner Furcht nährte.

Rosen begriff plötzlich die neue, vielleicht noch viel größere Gefahr, die er diesmal selbst heraufbeschwor: Indem er den schwarzen Umriß in der Dunkelheit Es nannte, verlieh er ihm eine Macht, die ihm nicht zustand. Es war kein Es, sondern ein Er. Irgendein Mistkerl, der gekommen war, um eine alte Rechnung zu begleichen - oder weil ihn jemand dafür bezahlte. Vielleicht nicht einmal das. Vielleicht war es einfach nur ein Verrückter, und er hatte das Pech gehabt, ihm im falschen Moment über den Weg zu laufen.

Der Schatten bewegte sich. Er machte nicht wirklich einen Schritt, sondern schien auf ihn ... zuzugleiten, wie ein körperloser Schemen, der ein winziges Stück über dem Boden schwebte, statt ihn zu berühren, und im gleichen Moment begann auch die Laterne unmittelbar neben Rosen zu erlöschen. Sie ging nicht einfach aus. Ihr Licht wurde blasser. Rosen konnte sehen, wie sich der warme gelbe Schein lautlos zurückzog, als fliehe er vor der Dunkelheit, die im Gefolge der unheimlichen Gestalt kam.

Eingebildet oder nicht, der Anblick war so entsetzlich, daß Rosen mit einem Schrei herumfuhr und davonstürzte. Seine Schulter reagierte mit einer neuen, wütenden Schmerzattacke auf die plötzliche Bewegung, aber er achtete gar nicht darauf. Hinter ihm kam die Dunkelheit näher, schnell und lautlos, und die Pfützen, an denen er vorbeirannte, waren voller verzerrter schwarzer Schatten.

Trotz der Gefahr, ein zweites Mal zu stürzen, sah er sich noch einmal nach dem unheimlichen Verfolger um. Die Schwärze raste heran, nicht ganz, aber doch fast so schnell wie er, und inmitten dieser Düsternis bewegte sich etwas Riesiges, Formloses, etwas, das eher zu flattern als zu laufen schien, und dessen bloße Anwesenheit Licht und Geräusche in eine Dimension der Dunkelheit verbannte, so als verlören die Gesetze der Welt ihre Gültigkeit dort, wo der Unheimliche entlangglitt.

Rosen begriff, daß er in Gefahr war, erneut zu stolpern, und wandte sich hastig wieder nach vorne. Das Ende der Straße war immer noch unendlich weit entfernt, und auch dahinter lag nichts als weitere Dunkelheit. Das hell erleuchtete, pulsierende Herz der Stadt schien unendlich weit entfernt; Lichtjahre, wie es ihm vorkam. Er hatte keine Chance, es zu erreichen. Und selbst wenn - was, wenn das unheimliche Ding ihm auch dorthin folgte, einfach alles Licht und jedes Leben auslöschte, bis er in einem Universum aus Schwärze und Leblosigkeit gefangen war?

Rosen rief sich in Gedanken ein zweites Mal zur Ordnung, und obwohl er selbst kaum damit gerechnet hatte, gelang es ihm tatsächlich, die Panik noch einmal niederzukämpfen. Seine Lage war auch so schon schlimm genug, ohne daß er seinem Verfolger übernatürliche Kräfte zusprach. Der Schmerz in seiner Schulter war zu einem hämmernden Pochen im Rhythmus seiner Schritte geworden, und der Blutverlust begann nun spürbar an seinen Kräften zu zehren. Selbst wenn er vor Entkräftung nicht einfach zusammenbrach, würde er das Tempo nicht mehr lange durchhalten. Er brauchte ein Versteck. Wenn der Kerl ihn einholte, war er tot. Er war nicht in der Verfassung, sich gegen einen auch nur halbwegs ernst gemeinten Angriff zu verteidigen.

Sein Blick irrte über die Häuser vor ihm. Auf der linken Seite erhoben sich nur gleichförmige, rotbraune Ziegelsteinmauern. Die wenigen Fenster, die er sah, waren vernagelt oder auf andere Weise verschlossen. Der Anblick auf der rechten Seite unterschied sich kaum von dem auf der linken, aber in dreißig oder auch vierzig Meter Entfernung entdeckte er ein rostiges Tor aus Wellblech, das einen Spalt offenstand. Er wußte nicht, was dahinter lag, aber alles war besser als diese unendliche, deckungslose Straße, auf der ihn die Dunkelheit verfolgte.

Rosen mobilisierte noch einmal alle Kraft seines geschundenen Körpers, steuerte eines der Gebäude auf der linken Straßenseite an und änderte seinen Kurs dann abrupt um fast neunzig Grad nach rechts. In einem letzten, verzweifelten Spurt raste er auf das Tor zu. Er wagte es nicht, hinter sich zu blicken - wie er sich selbst einredete aus Angst, möglicherweise gerade dadurch den einen entscheidenden Sekundenbruchteil zu verlieren, der zwischen Tod und Rettung lag, in Wahrheit aber wohl eher weil er den Anblick der flatternden Dunkelheit nicht mehr ertrug, denn sie weckte eine uralte Furcht in ihm, die alle Barrieren aus Logik und Willenskraft einfach mit sich fortriß.

Er hatte sich getäuscht. Das Tor stand zwar eine Handbreit offen, war aber mit einer massiven Kette und einem Vorhängeschloß von der Größe einer Untertasse gesichert. Er rannte trotzdem weiter, so schnell er konnte, spielte eine halbe Sekunde lang mit dem Gedanken, über das Tor hinwegzuklettern und entschied sich dann dagegen. Mit seiner verletzten Schulter hatte er keine Chance, dieses Kunststück zu schaffen, ganz abgesehen davon, daß ihm vermutlich nicht einmal genug Zeit dafür blieb. Die Dunkelheit war hinter ihm. Nah. So entsetzlich nah.

Rosen setzte alles auf eine Karte, drehte sich im letzten Moment zur Seite und rammte die unverletzte Schulter mit der ganzen Kraft seines Anlaufs gegen das Tor.

Die linke Hälfte seines Körpers explodierte einfach. Der Schmerz war nicht einmal so furchtbar, wie er erwartet hatte, aber er spürte, wie nunmehr auch noch der letzte Rest von Kraft aus seiner Schulter und dem Arm wich. Das Tor dröhnte wie ein riesiger, falsch gestimmter Gong. Rosen wurde zurückgeschleudert und fand nur durch Glück sein Gleichgewicht wieder, und ein winziger, verbliebener Rest seines Selbsterhaltungstriebes ließ ihn noch einmal nach vorne und auf das Tor zutaumeln.

Sowohl die Kette als auch das Schloß hatten dem Anprall standgehalten, aber die schiere Wucht des Stoßes hatte das morsche Tor halb aus den Angeln gerissen. Der Spalt zwischen den beiden Hälften war deutlich breiter geworden. Vielleicht breit genug, um sich hindurchzuquetschen. Das Ergebnis entsprach ganz seinen Erwartungen. Seine Schulter verwandelte sich in reinen Schmerz. Das rostige Metall zerriß seine Kleidung und fügte ihm eine Anzahl neuer, tiefer Schnitt- und Schürfwunden zu, und sein Arm und die linke Hüfte weigerten sich jetzt einfach, seinen Befehlen weiter zu gehorchen. Verzweifelt griff er mit der rechten Hand zu, stemmte den Fuß gegen den Boden und schob und zerrte zugleich mit aller Kraft. Rostiges Eisen biß wie mit glühenden Zähnen in seine Schulter. Er brüllte vor Schmerz. Er konnte kaum noch sehen. Alles war rot und schwarz, und der Geschmack in seinem Mund war eine Mischung aus Erbrochenem und Blut. Trotzdem kämpfte er mit der absoluten Kraft schierer Todesangst weiter.

Mit einem Ruck kam er frei. Fetzen seiner Kleidung blieben an den beiden Torhälften zurück, und diesmal versuchte er erst gar nicht, seinen Sturz aufzufangen, drehte sich aber instinktiv auf die rechte Seite, so daß er zwar erneut gequält aufschrie, wenigstens aber nicht wieder an den Rand einer Bewußtlosigkeit schlitterte. Wimmernd stemmte er sich auf eine Hand und beide Knie hoch, schrie abermals, als sich eine Glasscherbe tief in seine Handfläche bohrte und kroch ein paar Schritte vom Tor fort. Keine Sekunde zu früh.

Das Licht auf der anderen Seite des Tores erlosch. Etwas traf die beiden Flügel aus verrostetem Wellblech und schleuderte sie davon wie zerfetztes Papier, und etwas Riesiges, Schwarzes raste durch die gewaltsam geschaffene Öffnung herein, streifte Rosen beinahe flüchtig und schmetterte ihn erneut zu Boden. Er hatte einen blitzartigen Eindruck von gigantischen Schwingen aus geronnener Dunkelheit und Klauen aus rasiermesserscharfem Stahl. Dann knallte er mit dem Hinterkopf so wuchtig gegen den Boden, daß er nun tatsächlich das Bewußtsein verlor. Wenn auch wahrscheinlich nur für eine oder zwei Sekunden.

Als er die Augen wieder öffnete, stand der Gigant über ihm. Es war kein Mensch.

Es war zu groß. Seine Schultern waren zu breit. Sie hörten nicht dort auf, wo sie es sollten. Sie wuchsen weiter zu einem Paar gigantischer, schwarzer Flügel aus gehämmertem Stahl. Seine Hände waren grauenerregende gebogene Klauen mit zu vielen Fingern. Und wo das Gesicht sein sollte, war nur wogende Schwärze. Es war das Ding, das er in der Pfütze gesehen hatte.

Kein Er. Es. Rosen wimmerte vor Angst und kroch rücklings von der furchtbaren Erscheinung weg.

Zu langsam. Der schwarze Koloß folgte ihm, lautlos, ein Stück der Nacht, das zu gräßlichem Leben erwacht war. Eine der furchtbaren Krallen hob sich.

Zu leicht, wisperte eine lautlose Stimme hinter seiner Stirn. Nicht genug.

Die Klaue senkte sich wieder. Der schwarze Engel zog sich auf die gleiche, lautlose Weise wieder zurück, auf die er herangekommen war.

Er schlug erst zu, als sich Rosen in die Höhe stemmte und davonlaufen wollte.

Seine Kralle traf Rosens Rücken und riß ihn von den Schulterblättern bis zur Hüfte hinab auf.

Rosen kreischte in schierer Agonie, torkelte hilflos zwei Schritte nach vorne und prallte gegen etwas Hartes, etwas mit Spitzen und scharfen, reißenden Kanten. Er fiel, sprang wieder hoch und taumelte weiter. Sein Rücken war eine einzige, blutende Wunde. Er konnte die Quellen der einzelnen Schmerzen nicht mehr lokalisieren. Er hatte auch nicht mehr die Kraft zu schreien, sondern brachte nur noch eine Mischung aus Wimmern und Schluchzen zustande, während er haltlos weitertaumelte. Der schwarze Engel war hinter ihm, riesig, kalt, tödlich. Er konnte regelrecht spüren, wie sich die mörderischen Klauen zu einem weiteren, vielleicht dem letzten Hieb hoben.

Nicht genug. Der Hieb hätte seinen Schädel zertrümmern können, aber er streifte seinen Hinterkopf nur. Trotzdem riß er Rosens Skalp bis auf den Knochen auf, zerfetzte seinen Nacken und ritzte die Halsarterie an der rechten Seite. Nicht tief genug, um ihn auf der Stelle zu töten, zu leicht, aber weit genug, um einen neuen Ausgang zu erschaffen, aus dem das Leben warm und klebrig aus ihm herausströmte.

Er fiel nicht, sondern taumelte blind weiter. Trotz allem registrierte er, daß er sich auf einer Art Schrottplatz zu befinden schien, vielleicht auch nur auf einem mit Unrat und Schrott übersäten Fabrikhof. Auf dem Boden schimmerten Glasscherben und scharfkantiges Metall. Links von ihm war etwas Großes, Glänzendes, vielleicht eine Wand aus Glas, vielleicht auch ein Block aus massivem Metall. Der Todesengel war noch immer hinter ihm. Gigantische Schwingen wie geschliffener Stahl durchschnitten die Luft zu leicht und berührten fast sanft seine Oberschenkel zu leicht und öffneten sein Fleisch zu einem weiteren Paar blutiger Lippen.

Rosen schrie. In seinen Beinen war jetzt keine Kraft mehr. Nirgends in seinem Körper war noch Platz für irgendein anderes Gefühl als Pein oder Angst.

Er fiel, prallte gegen etwas Hartes und zugleich Nachgiebiges und krallte sich instinktiv fest. Dünne, rote Linien aus Schmerz schnitten in seine Hände zu leicht, und nur ein kleiner Teil von ihm war noch klar genug und zu logischem Denken fähig. Dieser winzige Teil jedoch empfand nichts anderes als Erstaunen. Er hätte nicht mehr am Leben sein dürfen. Jede einzelne der grauenhaften Verletzungen, die ihm der schwarze Titan zugefügt hatte, hätte ihn töten müssen. Und wenn schon nicht das, so doch der Blutverlust. Der Schrottplatz schwamm in einem Meer aus dampfendem Rot. Trotzdem lebte er noch, vielleicht nur, weil er in diesem Moment dem Tod so nahe war wie niemals zuvor, und weil er plötzlich mit unerschütterlicher Sicherheit wußte, was auf der anderen Seite auf ihn wartete. Der Tod war keine Erlösung. Er war nur das Tor in eine andere, unvorstellbare Welt, ein Universum voller endloser Qual und immerwährender Furcht.

Zu leicht. Der nächste Hieb traf ihn nicht mit der reißenden Kante, sondern mit der ganzen Breite der eisernen Schwinge. Rosen wurde mit furchtbarer Gewalt in die Höhe und nach vorne geschleudert, spürte, wie mindestens sechs oder sieben Rückenwirbel splitterten und seine Hüfte brach und fühlte zugleich ein geometrisches Muster aus neuem, blendendweißem Schmerz auf Gesicht und Händen. Er schrie, schluckte sein eigenes Blut und erstickte beinahe daran. Trotzdem begriff er, daß er gegen einen Maschendrahtzaun geschleudert worden war, einen Zaun aus glühendem, rasiermesserscharfem Draht, der sein Gesicht und seine Hände zerfetzte und dem Wort unerträglich eine neue, nie gekannte Dimension verlieh.

Seine Muskeln versagten ihm endgültig den Dienst. Hilflos sackte er am Zaun entlang zu Boden, klammerte sich mit blutigen, verheerten Fingern in den reißenden Stahl und war nicht mehr in der Lage, seinen Griff wieder zu lösen. Sein Körper wurde mit einem so brutalen Ruck herumgerissen, daß er sich die Schulter auskugelte, aber er hatte nicht mehr die Kraft für mehr als ein gequältes Wimmern. Es spielte zu leicht keine Rolle mehr. Der Dunkle Engel stand über ihm. Seine eisernen Klauen glitzerten.

Zu leicht. Diesmal zielte er auf Rosens Augen.

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