8


Die Vorhänge waren zugezogen, und sämtliche Lampen im Raum ausgeschaltet. Das einzige Licht war ein matter Schein, der von dem kleinen Computermonitor auf dem Schreibtisch kam. Der unsichere Schein reichte gerade aus, die Tastatur und einen kleinen Teil der Schreibtischplatte davor zu erhellen, und nicht einmal das richtig. Die meisten Buchstaben waren mehr zu erahnen als zu erkennen. Bremers Finger huschten trotzdem mit traumwandlerischer Sicherheit über die Tasten, und der kleine Cursorblock auf dem Bildschirm verwandelte seine Befehle im gleichen Tempo in eine Abfolge von Zahlen und Buchstaben. Kriminalrat Nördlinger wäre vermutlich höchst erstaunt gewesen, hätte er Bremer in diesem Moment sehen können. Aber daß er der modernen Kommunikationstechnik nicht gestattete, absolute Macht über sein Leben zu erlangen, bedeutete nicht, daß er nicht damit umgehen konnte.

Er schaltete das 56k-Modem ein, wartete, bis die winzige Leuchtdiode auf seiner Vorderseite von Rot auf Grün umsprang und drückte die ENTER-Taste des Computers. Eine Folge leiser, unmelodischer Töne erklang. Nur wenige Augenblicke später stand die Leitung zum Zentralrechner im Keller des Polizeipräsidiums, und auf dem Bildschirm vor Bremer erschien das Startmenü, ziemlich bunt und ziemlich einfallslos. Bremer tippte sein Paßwort ein, betätigte erneut die ENTER-Taste und wartete, daß ihm der elektronische Wachhund an der Pforte zum Allerheiligsten Einlaß gewährte. Nichts geschah. Zwei Sekunden verstrichen, dann fünf, dann wurde der Bildschirm dunkel, und eine grüne Leuchtschrift erklärte ihm:

PASSWORT FALSCH: BITTE RICHTIGES PASSWORT EINGEBEN:

Bremer runzelte die Stirn. Er war ziemlich sicher, das richtige Paßwort eingegeben zu haben. Selbst die Berliner Polizei hinkte nicht so weit hinter der technischen Entwicklung hinterher, daß die Computer nicht schon vor Jahren Einzug in ihre Arbeit gehalten hätten. Bremer hatte seinen Zugangscode in den letzten drei Jahren so oft eingegeben daß er sich schon gefragt hatte, wann er wohl das erstemal versehentlich damit unterschrieb. Es war praktisch unmöglich, daß er sich vertippt hatte.

Er gab den Code ein zweites Mal ein. Diesmal sah er hin und tippte sehr langsam. Erneut vergingen vier oder fünf Sekunden, dann erklärte ihm der Computer:

PASSWORT FALSCH: BITTE RICHTIGES PASSWORT EINGEBEN:

Nur ein Sekunde lang war Bremer verwirrt, dann übernahm Zorn die Stelle dieses Gefühls. An der Situation war ganz und gar nichts Rätselhaftes. Er war hundertprozentig sicher, seinen Zugangscode richtig eingegeben zu haben. Trotzdem funktionierte er nicht. Also hatte ihn jemand außer Kraft gesetzt. So einfach war das. Nördlinger hatte wirklich schnell reagiert. Bremer hatte zwar damit gerechnet, daß das geschehen würde, aber nicht, daß es so schnell passierte. Nördlinger hatte ihn gegen sieben vom Dienst suspendiert, und soviel er wußte, gingen die Operator im Rechenzentrum um fünf nach Hause. Nördlinger mußte entweder Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt haben, um sein Paßwort sperren zu lassen - oder es war schon vorher geschehen. Bevor Bremer so freundlich gewesen war, ihm einen Vorwand zu liefern, um ihn kaltzustellen. Bremer tippte sein Paßwort noch einmal ein, hielt aber nach dem vorletzten Buchstaben inne, löschte die Eingabe und unterbrach nach kurzem Zögern die Verbindung. Der Computer würde die Leitung nach der dritten falschen Paßworteingabe sowieso von sich aus kappen, aber Bremer war nicht sicher, ob dieser unberechtigte Zugriffsversuch nicht irgendwo registriert wurde, vermutlich samt seiner Telefonnummer. Er mußte Nördlinger ja nicht auch noch freiwillig noch mehr Munition liefern. Er schaltete den Rechner ab, vergrub für einen Moment das Gesicht in den Händen und versuchte, in dem Durcheinander hinter seiner Stirn irgendwie wieder Ordnung zu schaffen. Er dachte nicht daran, so einfach aufzugeben. Vielleicht sollte er damit aufhören, sich über Nördlinger zu ärgern, und seine Energie lieber darauf verwenden, seine Probleme zu lösen. Genug davon hatte er schließlich. Bremer schaltete den Computer wieder ein, wartete voller Ungeduld, bis das Gerät gebootet hatte, und wählte ein zweites Mal die Nummer des Polizeirechners. Bremer war weit davon entfernt, ein Hacker zu sein, oder auch nur wirklich zu wissen, was solche Leute eigentlich taten, aber man mußte ja auch nicht alles unnötig verkomplizieren. Er kannte die Paßwörter einiger seiner Kollegen; darunter auch das Meilers. Er hatte es irgendwann durch Zufall aufgeschnappt und notiert, eigentlich ohne besonderen Grund. Man konnte schließlich nie wissen.

Bremer zog eine Schublade in seinem Schreibtisch auf, nahm sein Notizbuch heraus und suchte nach der Seite, auf der er Meilers Paßwort notiert hatte. Er fand sie nicht auf Anhieb. Das schwache Licht vom Computerbildschirm reichte nicht aus, um seine winzige Handschrift zu entziffern.

Er stand auf, schaltete das Licht ein und ging zum Schreibtisch zurück. Als er die Seite mit Meilers Paßwort gefunden hatte, klingelte es an der Tür.

Bremer hielt überrascht mitten in der Bewegung inne. Es war fast Mitternacht. Und er kannte in dieser ganzen Stadt niemanden, der ihn um diese Zeit besuchen würde. Zumindest nicht, ohne vorher anzurufen. Wer zum Teufel...? Es klingelte wieder. Diesmal hielt der nächtliche Störenfried den Finger gute dreißig Sekunden lang auf dem Klingelknopf, um seiner Bitte um Einlaß den gehörigen Nachdruck zu verleihen. Bremer schüttelte verwirrt den Kopf, trat vom Schreibtisch zurück und machte sich auf den Weg zur Tür. Er hatte kein gutes Gefühl, aber er mußte wohl oder übel aufmachen, bevor dieser Irrsinnige dort draußen das ganze Haus wachklingelte. Vermutlich handelte es sich um einen Journalisten. Er hatte zwar auf dem Weg hierher nicht einen einzigen Vertreter der gewaltigen Reporter-Heerschar gesehen, die West mit so eindringlichen Worten heraufbeschworen hatte, zweifelte aber trotzdem keine Sekunde daran, daß sie da war. Sollte dort draußen wirklich irgendwo ein hoffnungsvoller junger Nachwuchsreporter stehen, der glaubte, ihn überrumpeln zu können, um sich auf diese Weise ein Exklusivinterview zu erschwindeln, dann würde er sein blaues Wunder erleben.

Mit einer wütenden Bewegung riß er die Tür auf, und West sagte: »Wissen Sie, daß Sie beschattet werden?« Bremer war im ersten Moment so perplex, daß er nichts anderes tun konnte, als dazustehen und sie mit offenem Mund anzustarren. Angela hatte weit weniger Hemmungen. Sie hob die Hand, schob die Tür hinter ihm vollends auf und ging ohne zu zögern an ihm vorbei in die Wohnung. Erst als sie die Diele schon fast durchquert hatte, überwand Bremer seine Überraschung und drehte sich herum.

»He!« rief er. »Moment mal! Was ... was soll denn das?« Angela reagierte genau so auf seine Worte, wie er erwartet hatte - nämlich gar nicht -, sondern beschleunigte ihre Schritte nur noch mehr und verschwand im Wohnzimmer. Bremer warf mit einem gemurmelten Fluch die Tür zu - laut genug, um nun auch noch den letzten Bewohner auf dieser Etage aufzuwecken - und folgte ihr.

»Frau West! Ich habe Sie etwas gefragt! Was soll das? Haben Sie den Verstand verloren?« Er war wirklich wütend. Es interessierte ihn nicht, warum West gekommen war. Es gab ein gewisses Maß an Unverschämtheit, das er akzeptierte, ja, mittlerweile fast schon von ihr erwartete, aber jetzt war sie eindeutig zu weit gegangen.

»Angela«, antwortete Angela. »Das Frau West haben wir doch wohl hinter uns, oder?« Sie stand am Fenster und blickte auf die Straße hinab. Bremer registrierte beiläufig, daß sie so dastand, daß sie von der Straße aus vermutlich nicht zu sehen war. »Sie sind da unten, sehen Sie? Der dunkle Wagen auf der anderen Straßenseite.« Bremer kochte immer noch innerlich vor Zorn, aber das hinderte ihn nicht daran, mit zwei schnellen Schritten hinter sie zu treten und in die Richtung zu blicken, in die ihr ausgestreckter Arm wies. Er sah sofort, was Angela meinte. Der Wagen stand nicht direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sondern gute fünfzig Meter versetzt, so daß er ihn nicht sofort entdeckt hätte, wenn er zufällig aus dem Fenster sah. Trotzdem konnte man aus dem Wagen heraus sowohl seine Wohnung als auch die Haustür genau im Auge behalten. Die Männer dort unten im Wagen waren gut.

Aber so gut vielleicht nun auch wieder nicht. Hinter der getönten Frontscheibe glomm ein winziger roter Lichtpunkt auf und erlosch wieder. Einer der Männer rauchte. Bremer hätte seinen Partner massakriert, hätte er sich während einer Observierung eine Zigarette angezündet. Ganz davon abgesehen, daß man in einem geparkten Wagen spätestens nach der zweiten Zigarette zu ersticken begann, machte sich kaum jemand eine Vorstellung davon, wie weit die Glut einer Zigarette nachts zu sehen war.

»Kollegen von Ihnen?« fragte Angela. »In so einem Wagen?« Bremer schüttelte den Kopf.

»Wir sind ja schon froh, daß wir nicht wieder mit Fahrrädern auf Streife gehen müssen. Der Staat hat kein Geld.« Aber West hatte etwas angesprochen, was ihr selbst wahrscheinlich gar nicht bewußt war. Irgend etwas war an diesem Wagen. Etwas ... Wichtiges. Bremer hatte das Gefühl, daß er die Antwort praktisch auf der Zunge hatte. Es war ein sehr großer, sehr teurer Wagen, ein schwarzer oder vielleicht auch dunkelblauer oder -grüner BMW, und irgend etwas daran...

»Nein«, murmelte Bremer. »So dumm können sie nicht sein.« Er bekam keine Antwort - wie auch? Angela trat zur Seite und machte einen Schritt zurück, wodurch er einen etwas besseren Ausblick auf die Straße hatte. Jetzt, da das Licht brannte, mußte sich seine Silhouette deutlich hinter dem Fenster abzeichnen. Es war ihm egal. Er beobachtete den Wagen noch einige Sekunden lang weiter, dann ließ er seinen Blick aufmerksam in beiden Richtungen die Straße entlangwandern. Soweit er das beurteilen konnte, gab es kein zweites Team, das ihn observierte. Wozu auch? Es gab ja nicht einmal für dieses eine Team einen Grund, hier zu sein.

»Wie haben Sie es gemerkt?« fragte er.

»Daß sie da sind?« Angela lachte leise. »Weibliche Intuition.«

Ihre Stimme war weiter entfernt, als sie sollte. Bremer sah über die Schulter zurück und stellte fest, daß sie nicht mehr hinter ihm stand, sondern an seinen Schreibtisch getreten war und mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt in seinem Notizbuch blätterte. Er mußte für eine Sekunde die Augen schließen und in Gedanken bis drei zählen, um nicht einfach loszubrüllen.

Statt dessen ließ er mit übertrieben schnellen Bewegungen die Jalousien herunter, trat dann mit einem einzigen Schritt neben sie und klappte das Notizbuch zu. »Würden Sie mir verraten, was Sie da tun?« fragte er.

Angela deutete auf den Computer. »Das ist keine gute Idee«, sagte sie.

»Was?«

»Das Paßwort eines Ihrer Kollegen zu benutzen, um in das System zu kommen«, antwortete sie. »Es würde wahrscheinlich funktionieren, aber genauso gut können Sie Nördlinger auch gleich anrufen und ihm sagen, was Sie vorhaben. Das System protokolliert nicht nur alle Zugriffe, sondern registriert auch die Telefonnummern, von denen aus sie erfolgen. Wenn sie nicht mit der des legitimen Besitzers des Paßwortes übereinstimmen, dann schreien all die kleinen Bits und Bytes da drinnen ganz laut Alarm.« Das hatte Bremer nicht gewußt. Er wußte auch nicht, ob es stimmte, aber die Worte erfüllten eindeutig ihren Zweck: Seine Wut verrauchte und machte einer Mischung aus Verwirrung und Bestürzung Platz. Er schwieg.

»Ich schätze, ich komme in das System rein, wenn Sie mir sagen, wonach Sie suchen«, fuhr Angela fort. »Soll ich?« Nun war Bremer vollends verwirrt. Er war noch immer nicht ganz sicher, ob Wests ganzes aufdringliches Benehmen nicht in Wirklichkeit nur diesem einen Zweck diente, nämlich ihn zu verunsichern und ihm so jede Möglichkeit zu nehmen, sich gegen sie zu Wehr zu setzen. Wenn ja, hatte sie Erfolg. Statt zu antworten, beugte er sich vor und schaltete den Computer aus.

»Das sollten Sie nicht tun«, sagte Angela tadelnd. »Ihr ganzes System kann zusammenbrechen, wenn Sie es nicht ordnungsgemäß herunterfahren.«

»Es reicht«, sagte Bremer. Seine Stimme zitterte ganz leicht, war aber auch sehr leise. Er konnte nur flüstern - oder sie anschreien, und so weit war er noch nicht - wobei die Betonung auf dem noch lag. »Ich schlage vor, Sie erklären mir jetzt, wie Sie hierherkommen und was Sie von mir wollen, oder Sie gehen. Am besten beides.«

»In welcher Reihenfolge?« fragte Angela.

Bremer zog scharf die Luft ein, und Angela hob hastig die Hände und fuhr fort: »Entschuldigung. Das war albern. Ich bin eigentlich nur gekommen, um Ihnen etwas zu erzählen, von dem ich dachte, daß es Sie interessiert.«

»Was soll das sein?« fragte Bremer. »Daß Sie mit Computern umgehen können? Oder daß Sie eine etwas abenteuerliche Dienstauffassung haben? Stellen Sie sich vor, beides ist mir bereits aufgefallen.«

Angela seufzte. »Sie machen es mir wirklich nicht leicht, wissen Sie das? Ich stehe auf Ihrer Seite. Sie haben Nördlinger doch gehört - wir beide sind ein Team, ob es uns nun gefällt oder nicht. Also sollten wir auch zusammenhalten, oder?« Bremer wußte wirklich nicht mehr, ob er lachen oder einfach losbrüllen sollte. Er konnte auch beim besten Willen nicht mehr sagen, ob West all diesen Unsinn nun wirklich ernst meinte, oder ob das nur ihre ganz spezielle Art war, ihn auf den Arm zu nehmen.

»Sie haben zu viele amerikanische Krimiserien gesehen Kindchen«, sagte er. »So funktioniert die Wirklichkeit nicht. Und Sie sind mir auch nichts schuldig, nur weil wir beide zufällig den gleichen Beruf haben. Also hören Sie mit dem Quatsch auf.«

»Wollen Sie überhaupt nicht wissen, was ich herausgefunden habe?« fragte Angela.

»Ich will...« Bremer brach ab, ballte die Hände zu Fäusten und seufzte tief. »Was?«

»Es geht um diesen Anwalt«, sagte Angela. »Streblowski, oder wie er heißt.«

»Strelowsky«, korrigierte sie Bremer. »Was ist mit ihm?«

»Interessiert es Sie, zu erfahren, wie er gestorben ist?«

Angela stieß sich mit einer schwungvollen Bewegung von der Schreibtischkante ab und ging in Richtung Küche. Bremer fragte erst gar nicht, was sie nun schon wieder vorhatte, sondern fügte sich mit einem lautlosen Seufzen in sein Schicksal und folgte ihr. Angela schaltete das Licht ein, ging zum Herd und füllte Wasser in den Kessel. Der Gedanke erschien Bremer fast absurd, aber sie hatte ganz offensichtlich vor, Kaffee zu kochen!

»Der genaue Obduktionsbefund wird natürlich erst morgen im Laufe des Tages vorliegen«, fuhr sie fort, »aber so, wie es bis jetzt aussieht, ist er wohl ertrunken.«

»Ertrunken?« Bremer versuchte sich an das zu erinnern, was er von Meiler gehört hatte. »Ich dachte, man hätte ihn in seinem Auto gefunden?«

»Das hat man auch.« Angela schaltete die Herdplatte ein und drehte sich zu ihm herum. »Er saß hinter dem Steuer. In einem tadellos gebügelten, trockenen Anzug, perfekter Frisur und einer brennenden Zigarette in der rechten Hand. Und mit den Lungen voller Wasser. Also wenn das kein bizarrer Selbstmord ist, dann weiß ich nicht.«

Bremer fragte sich, warum er eigentlich nicht überrascht war. Vielleicht, weil er sich mittlerweile in einem Gemütszustand befand, in dem ihn im Grunde nichts mehr überraschen konnte. »Woher wissen Sie das?« fragte er. »Auch wieder weibliche Intuition?«

»Weibliche Überredungskunst«, sagte sie. »Ich habe mich ein bißchen mit Ihrem Kollegen unterhalten. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht allzu übel, aber ich mußte ein paar häßliche Worte über Sie verlieren, bis er gesprächig wurde. Sie trinken Ihren Kaffee mit Zucker und Milch?«

Sie drehte sich wieder um und wollte die Schranktüren öffnen, aber Bremer war mit einem Schritt bei ihr, drückte die Türen mit der linken Hand wieder zu und schaltete mit der anderen den Herd aus.

»Nein«, sagte er. »Und ich will jetzt auch keinen Kaffee trinken. Ich will jetzt endlich wissen, was dieses ganze Theater soll!« Er stand Angela jetzt ganz dicht gegenüber, vielleicht weniger als zehn Zentimeter, und vielleicht als Reaktion auf diese unmittelbare Nähe, vielleicht auch aus Schrecken über irgend etwas, was sie vielleicht auf seinem Gesicht las, hob sie in einer abwehrenden Bewegung die Arme, und Bremer griff ebenso instinktiv zu und hielt ihre Handgelenke fest.

Er hätte es besser nicht getan. Ihre Berührung war wie ein elektrischer Schlag, der kribbelnd durch seinen gesamten Körper fuhr. Plötzlich, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen, war er sich ihrer Nähe mit fast schmerzhafter Intensität bewußt, der Tatsache, wie weich ihre Haut war, und wie schmal und zerbrechlich sich ihre Handgelenke in seinen Fäusten anfühlten.

Und wie sehr sie ihn faszinierte. Es hatte keinen Zweck, sich etwas vorzumachen. Angela war mehr für ihn als eine x-beliebige Fremde, und schon gar nicht die freche Göre, als die er sie gerne gesehen hätte. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, auch und vielleicht sogar vor allem körperlich. Dabei war sie nicht einmal sein Typ. Die fast magische Sekunde verging, und plötzlich wurde sich Bremer der fast peinlichen Situation bewußt, in der sie dastanden.

Hastig ließ er ihre Handgelenke los und trat rasch einen Schritt zurück.

»Entschuldigung«, murmelte er. »Ich... Es tut mir leid. Ich habe die Beherrschung verloren.«

»Das wundert mich nicht«, antwortete Angela. »Schon eher, daß es nicht schon viel früher passiert ist. Sie wollen wirklich keinen Kaffee?«

»Nein!« sagte Bremer gereizt.

»Gut. Dann ... sehe ich einmal nach, ob unsere Freunde noch da sind.« Sie drehte sich herum und ging mit schnellen Schritten aus dem Zimmer. Bremer vermied es ganz bewußt, ihr nachzublicken. Er hatte den Schock, den ihre Berührung bei ihm ausgelöst hatte, noch lange nicht überwunden; im Gegenteil. Seine in Aufruhr geratenen Emotionen nahmen nur eine andere Qualität an. Nicht, daß es dadurch irgendwie besser wurde...

Mit klopfendem Herzen wartete er darauf, daß sie zurückkam, aber die Sekunden verstrichen, ohne daß er mehr als gedämpfte Laute aus dem Wohnzimmer hörte. Für einen kurzen Moment war er sogar nahe daran, ihr nachzugehen. Zugleich aber wagte er es nicht.

Statt dessen tat er etwas ziemlich Widersinniges: Er schaltete die Herdplatte wieder ein und kochte Kaffee. Er hatte immer noch keinen Appetit darauf, aber er mußte einfach irgend etwas tun, um seine Hände zu beschäftigen. Er war verunsichert und verstört wie nie zuvor, und das lag längst nicht nur an Angela. Irgend etwas war an diesem Tag geschehen, was ihn gründlich aus der Bahn geworfen hatte. Und das Schlimmste daran war, daß er im Grunde ganz genau wußte, was es war. Er gestattete sich nur noch nicht, den Gedanken konsequent bis zum Ende zu denken.

Angela kam erst zurück, als er den Kaffee fertig und zwei Tassen eingegossen hatte. Sie maß die beiden Tassen mit einem mißbilligenden Blick, ersparte sich aber jeden Kommentar, sondern setzte sich einfach und trank einen großen Schluck, ehe sie sagte: »Sie sind noch da.«

»Haben Sie etwas anderes erwartet?« Bremer rührte in seinem Kaffee. Er brachte es nicht fertig, sie anzusehen, und natürlich war ihm klar, daß sie seine Unsicherheit bemerken mußte.

Statt seine Frage zu beantworten, sagte sie: »Ich bin übrigens im Computersystem - keine Angst, es wird keine Spuren geben, die zu Ihrem Computer zurückführen. Wir sollten die Leitung aber vielleicht nicht allzu lange blockieren. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber es könnte ja immerhin sein, daß der legitime Besitzer des Paßworts versucht, sich in den Computer einzuloggen. Er wäre erstaunt, festzustellen, daß er schon drin ist.«

»Meiler?« fragte Bremer. Immerhin wußte er jetzt, was sie die ganze Zeit im Wohnzimmer gemacht hatte.

Angela schüttelte den Kopf. »Kriminalrat Nördlinger«, antwortete sie. »Es ist ziemlich witzlos, eine Tür aufzubrechen, wenn man den Generalschlüssel hat, finde ich.«

»Sie haben Nördlingers Paßwort?« ächzte Bremer.

»Nein«, antwortete Angela. »Aber der Computer glaubt, daß ich es habe. Versuchen Sie erst gar nicht, es zu verstehen. Es ist sehr kompliziert.« Sie stand auf. »Jubeln wir Ihre Telefonrechnung noch ein bißchen in die Höhe, oder betreiben wir ein wenig Datenklau?«

»Sie wissen, daß ich Sie jetzt eigentlich verhaften müßte«, sagte Bremer ernst.

»Sparen Sie sich die Mühe«, antwortete Angela. »Ich könnte jederzeit beweisen, daß ich in diesem Moment an einem Bankautomaten am anderen Ende der Stadt Geld abgehoben habe. Oder, am Frankfurter Kreuz durch eine Radarfalle gerast bin - samt Beweisfoto.« Zumindest das hielt Bremer für übertrieben. Aber er sah auch keinen Sinn darin, die Diskussion weiter fortzusetzen, also folgte er ihr. Was sie taten - was er tat! - war äußerst unvernünftig, mehr noch: Es war kriminell, im wortwörtlichen Sinne. Angela mochte ja tatsächlich von dem überzeugt sein, was sie sagte, aber das allein reichte nicht. Bremer selbst hatte schon eine Menge Leute verhaftet, die felsenfest davon überzeugt gewesen waren, daß man ihnen nicht auf die Schliche kommen konnte. Die Jungs und Mädels im Rechenzentrum des Präsidiums waren keine Dummköpfe.

Trotzdem begleitete er sie widerspruchslos. Er war mittlerweile in einer Verfassung, in der ihm im Grunde alles egal war.

Angela hatte sich tatsächlich bereits in die Datenbank des Präsidiums eingeklinkt und nahm mit einer schwungvollen Bewegung vor dem Monitor Platz. »Also?« fragte sie. »Was wollen wir wissen?«

»Ich«, korrigierte sie Bremer. »Sie sind gar nicht hier. Sie heben gerade Geld an einer Radarfalle in Frankfurt ab, schon vergessen?« Er machte eine Handbewegung auf den Monitor. »Strelowsky. Drucken Sie mir alles aus, was der Computer über seinen Tod weiß. Tatort, Uhrzeit, Zeugen...« Angelas Finger flogen über die Tastatur, und nur ein paar Sekunden später begann der Drucker zu summen. Parallel dazu erschienen die gleichen Daten auf dem Monitor. Bremer war ein bißchen enttäuscht. Zumindest bis jetzt wußte der Computer weniger über Strelowskys Tod, als er von Angela erfahren hatte. Mit einer Ausnahme. »Stop!« sagte er. »Das da! Was ist das?« Angelas Zeige- und Mittelfinger, die über der ENTER-Taste schwebten, um ein weiteres Datenpaket Informationen an den Drucker zu senden, erstarrten mitten in der Bewegung, aber Bremers eigene Erinnerung beantwortete seine Frage, bevor sie es tun konnte. Die Zeile, auf die er gedeutet hatte, beinhaltete die Straße, in der man Strelowskys Wagen gefunden hatte. Bremer machte sich nicht einmal die Mühe, sie sich zu merken; er wußte, daß Angela es tun würde, ganz davon abgesehen, daß sie jeden Buchstaben ausdruckte, den sie der Datenbank entlocken konnte. Aber da war noch etwas in dieser Adresse, eine unterschwellige Botschaft, auf die er im ersten Moment nicht einmal bewußt reagiert hatte; unbewußt aber dafür um so heftiger.

»Pfarrei St. Peter«, las Angela stirnrunzelnd vor. Dann nickte sie. »Stimmt. Meiler hat erwähnt, daß der Wagen in der Nähe einer Kirche gefunden wurde. Aber das muß nichts bedeuten. Es gibt wahrscheinlich tausend Kirchen in Berlin. Mindestens.« Bremer beugte sich über ihre Schulter und betätigte die ENTER-Taste, in dem er ihre Finger darauf drückte. Der Drucker begann zu summen.

»Rosen«, sagte er. »Ich brauche das Protokoll von heute vormittag. Schnell«.

Angela sah ihn fragend an, hämmerte aber auch zugleich schon gehorsam auf die Tastatur ein, und auf dem Bildschirm begann sie das Tatortprotokoll des heutigen Morgens abzuspulen. Die Kollegen, die Rosens Tod protokolliert hatten, waren offenbar sehr viel gründlicher gewesen als Meiler und Vürgels. Der Computer hörte gar nicht mehr auf, Informationen auszuspucken, als hätte er die lückenlose Lebensgeschichte jeder einzelnen Schraube gespeichert, die auf dem improvisierten Schrottplatz gelegen hatte. Wie um alles in der Welt sollte er in diesem Wust von Informationen das eine Puzzleteil finden, nach dem er suchte? Sie würden Stunden brauchen, selbst wenn Angela eine Hardcopy machte und sie sich die Arbeit teilten.

Er dachte ein paar Augenblicke angestrengt nach, dann sagte er: »Thomas. Lassen Sie das Ding nach dem Begriff Thomas suchen. Vater Thomas.«

Angela tippte den Begriff gehorsam ein. Als sie die ENTER-Taste drückte, flackerte der Bildschirm, kaum sichtbar und vielleicht nur für eine Zehntelsekunde. Bremer hielt es allenfalls für eine Auswirkung des Suchbefehls, den sie eingegeben hatte, aber Angela runzelte die Stirn, warf einen raschen, fragend-verwirrten Blick in Richtung der heruntergelassenen Jalousien und stand dann auf. Bremer beachtete sie kaum. Der Computer hatte mittlerweile den gesuchten Begriff gefunden, und er war viel zu aufgeregt, um in diesem Moment auch nur einen Gedanken an irgend etwas anderes zu verschwenden.

»Volltreffer«, murmelte er. »Vater Thomas. Bürgerlicher Name Thomas Wellinghaus, Pfarrei St. Peter! Wenn das ein Zufall ist, arbeite ich ab sofort freiwillig wieder bei der Verkehrspolizei!«

»Falls Sie noch Gelegenheit dazu haben«, sagte Angela. Etwas in ihrer Stimme alarmierte Bremer. Er hob den Kopf und sah, daß sie wieder ans Fenster getreten war und mit der linken Hand die Lamellen der Kunststoffjalousie ein Paar Zentimeter weit auseinandergebogen hatte. »Sie haben uns erwischt, verdammt!«

»Erwischt? Was soll das heißen?« Bremer sah verwirrt auf den Schirm, fast als erwarte er, plötzlich Nördlingers Gesicht anstelle der sauber geordneten Datenkolonnen zu erblicken. Dann stand er auf und ging mit schnellen Schritten zu Angela hinüber. Kurz bevor er sie erreichte, machte sie eine warnende Geste, und er ging langsamer. Schließlich blieb er in einiger Entfernung vom Fenster stehen und sah, was sie gemeint hatte.

Die Zigarettenglut hinter der Windschutzscheibe des BMW war erloschen. Der rote Lichtpunkt bewegte sich jetzt in der Hand des Mannes, der den Wagen verlassen hatte und zusammen mit seinem Begleiter auf das Haus zukam. Es war zu dunkel, als daß Bremer die beiden deutlicher denn als Schatten erkennen konnte, aber er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was er sehen würde, wenn die beiden näher kamen: Sie würden zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein, sportlich und durchtrainiert und elegant, aber nicht zu auffällig gekleidet. Außerdem würden die beiden Männer bewaffnet sein und ziemlich wenig Skrupel haben, diese Waffen im Notfall auch einzusetzen.

»Der Computer«, murmelte Angela. »Sie haben gemerkt, was wir tun. Aber ich verstehe das nicht!« Bremer schon. Er verstand höchstens Angelas Überraschung nicht. Bildete sie sich wirklich ein, sie wäre die erste, die versucht hatte, mit einem gestohlenen Paßwort ins Computersystem der Polizei einzudringen?

»Wir müssen weg«, sagte er. »Steht Ihr Wagen unten?«

»Um die Ecke«, antwortete Angela. »Was sind das für Kerle? Die sind doch nicht von unserer Truppe!«

Bremer empfand ein absurdes Gefühl von Erleichterung, daß Angela offenbar doch nicht alles wußte. »Wenn wir nicht selber die Polizei wären, dann wäre das jetzt der richtige Moment, sie zu rufen«, knurrte Bremer. »Obwohl es wahrscheinlich nichts nutzen würde. Los, weg hier.« Er drehte sich herum und streckte die Hand nach dem Computer aus, um ihn abzuschalten, aber Angela hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.

»Dreißig Sekunden«, sagte sie. »Soviel Zeit muß sein.«

Bremer war in diesem Punkt entschieden anderer Meinung - aber er kannte Angela mittlerweile gut genug, um zu wissen, daß er die dreißig Sekunden so oder so verlieren würde, entweder in dem er sie gewähren ließ, oder in dem er genau diese Zeit sinnlos mit ihr diskutierte, um ihr dann doch ihren Willen zu lassen. Also ließ er sie in Ruhe und nutzte die Zeit, um seine Jacke zu holen. Dann eilte er zum Schreibtisch zurück, kramte seinen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die linke untere Schublade; die, in der seine Dienstwaffe lag. Zwei Sekunden später schloß er sie wieder, ohne das Schulterhalfter mit der 9-mm-Pistole auch nur angerührt zu haben.

»Fertig.« Angela schaltete den Computer ab. »Wenn sie jetzt versuchen, herauszubekommen, welche Dateien wir uns angesehen haben, erleben sie eine bittere Überraschung.«

»Es sei denn, sie sehen im Drucker nach«, sagte Bremer. Angela machte ein betroffenes Gesicht, griff aber sehr hastig nach dem Papierstapel im Ausgabeschacht des Druckers und stopfte ihn in ihre Handtasche, während Bremer noch einmal zum Fenster eilte und hinaussah. Die beiden Männer hatten die Straße überquert und verschwanden gerade im toten Winkel unter dem Fenster. Sie hatten nicht mehr sehr viel Zeit.

»Ich wiederhole meine Frage«, sagte Angela, als sie das Zimmer verließen und auf die Tür zusteuerten. »Wer sind diese Kerle?«

»Wenn ich das wüßte, wären wir ein gutes Stück weiter«, antwortete Bremer. »Ich habe es nie herausgefunden. Ich weiß nur, daß mit ihnen nicht zu spaßen ist.« Er schaltete das Flurlicht aus, bevor er den letzten Schritt zur Tür zurücklegte. Eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme, angesichts der Situation, in der sie sich befanden, aber trotzdem ein Fehler, denn in der Dunkelheit lauerte die Erinnerung.

Sein Herz begann augenblicklich zu rasen. Sein Puls erreichte eine Frequenz, die kaum noch zu messen war, und er konnte riechen, wie ihm kalter Angstschweiß ausbrach. Seine tastenden Finger stießen gegen das Holz seiner eigenen Wohnungstür. Dahinter, im Hausflur, schien kein Licht zu brennen; es war jedenfalls kein verdächtiger Lichtschein unter der Tür zu entdecken. Seine Hand glitt lautlos an der Tür hinab und legte sich auf die Klinke.

Es gelang ihm nicht, sie herunterzudrücken. Sie war weder abgeschlossen, noch klemmte sie, und doch war es ihm nicht möglich, sie auch nur einen Millimeter zu bewegen. Weder durch das Schlüsselloch noch unter der Tür hindurch drang Licht. Auf der anderen Seite wartete die Dunkelheit auf sie, und die Dunkelheit war seine Heimat, seine ureigenste Welt, das Element, aus dem er erschaffen war. Er konnte diese Tür nicht öffnen, selbst wenn es um sein Leben ging.

Angela nahm ihm die Entscheidung ab, in dem sie ihre Hand auf seine legte und die Türklinke auf diese Weise herunterdrückte. Die Tür schwang nahezu lautlos auf, und die Dunkelheit dahinter explodierte für einen Moment zu reiner Panik.

Azrael war nicht da. Der Hausflur hinter der Tür war nichts als ein dunkler Hausflur, in dem Angela ihn mit schon deutlich mehr als sanfter Gewalt hineinschob.

Zum Glück war der Hausflur nicht stockdunkel. Durch das Milchglasfenster am anderen Ende des langen, schlauchförmigen Raumes drang ein mattgrauer Schimmer, der Umrisse, aber keine Farben in der Dunkelheit erweckte, und zumindest hinter einer Wohnungstür brannte noch Licht. Unter dem dumpfen Hämmern seines eigenen Herzens konnte er das Murmeln eines Fernsehers hören. Und als hätte seine Fantasie im Moment nichts Besonderes zu tun, identifizierte er sogar die Stimme des Nachrichtensprechers und sah das passende Gesicht vor seinem inneren Auge.

Er ging mit schnellen Schritten zum Fahrstuhl, überlegte es sich dann aber anders. Der Aufzug konnte sie zwar auf dem schnellsten Weg in die Freiheit bringen, sie andererseits aber auch geradewegs in die Arme ihrer Verfolger ausspucken. Wenn sie ihn mieden, waren sie flexibler.

»Wir bleiben besser im Treppenhaus«, flüsterte er. »Das ist sicherer.«

Angela schien ihn sofort zu verstehen. »Nach oben?« fragte sie.

»Vorerst«, antwortete Bremer. Er versuchte abzuschätzen, wieviel Zeit verstrichen war, seit sie die Wohnung verlassen hatten. Nicht mehr als ein paar Sekunden, aber vielleicht trotzdem genug, um die beiden das Haus erreichen zu lassen. Aber das Risiko mußten sie eingehen. Ohne zu zögern, machte er sich auf den Weg nach oben.

Unten im Treppenhaus wurde eine Tür geöffnet, und dieses Geräusch, zusammen mit Angelas scharfem Einatmen, riß ihn für einen Moment noch einmal in die Wirklichkeit zurück. Wahrscheinlich nicht auf Dauer. Vielleicht nicht einmal für lange. Der Schwarze Engel faltete seine Schwingen wieder zusammen und trat lautlos in die Schatten zurück, aus denen er gekommen war, aber die Tür in sein finsteres Schattenreich blieb geöffnet.

Die Tür, die sie gehört hatten, fiel nicht wieder ins Schloß, und sie hörten auch keine Schritte, und es wurde auch kein Licht gemacht. Trotzdem war Bremer sicher, daß unter ihnen jemand war. Er wäre so vorgegangen, wäre er an der Stelle der beiden gewesen, und er zweifelte nicht daran, daß die beiden ihren Job verstanden.

Angela war so dicht hinter ihm, daß er ihre Nähe körperlich spüren konnte, und er hörte nun deutlich das Geräusch des Aufzugs, der sich aus dem Parterre in Bewegung setzte. Ein kalter Schauer lief ihm bei dem Gedanken über den Rücken, was passiert wäre, wären sie ohne nachzudenken in die Kabine getreten und nach unten gefahren: Sie hätten nach dem Aufgleiten der Aufzugstür wahrscheinlich in die Mündungen zweier Pistolen geblickt.

Aber da war noch eine andere Frage, auf die er sich konzentrieren mußte, und die ihm dennoch immer aus dem Zipfel seines Bewußtseins zu rutschen drohte: War vielleicht einer auf dem Weg über die Treppe auf dem Weg nach oben, während nur der andere den Aufzug benutzte? Er zumindest hätte es so gemacht. Aber obwohl es wichtig war, bekam er den Gedanken nicht richtig zu fassen. Dafür hatte die Vergangenheit die Klauen wieder nach ihm ausgestreckt. Seine Beine, die sich Schritt für Schritt nach unten tasteten, kamen ihm meilenweit entfernt und wie aus Watte vor. Sein Denken und Fühlen glitt aus der Realität in die Vergangenheit. Er war gleichzeitig wieder in einem anderen, vor Jahren für ihn zum Alptraum gewordenen Treppenhaus, in dem er vor einem riesigen, geflügelten Schatten geflohen war, einem Schatten, der zwar nur in seiner Fantasie und sonst nirgendwo existiert hatte, und der ihm trotzdem bedrohlicher als jede andere nur vorstellbare Gefahr erschienen war.

Sie hatten das nächste Stockwerk fast erreicht. Noch vier, vielleicht fünf Stufen, schätzte Bremer. Es war zu dunkel, um es zu erkennen, aber sehr viel mehr konnten es nicht sein. Er griff vorsichtig nach hinten, tastete nach Angelas Hand und versuchte gleichzeitig, den rechten Fuß so lautlos wie möglich auf die nächste Stufe zu setzen. Seine Jacke raschelte. Das Geräusch war unter Garantie nicht weiter als zwei oder drei Meter zu hören, aber in Bremers Ohren klang es, als schlügen Fäuste auf Tafeln aus dünnem Blech. Die nächste Stufe. Sein Herz hämmerte mittlerweile so laut, daß man es auf der anderen Straßenseite hören mußte, und die Luft, die er atmete, schmeckte scharf nach Angst. Sie waren nicht mehr allein. Der schwarze Engel hatte sein Versteck in den Schatten wieder verlassen. Und war eins mit der Dunkelheit geworden, die sie umgab. Er war da, so, wie er immer dagewesen war, seit jenem schrecklichen Tag in einem Keller am Ende eines anderen Treppenschachtes, an dem er ihm das erste Mal ins Antlitz geblickt hatte. Unter ihnen war ein Geräusch. Bremer konnte nicht sagen, ob es das Flattern gewaltiger krallenbewehrter Schwingen oder das unvorsichtige Scharren eines Fußes war, aber es mußte sich wohl um ein Geräusch aus der normalen, faßbaren Welt der Realität handeln, denn Angela zuckte ein ganz kleines bißchen zusammen. Sie blieben beide für zwei oder drei Sekunden stehen und lauschten mit gehaltenem Atem, aber das Geräusch wiederholte sich nicht. Nach einem Augenblick gingen sie weiter und erreichten den nächsten Treppenabsatz.

Obwohl er nicht den mindesten Laut von sich gegeben hatte, legte Angela plötzlich die Hand auf seine Schulter und zischte: »Still!«

Sekunden vergingen. Bremer lauschte auf zahllose eingebildete Geräusche, aber dann hörte er tatsächlich, wie der Aufzug im Stockwerk unter ihnen anhielt und jemand aus der Kabine trat. Er ging aber nur zwei oder drei Schritte weit und blieb dann stehen. Es verging beinahe eine Minute, bis er auch das Geräusch der Treppenhaustür hörte und dann die Schritte eines zweiten Mannes. Ihm war nie zuvor aufgefallen, wie hellhörig das Haus war, in dem er immerhin seit über zehn Jahren lebte. Aber seine Sinne arbeiteten im Moment wahrscheinlich auch mit fünfhundert Prozent Leistung. Gut genug jedenfalls, um ihn erkennen zu lassen, daß sich die beiden Männer nun seiner Wohnung näherten und sich vermutlich an der Tür zu schaffen machten. Dann war ein leises schabendes Geräusch zu hören und ein kaum hörbares, doch nicht zu verkennendes Klicken: Das mußte seine Wohnungstür sein, die vorsichtig ins Schloß gezogen wurde.

»Los jetzt«, sagte Angela. »Bis sie merken, daß wir weg sind, sind wir über alle Berge.« Sie zog ihn fast gewaltsam mit sich und begann die Treppe hinunterzustürmen. Bremer folgte ihr beinahe willenlos. Seine Gedanken waren noch immer in hellem Aufruhr. Er hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren, in der Dunkelheit keinen Fehltritt zu tun.

Angela legte ein Tempo vor, als hätte sie Katzenaugen, und gab sich jetzt auch keine Mühe mehr, leise zu sein. Erst als sie das Erdgeschoß erreicht hatten, blieb sie wieder stehen und machte eine Geste zu Bremer, wieder voraus zu gehen. Jedenfalls nahm er es an. Es war so dunkel, daß er sie nur als Schemen sah.

Vorsichtig öffnete er die Tür und sah genau das, was er insgeheim erwartet hatte: eine verschwommene Silhouette die sich auf der anderen Seite der verglasten Haustür abzeichnete. Den Hinterausgang konnte er von seiner Position aus nicht sehen, aber er war sehr sicher, daß er dort dasselbe gesehen hätte.

»Mit wem zum Teufel haben Sie sich angelegt?« flüsterte Angela. »Mit der Russen-Mafia?«

Bremer drückte die Tür lautlos wieder ins Schloß. Seine Gedanken rasten, aber diese neuerliche, ganz greifbare Gefahr bewirkte etwas vollkommen Unerwartetes: Die Panik verging, und er beruhigte sich zusehends. Ihre Lage war kritisch, aber die Gegner, mit denen sie es jetzt zu tun hatten, waren wenigstens greifbar.

»Der Keller. Wir verstecken uns dort unten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie das ganze Haus durchsuchen.« Er beschloß, das Risiko einzugehen und schaltete die Treppenhausbeleuchtung ein. Angela blinzelte. Im grellen Neonlicht sah ihr Gesicht blasser aus, als er erwartet hatte. Und er sah sehr deutliche Spuren von Furcht darin. Er war nicht sehr überrascht. Angela West war nicht die erste seiner Kolleginnen, die am eigenen Leib erfuhr, wie groß der Unterschied zwischen Theorie und Praxis manchmal war.

»Kommen Sie«, sagte er aufmunternd. »Spielen wir ein bißchen Verstecken.«

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