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Der Regen hatte aufgehört, als er die Kirche verließ, aber dafür war der Nebel dichter geworden. Thomas hatte ihn durch die Krypta ins Freie geleitet, so daß die Männer in dem Wagen auf der anderen Straßenseite nichts bemerkten, und ihm erklärt, wie er das Grundstück verlassen und den Block ungesehen umgehen konnte - was theoretisch ganz einfach war, sich in der Praxis jedoch durch den immer dichter werdenden Nebel als mittlere Odyssee erwies. Der Friedhof - Thomas behauptete, nicht zu wissen, wann er aufgegeben worden war, auf jeden Fall aber lange vor seiner Zeit - hatte weder Wege noch so etwas wie einen Trampelpfad, sondern erwies sich als eine einzige, von knöchelhohem Unkraut überwucherte Wildnis, über der Nebel lag wie eine vom Himmel herabgesunkene Wolke. Hier und da ragten Grabsteine oder zerborstene Skulpturen wie bizarre Artefakte einer vor Jahrtausenden untergegangenen Kultur aus der grauen Masse, das meiste aber war hinter faserigen Nebelschleiern verborgen, die im Grunde nicht einmal besonders dicht waren, es aber trotzdem unmöglich machten, weiter als ein oder zwei Dutzend Schritte zu sehen. Nach dem flüchtigen Eindruck, den er von seiner Ankunft her hatte, konnte das umfriedete Kirchengrundstück kaum größer sein als sechzig oder siebzig Meter, aber was er sah, schien das genaue Gegenteil zu beweisen. Bremer tastete sich fast blind durch den Nebel. Der Zaun konnte zehn Meter entfernt sein; genauso gut aber auch am anderen Ende der Welt liegen. Wäre er noch in jener sonderbaren, verwundbaren Stimmung gewesen, in der er die Kirche betreten hatte, hätte ihn diese Umgebung vielleicht in den Wahnsinn getrieben, denn sie war eindeutig unheimlich.

Aber die beruhigende Wirkung ihres Gesprächs hielt noch immer an. Thomas' Worte hatten seiner Situation nicht ihren Schrecken genommen, aber sie hatten die Bedrohung von ihrer mythischen Ebene geholt. Vielleicht war es nicht mehr als eine fromme Lüge, an die er nur deshalb glaubte, weil er es wollte, aber im Moment war er der festen Überzeugung, es mit einem Feind aus Fleisch und Blut zu tun zu haben. Einem furchtbaren, gnadenlosen Feind vielleicht, aber trotzdem einem, der besiegt werden konnte. Der Weg über den verfallenen Friedhof erwies sich auch so als schwierig genug.

Bremer hörte nach einer Weile auf, mitzuzählen, wie oft er sich Zehen und Schienbeine an Hindernissen anstieß, die unter dem Nebel verborgen waren. Zwei- oder dreimal tat es ziemlich weh, und einmal durchfuhr ihn ein eisiger Schrecken, als er sich herumdrehte und sich unversehens einem mannsgroßen steinernen Engel gegenübersah, der ein wenig schräg auf seinem Sockel stand, einen Flügel abgebrochen und mit erhobenen Armen, durch die Beschädigung und die ungewöhnliche Körperhaltung einer Harpyie ähnlicher als einem himmlischen Sendboten. Für einen Moment begann sein Herz wieder zu jagen, und sein Puls beschleunigte sich zu einem rasenden, harten Hämmern, das sich bis in seine Fingerspitzen hinein fortsetzte. Aber schon in der nächsten Sekunde beruhigte er sich wieder. Nach allem, was passiert war, war es nur logisch, daß er allergisch auf alles reagierte, was mit Engeln zu tun hatte. Aber das lähmende Entsetzen, auf das er wartete, kam nicht. Er hatte sich einfach nur erschrocken, das war alles. Azraels böser Zauber war gebrochen. Vielleicht für immer.

Bremer schenkte dem flügellahmen Engel ein nervöses Lächeln, drehte sich wieder herum und stakste vorsichtig weiter durch den Nebel. Drei angeschlagene Zehen und ein aufgeschürftes Schienbein später erreichte er den mannshohen Zaun und wandte sich nach rechts, ziemlich wahllos. Er hatte so gründlich die Orientierung verloren, daß es gleich war, in welche Richtung er sich wandte.

In einem Punkt hatte Thomas die Wahrheit gesagt: Er mußte sich nicht damit abmühen, umständlich über den Zaun zu klettern. Schon nach wenigen Schritten erreichte er eine Stelle, an der es eine Lücke gab, durch die er sich mit einiger Mühe hindurchzwängen konnte. Vor ihm lag die Straße, und Bremer stellte mit einem Gefühl intensiver Erleichterung fest, daß er durch pures Glück in die richtige Richtung gegangen war. Er befand sich am westlichen Ende des Friedhofs. Die Kirche lag links von ihm, fast am anderen Ende der Straße, und der BMW parkte ungefähr auf halber Strecke auf der anderen Seite. Seine Insassen würden mit Sicherheit die Kirche beobachten, aber kaum die Straße hinter sich.

Trotzdem blieb er vorsichtig.

Von den Straßenlaternen brannten weniger als die Hälfte, so daß es überall große, vollkommen finstere Bereiche gab, die ein perfektes Versteck boten. Bremer visierte eines dieser schwarzen Löcher an, huschte hin und lehnte sich schwer atmend gegen die erloschene Laterne. Sein Herz jagte noch immer, und die Luft, die er in gierigen flachen Zügen in die Lungen sog, schmeckte scharf nach Metall. Der Weg über den Friedhof hatte ihn mehr Kraft gekostet, als ihm bisher bewußt gewesen war, und die Anstrengungen des vergangenen Tages und der Schlafmangel machten sich zusätzlich bemerkbar. Er blieb ein paar Minuten einfach so stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und nutzte die Zeit, um die gegenüberliegende Straßenseite und den Weg bis zu dem blauen BMW genauer in Augenschein zu nehmen.

Es sah nicht schlecht aus. Bremer beging nicht den Fehler, die Männer zu unterschätzen, mit denen er es zu tun hatte, aber er mußte zugeben, daß ihr Standpunkt nicht besonders klug gewählt war. Aus dem Wagen heraus konnte man die Kirche und einen Großteil des Grundstücks gut überblicken, aber die Fassaden der Häuser daneben lagen fast vollkommen im Dunkeln. Es gab nur zwei Stellen, an denen das blasse Licht der Straßenlaternen bis an die Häuser heranreichte, beide nicht sehr groß, und beide in einem für die Insassen des Wagens ungünstigen Winkel. Er brauchte nur ein wenig Glück, um sie zu überwinden. Sein eigentliches Problem begann erst, wenn es ihm gelang, den Wagen ungesehen zu erreichen. Bremer war früher einmal ein ganz passabler Boxer gewesen, aber es war Jahre her, daß er das letztemal im Ring gestanden hatte. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte er vermutlich keine Chance, mit mehreren Gegnern gleichzeitig fertig zu werden. Außerdem war er nicht hier, um sich in James-Bond-Manier mit den Kerlen herumzuprügeln. Bremer bedauerte es jetzt, seine Waffe nicht mitgenommen zu haben. Er würde bluffen müssen. Aber im Improvisieren war er schließlich schon immer gut gewesen.

Er suchte nach einer Stelle, an der er die Straße überqueren konnte, tat es und preßte sich für einige Sekunden in den schwarzen Schlagschatten der Hauswand. In dem BMW blieb alles still. Wie es aussah, hatte er wirklich Glück.

Bremer ging vorsichtig und stets darauf bedacht, im Schatten zu bleiben, weiter. Während er sich dem BMW näherte, grub er mit den Händen in den Jackentaschen. Alles, was er fand, waren ein Schlüsselbund, sein Dienstausweis (er war vermutlich nicht mehr das Papier wert, auf dem er gedruckt war), seine Geldbörse und ein Labello-Stift, den er vor gut einem Jahr gekauft und niemals benutzt hatte. Keine besonders reiche Ausbeute, aber er mußte nun einmal nehmen, was er hatte. Während er sich der ersten der beiden Lichtinseln näherte, die zwischen ihm und dem BMW lagen, verbarg er den Fettstift in der rechten Hand und legte Zeigefinger und Mittelfinger darüber. Wenn der Mann, den er damit zu bedrohen gedachte, zu genau hinsah, dachte er spöttisch, konnte er ja immer noch Peng, Peng machen.

Vor ihm lag jetzt ein ungefähr zehn Meter großer Bereich, der vom Licht einer der wenigen verbliebenen Straßenlaternen in silbernes Zwielicht getaucht wurde. Ein einziger Blick in den Rückspiegel, und er war so deutlich sichtbar wie auf dem Präsentierteller. Trotzdem widerstand er der Versuchung, zu rennen, sondern ging ganz im Gegenteil langsamer weiter. Er wußte, daß nichts so leicht Aufmerksamkeit erregte wie eine schnelle Bewegung. Einen Mann, der rannte, übersah niemand. Jemand, der sich langsam bewegte, konnte man selbst dann übersehen, wenn man ihn direkt ansah. Vor allem wenn man eine lange, langweilige Nachtwache hinter sich hatte.

Er erreichte wieder den schützenden Schatten, blieb stehen und ging nach ein paar Sekunden weiter, als sich nichts rührte. Der BMW blieb so still, als wären die Männer darin eingeschlafen. Vielleicht waren sie es ja.

Bremer erreichte den zweiten hellen Bereich, verfuhr auf die gleiche Weise wie beim ersten und durchquerte auch ihn unbehelligt. Er war jetzt noch ungefähr zehn Meter von dem BMW entfernt und konnte sein Glück kaum fassen - der Mann hinter dem Lenkrad ließ in diesem Moment die Scheibe herunterfahren und zündete sich eine Zigarette an. Zu Bremers Bedauern benutzte er dazu den Zigarettenanzünder, kein Feuerzeug, das das Wageninnere zusätzlich erhellte hätte. Trotzdem: Jetzt oder nie.

Bremer überwand die restliche Entfernung mit wenigen, schnellen Schritten, beugte sich vor und drückte dem Mann das stumpfe Ende des Fettstiftes hinters Ohr. »Wenn ich Sie wäre, würde ich mich jetzt nicht mehr rühren, Freundchen«, zischte er.

Der Mann erstarrte tatsächlich; allerdings nur für eine knappe Sekunde. Dann drehte er den Kopf - so weit es der Druck hinter seinem linken Ohr zuließ - sah Bremer ärgerlich an und hob ganz langsam die rechte Hand ans Gesicht um einen Zug aus seiner Zigarette zu nehmen. »Donnerwetter«, sagte er. »So viel Mumm hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

»Nicht bewegen, habe ich gesagt!« schnappte Bremer. Irgend etwas stimmte nicht. Der Mann war einfach zu cool. Niemand blieb so gelassen, wenn man ihm eine Waffe an den Kopf hielt.

Dann wurde es ihm klar: Der Sitz neben dem Fahrer war leer. Aber es waren zwei gewesen! Wo war der andere? »Du kostet mich eine Flasche Jim Beam, Bremer«, sagte der Mann übellaunig. »Wir haben gewettet, ob du den Mumm hast, herzukommen, und ich habe gegen dich gesetzt. Ich sollte eigentlich sauer auf dich sein.«

»Nicht bewegen, habe ich gesagt!« drohte Bremer. Seine Gedanken rasten. Wo war der zweite Mann?!

»Oder was?« fragte der BMW-Fahrer.

»Oder er schmiert dich mit Fett ein«, sagte eine Stimme hinter Bremer. Womit die Frage beantwortet war, wo sich der zweite Mann aufhielt.

Der Mann im Wagen lachte, griff hinter sich und nahm Bremer den Labello-Stift aus der Hand. Nachdenklich drehte er ihn in den Fingern. »Auch noch so ein billiges Ding«, sagte er kopfschüttelnd. »Ein Neunundneunzig-Pfennig-Sonderangebot, wie? Also allmählich überlege ich mir, ob ich ein bißchen beleidigt sein soll. Ich dachte, ich könnte wenigstens ein Mindestmaß an Respekt erwarten.« Er öffnete die Tür, wartete, bis Bremer einen Schritt zurückgetreten war und schnippte seine Zigarette davon, während er ausstieg.

»Es ist ein Kreuz mit euch Bullen«, seufzte er. »Ihr seid so berechenbar.« Bremer tat einen weiteren Schritt zurück und musterte den Mann aufmerksam. Er war einen guten Kopf größer als er, teuer, aber nicht besonders geschmackvoll gekleidet und von durchtrainierter, sportlich-schlanker Statur. Sein hellblondes Haar war streichholzkurz geschnitten, was seinen Kopf im Verhältnis zu den breiten Schultern unterproportional klein erschienen ließ, und mit Ausnahme der Daumen trug er an jedem Finger einen Ring.

Vorsichtig drehte er sich herum und musterte den zweiten Mann, der hinter ihm aufgetaucht war. Er war von ähnlicher Statur, aber noch größer, und hatte längeres dunkles Haar. »Jetzt sei nicht so unfreundlich zu unserem Gast, Cremer«, sagte er. »Immerhin hat er mir zu einer guten Flasche Scotch verholfen. Aber Sie hätten sich ruhig ein bißchen beeilen können, Bremer. Es ist arschkalt, wenn man hier draußen rumsteht und wartet.«

»Woher ... wußten Sie...?« fragte Bremer zögernd. Seine Gedanken überschlugen sich. Er versuchte unauffällig nach einem Fluchtweg Ausschau zu halten, aber es gab keinen. Cremer stand keinen Meter hinter ihm, und der Langhaarige vor ihm, und die beiden sahen ganz so aus, als ob sie die hundert Meter in weniger als zehn Sekunden laufen könnten: und das so oft hintereinander, wie sie wollten.

Der Langhaarige grinste und schwenkte ein Instrument, das wie eine Mischung aus einem Feldstecher und einer Polaroidkamera aussah. »Es lebe die Technik«, sagte er fröhlich. »Mit diesem Spielzeug hier kann man zwar leider keine Musikvideos empfangen, aber dafür prachtvoll sehen. Selbst bei vollkommener Dunkelheit. Sie hatten Glück, wissen Sie das? Sie wären in dem Nebel da drüben fast in ein Loch gestürzt. Cremer und ich haben schon geknobelt, wer Sie rausholen muß.« Bremer war ziemlich wütend auf sich. Daß die Männer, mit denen er es zu tun hatte, stets mit der allerneuesten Technik ausgerüstet waren, hatte er schließlich gewußt. Wieso zum Teufel war er denn nicht einmal auf den Gedanken gekommen, daß sie auch über etwas so Simples wie ein Nachtsichtgerät verfügten?

»Also?« fragte er. »Was wollt ihr von mir?«

»Wir?« Der Langhaarige legte übertrieben die Stirn in Falten. »Aber ich dachte, Sie wären zu uns gekommen.« Sein Lächeln erlosch übergangslos. Er warf das Nachtsichtgerät schwungvoll an Bremer vorbei in den Wagen deutete zugleich mit der anderen Hand in dieselbe Richtung.

»Jemand möchte Sie sprechen, Herr Bremer. Steigen Sie ein.«

»Und wenn ich nicht will?«

»Steigen Sie trotzdem ein«, antwortete der Langhaarige ernst. »Nur wird es dann etwas unangenehmer für Sie.«

»Dann habe ich wohl keine andere Wahl«, seufzte Bremer. Und trat mit voller Wucht nach hinten aus.

Er wurde mit einem schmerzerfüllten Grunzen belohnt, verlagerte sein Gleichgewicht auf das andere Bein und schoß gleichzeitig eine blitzschnelle rechte Gerade auf das Kinn des Langhaarigen ab. Er war ein wenig erstaunt, wie leicht es ihm fiel; als hätte er nicht vor Jahren, sondern erst gestern seine letzte Trainingsstunde gehabt. Es gibt eben Dinge, die man nie verlernte.

Der Langhaarige machte einen fast behäbigen Schritt zur Seite, hob die linke Hand und fing Bremers Faust damit auf. Seine Finger schlossen sich mit unwiderstehlicher Kraft um Bremers Hand und drückten zu. Bremer keuchte zwar vor Schmerz, schickte aber gleichzeitig einen Schlag mit der Linken hinterher, und der Langhaarige machte eine Bewegung, die noch beiläufiger aussah, und fing auch seine andere Hand auf. Bremer versuchte ihm das Knie zwischen die Beine zu rammen, und der andere vollführte eine blitzschnelle Drehung in den Hüften, so daß Bremers Stoß ins Leere ging, sein eigenes Knie aber Bremers Oberschenkel traf und das Bein nahezu lähmte.

»Ich hatte gehofft, daß Sie das tun«, grinste der Langhaarige. Seine Hände preßten Bremers Fäuste immer stärker zusammen. Bremer keuchte vor Schmerz, sank langsam auf die Knie und krümmte sich, aber der furchtbare Druck auf seine Finger nahm nicht ab, sondern ganz im Gegenteil immer noch weiter zu. Er glaubte, seine eigenen Knochen knirschen zu hören. Der Schmerz war schlimm, aber noch schlimmer waren die Erniedrigung und das Gefühl der Machtlosigkeit.

»Hör auf, Reinhold!« sagte Cremer. »Willst du ihm die Hände brechen? Braun will ihn in einem Stück!«

»Davon hat er nichts gesagt«, antwortete Reinhold, trotzdem ließ er Bremers Hände endlich los, packte jedoch praktisch im gleichen Sekundenbruchteil seine Handgelenke und riß ihn grob in die Höhe. Als er schwankend wieder auf eigenen Füßen stand, boxte ihm Cremer hart in beide Nieren.

Eine Welle von mit Übelkeit gemischtem Schmerz breitete sich explosionsartig in Bremers Körper aus, seltsamerweise von seinem Magen ausgehend, nicht von seinen mißhandelten Nieren. Er spürte, wie alle Kraft aus seinen Beinen wich, brach hilflos in Reinholds Armen zusammen und kämpfte verzweifelt gegen schwarze Schleier der Bewußtlosigkeit, die seinen Geist vernebeln wollten. Es war sinnlos, sich zu wehren, aber gleichzeitig hatte er auch panische Angst davor, in Ohnmacht zu fallen, weil er nicht wußte, was sie ihm antun würden, wenn er hilflos war.

»Das reicht jetzt wirklich«, sagte Reinhold. »Schaff ihn in den Wagen.«

»Der Dreckskerl hat mir einen Zeh gebrochen«, wimmerte Cremer. »Wenn Braun mit ihm fertig ist, will ich ihn wiederhaben!«

Bremer fühlte sich gepackt und herumgerissen. Er öffnete die Augen, sah den Wagen auf sich zufliegen und konnte gerade noch schützend die Hände vors Gesicht reißen, ehe er mit der Dachkante kollidierte.

Ein Wagen näherte sich. Für eine oder zwei Sekunden wurde der BMW in blendendes weißes Licht getaucht, dann quietschten Bremsen, und er konnte hören, wie eine Autotür aufgerissen wurde.

»Was ist denn hier los?« erklang eine Stimme. Sie klang jung, energisch. Die einer Frau.

»Mist!« fluchte Cremer. »Schaff Sie uns vom Hals. Ich kümmere mich um Bremer.« Seine Stimme wurde leiser, schärfer. »Wenn du auch nur ein Wort sagst, breche ich dir den Arm, verstanden?« Bremer nickte. Ihm war noch immer so übel, daß er gar nicht antworten konnte - aber er glaubte Cremer aufs Wort Dem Kerl würde es Spaß machen, ihm wirklich weh zu tun. Das Geräusch der Wagentür erklang erneut, und schnelle, energische Schritte näherten sich.

»Was ist hier los?« erklang die weibliche Stimme von gerade. »Was tun Sie mit dem Mann da?«

Bremer hätte um ein Haar aufgeschrien, als er die Stimme erkannte. Er hob mit einem Ruck den Kopf, und seine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Angelas zitronengelber Fiat Uno stand mit laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern fünf Meter entfernt auf der Straße, und sie selbst kam mit kleinen, schnellen Schritten näher. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck gerechter Empörung, und sie schwenkte kampflustig eine alberne kleine Handtasche.

Reinhold ging ihr lächelnd entgegen und machte mit beiden Händen eine beruhigende Geste. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Wirklich. Unserem Freund ist nur ein bißchen schlecht geworden, das ist alles.« Cremer versuchte die hintere Tür des BMW aufzureißen, hatte aber Probleme damit, weil Bremer sie mit seinem Körper blockierte.

»Schlecht?« fragte Angela. »Lassen Sie mich nach ihm sehen. Ich bin Medizinstudentin im letzten Semester.« Sie kam weiter auf den Wagen zu. Reinhold versuchte ihr den Weg zu vertreten, aber sie glitt mit einer so graziösen Bewegung an ihm vorbei, als wäre sie nur ein Trugbild aus Licht und Schatten. Der Langhaarige brummte ärgerlich, machte einen schnellen, energischen Schritt und ergriff sie am Arm.

»Es ist wirklich alles in Ordnung«, sagte er. Seine Stimme klang gar nicht mehr freundlich. »Wir brauchen keine Hilfe. Unser Freund hat zuviel getrunken, das ist alles!«

»Das sieht mir aber gar nicht danach aus«, antwortete Angela. »Hier stimmt doch etwas nicht! Wenn Sie mir nicht sofort sagen, was hier los ist, rufe ich die Polizei!« Es war Cremer mittlerweile gelungen, die Wagentür aufzubekommen, aber nicht, Bremer hineinzubugsieren. Bremer hatte noch immer Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

Er wagte es nicht, sich Cremer wirklich zu widersetzen, rührte allerdings keinen Finger, um ihm zu helfen.

»Verdammt noch mal!« brüllte Cremer. »Schaff endlich die Kleine weg, und dann hilf mir!« Reinhold drehte für einen Moment den Kopf in ihre Richtung, und das war ein Fehler. Bremer konnte nicht sehen, was Angela tat, aber der Langhaarige war plötzlich ... einfach verschwunden. Bremer hörte ein überraschtes Keuchen, das in einen schweren Aufprall überging, und noch bevor das Geräusch verklang, raste Angela los und stürmte auf Cremer zu.

Cremer ließ seinen Arm los, drehte sich verwirrt herum und zögerte. Nicht lange, vielleicht nur eine halbe Sekunde, aber lange genug. Angela stürmte weiter heran, senkte die Schultern, als wolle sie ihm einfach wie ein Kind beim Torero-Spiel den Kopf in den Leib rammen, und warf sich im letzten Moment zur Seite. Ihr Knie kam hoch und traf mit solcher Wucht in Cremers Magen, daß es sich anhörte wie ein Hammerschlag. Cremer japste, krümmte sich und schlug die Hände vor den Leib, und Angela war mit einer unglaublich schnellen, kraftvollen Bewegung wieder in der Höhe und hinter ihm, riß ihn herum und schmetterte ihn mit solcher Kraft gegen die Beifahrertür, daß das Glas zersplitterte. Cremer verdrehte mit einem wimmernden Laut die Augen und brach zusammen wie eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hatte. Die ganze Aktion hatte weniger als zwei Sekunden gedauert.

Trotzdem vielleicht zu lange. Der zweite Mann hatte sich mittlerweile wieder hochgerappelt und kam heran, und der Vorteil der Überraschung, den Angela bisher gehabt hatte, zählte nun nicht mehr. Reinhold hatte gesehen, was Angela mit seinem Kameraden gemacht hatte, und würde sich von ihrem harmlosen Äußeren nicht mehr täuschen lassen.

Sie versuchte, nach ihm zu treten, aber Reinhold wich der Attacke aus und schlug ihr Bein so hart zur Seite, daß Angela taumelte und um ein Haar gestürzt wäre. Sofort setzte der Langhaarige ihr nach. Angela wich, noch immer um ihr Gleichgewicht kämpfend, zurück, duckte sich unter einem Schwinger hindurch, der so schnell kam, daß Bremer ihn nicht einmal wirklich sah, und bekam dafür Reinholds Knie ins Gesicht. Sie stürzte nach hinten, fing den Sturz mit dem ausgestreckten rechten Arm ab und stieß das linke Bein schräg nach oben in Reinholds Leib. Der Langhaarige grunzte, taumelte breitbeinig drei oder vier Schritte zurück und krümmte sich leicht, fiel aber nicht.

Bremer kam endlich auf die Idee, daß er ihr helfen könnte. Mühsam und mit zusammengebissenen Zähnen stemmte er sich aus dem Wagen, machte einen taumelnden Schritt und blieb wieder stehen, als er ein Stöhnen hörte.

Cremer kam wimmernd zu sich. Er blutete aus einer üblen Schnittwunde auf der Stirn, und sein Gesicht war bereits jetzt angeschwollen und schillerte in allen Farben. Spätestens in ein paar Stunden, dachte Bremer, würde sein Gesicht endgültig zu seinem Charakter passen. Der Agent blinzelte benommen zu ihm hoch. Bremer packte seinen Kopf und knallte ihn so hart mit der Stirn auf den Boden, daß er wieder still lag. Er hatte nicht die Spur von Skrupeln dabei.

Mittlerweile hatte sich Angela wieder aufgerichtet. Reinhold und sie umkreisten sich, Reinhold grätsch-beinig und starr, ganz geballte Kraft und höchste Konzentration. Angela schnell, fließend, mit fast grazilen, huschenden Bewegungen. Angelas Unterlippe war geschwollen und blutete, während der Langhaarige noch immer Schwierigkeiten beim Atmen zu haben schien. So unglaublich es Bremer auch vorkam, hatte er doch das Gefühl, zwei absolut gleichwertige Gegner zu beobachten.

Diesmal war es Reinhold, der angriff. Er sprang vor, täuschte einen Fußtritt gegen Angelas Knie an und schoß im letzten Moment eine rechte Gerade auf ihr Gesicht ab. Angela wich dem Hieb aus, packte sein Handgelenk und schleuderte den Langhaarigen in einem perfekten Judowurf über die Schulter. Reinhold krachte schwer zu Boden, trat aber noch im Fallen aus und erwischte Angelas Wade. Sie torkelte zurück, stürzte ebenfalls und kam im gleichen Moment wieder auf die Füße wie ihr Gegner. Aber irgend etwas stimmte mit ihrem linken Bein nicht. Sie knickte ein, wäre um ein Haar wieder gestürzt und fand nur mit einem raschen Schritt nach hinten ihr Gleichgewicht wieder. Ihre Mundwinkel zuckten vor Schmerz.

Reinhold näherte sich ihr langsam. Seine Bewegungen waren noch immer so kraftvoll und ehrfurchtgebietend wie zuvor, und doch glaubte Bremer ihnen anzumerken, daß er jetzt eine gehörige Portion Respekt vor seiner Gegnerin verspürte.

Als er das nächstemal angriff, versuchte er keine Täuschungsmanöver mehr, sondern setzte ganz auf seine Kraft und seine körperliche Überlegenheit. Er stürmte einfach los, nahm einen brutalen Kniestoß in die Genitalien hin und umschlang Angela mit den Armen. Sie schrie. Reinhold riß sie in die Höhe, wirbelte sie herum und drückte noch fester zu, und Angelas Schrei ging in ein atemloses Keuchen über und verstummte dann ganz. Reinhold verstärkte den Druck seiner Arme noch mehr. Die Muskeln und Sehnen an seinem Hals traten vor Anstrengung hervor, und Bremer glaubte Angelas Rippen und Rückgrat krachen zu hören. Reinhold würde sie töten, wenn sie nicht aufgab, das begriff er plötzlich. Dies war kein fairer Kampf mehr, bei dem es um Sieg oder Niederlage ging. Es ging um Leben und Tod. Er wußte, daß es vollkommen sinnlos war - ohne irgendeine Waffe gab es absolut nichts, was er gegen Reinhold unternehmen konnte. Trotzdem humpelte er los, so schnell es ging. Seine verletzten Nieren kreischten bei jedem Schritt vor Schmerz, und ihm wurde so übel, daß er nach drei Schritten stehenbleiben mußte.

In diesem Moment tat der langhaarige Riese etwas, was ihn wirklich überraschte: Er lockerte seinen Griff gerade weit genug, daß Angela einen einzelnen, qualvollen Atemzug tun konnte, und sagte: »Gib auf, oder ich breche dich in zwei Teile!« Angela gurgelte irgendeine Antwort, die vollkommen unverständlich blieb, riß ihren rechten Arm aus Reinholds Umklammerung und schmetterte ihm die gestreckte Handfläche schräg von unten gegen die Nase.

Reinhold brüllte wie ein verwundeter Stier, taumelte zurück und lockerte seinen Griff noch weiter, und Angela nutzte ihre Chance, sich zwischen seinen Armen hinabgleiten zu lassen. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich abzurollen, und fiel schwer zu Boden, versuchte aber trotzdem noch im Fallen, nach ihrem Gegner zu treten. Sie verfehlte ihn allerdings, denn Reinhold taumelte weiter zurück, verlor endgültig das Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Hintern. Heulend schlug er die Hände vors Gesicht. Zwischen seinen Fingern sprudelte hellrotes Blut hervor. Angela hatte sich auf Hände und Knie erhoben, wollte ganz aufstehen, schaffte es nicht und kroch mit hastigen, ungelenkten Bewegungen vor Reinhold davon.

Mit einemmal war Bremer klar, daß sie sich gegenseitig umbringen würden. Er mußte etwas unternehmen. Er brauchte eine Waffe! Und er wußte auch, wo er sie finden würde.

Noch immer halb blind vor Schmerz drehte er sich wieder herum, schleppte sich zu Cremer zurück und drehte ihn auf den Rücken. Cremers Waffe steckte in einem Schulterhalfter, wie erwartet, aber seine Hände waren noch immer so taub, daß er endlose Sekunden brauchte, um sie herauszuziehen. Zitternd richtete er sich auf, hielt die Waffe in beiden Händen und versuchte, seinen Daumen dazu zu zwingen, den Sicherungshebel umzulegen. Es gelang ihm erst beim dritten Anlauf.

Und es war sinnlos. Als er sich herumdrehte, hatten sich Angela und Reinhold wieder aufgerichtet. Reinhold stand sieben oder acht Meter vor ihm und Angela in gerader Linie dahinter. Wenn er daneben schoß, lief er Gefahr, sie zu treffen. Bremer fluchte lauthals. Er brauchte ein besseres Schußfeld. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte er los. Er versuchte, einen Blick auf Angela zu werfen und wünschte sich fast, es nicht getan zu haben.

Ihr Gesicht war schneeweiß. Ihre Lippe blutete noch heftiger, was ihr etwas von einem asymmetrisch geschminkten furchteinflößenden Clown gab, und in ihren Augen stand ein Ausdruck von großem Schmerz.

Ihr Gegner sah allerdings kaum besser aus. Auch sein Gesicht war blutüberströmt, und er schien ein bißchen Mühe zu haben, sich auf den Beinen zu halten. Der Ausdruck in seinen Augen war jedoch nicht der von Schmerz, wie Bremer bestürzt feststellte, sondern eine Mischung aus Unglauben und immer größer werdender Wut. Wenn überhaupt, dann hatte Angela vor allem seinen Stolz verletzt.

»Das war nicht nett von dir, Kleines«, sagte er, während er sich mit dem Handrücken über den Mund fuhr und anschließend stirnrunzelnd das Blut betrachtete, das auf seiner Hand glänzte.

Angela preßte die linke Hand gegen die Rippen und verzog das Gesicht. »Gib auf«, sagte sie.

Reinhold blinzelte. »Wie?!«

»Du bist zu stark für mich, als daß ich dich schonen könnte«, antwortete Angela. »Gib auf.«

Reinhold lachte. Aber nur kurz; der Laut klang eher wie ein Bellen. Dann machte sich ein Ausdruck von tödlichem Ernst auf seinem Gesicht breit. Er trat einen halben Schritt zurück, spreizte die Beine und breitete die Arme halb aus. Seine Schultern waren leicht nach vorne gebeugt, die Hände zu Fäusten geballt. »Dann zeig mal, was du kannst, Schätzchen«, sagte er.

Angela nickte sehr ernst; fast schon mit einem Ausdruck von Bedauern. Sie erblickte Bremer, schüttelte andeutungsweise den Kopf und wandte sich dann wieder ihrem Gegner zu.

Bremer ließ seine Waffe sinken. Er wunderte sich fast ein bißchen selbst über seine Entscheidung, aber er konnte gar nicht anders, als Angelas Wahl zu akzeptieren - auch wenn er wußte, daß die nächste Runde möglicherweise mit ihrem Tod enden würde. Er würde Reinhold erschießen, falls das geschah.

Angela breitete die Arme aus und hob die Hände, bis sie sich in Kopfhöhe befanden. Ihr Oberkörper begann sich langsam, aber schneller werdend, hin und her zu bewegen gleichzeitig verlagerte sie ihr Körpergewicht im gleichen Takt von einem Bein auf das andere und wieder zurück. Ihre Bewegungen hatten jetzt wieder jene unheimliche, insektenhafte Geschmeidigkeit. Was sie tat, glich viel mehr einem Tanz als der Vorbereitung für einen Angriff. Bremer hatte eine solche Art, sich zu bewegen, noch nie zuvor gesehen.

Dann begriff er, was sie tat. Sie schaukelte sich auf. Ihr Körper bewegte sich immer schneller nach rechts und links, vor und zurück, baute Muskelspannung auf eine Art auf, die Bremer bis zu diesem Moment nicht einmal für möglich gehalten hatte und bewegte sich dabei immer schneller und schneller.

Und auch Reinhold schien zumindest zu ahnen, was kam. Auf seinem blutüberströmten Gesicht erschien zuerst ein Ausdruck von Überraschung, dann von verächtlichem Triumph. Er gab seine grätschbeinige Haltung auf und streckte das linke Bein nach hinten, hob gleichzeitig die Fäuste vor die Brust, und Angela sprang.

Es war das Unglaublichste, was Bremer jemals gesehen hatte. So unglaublich, daß Bremer es nicht einmal glaubte, als er es sah.

Angela katapultierte ihren Körper nahezu senkrecht in die Höhe, drehte sich dann um zwei Achsen zugleich und lag plötzlich waagerecht in der Luft, vollführte eine unmögliche, immer schneller werdende, fünf-, sechs-, siebenfache Pirouette, während der sie sich rasend schnell auf ihren Gegner zuschraubte. Im allerletzten Moment drehte sie sich noch einmal, so daß ihre Beine nach Reinholds Gesicht stießen. Ihr rechter Fuß schmetterte seine abwehrend hochgerissenen Hände zur Seite. Der linke traf einen Sekundenbruchteil später sein Gesicht. Bremer konnte hören, wie Reinholds Kiefer brach.

Der langhaarige Agent brüllte auf, spuckte Blut und zerbrochene Zähne und wurde von den Füßen gerissen. Er flog gute zwei Meter durch die Luft, schlug mit grausamer Wucht auf dem Boden auf und blieb stöhnend liegen. Langsam hob er die Hände und bedeckte sein blutüberströmtes Gesicht. Seine Beine zuckten unkontrolliert.

Bremer humpelte auf Angela zu, die ebenfalls gestürzt war, änderte dann aber seine Richtung, als er sah, daß sie sich schon wieder auf Hände und Knie hochstemmte. So schnell er konnte, eilte er auf Reinhold zu und ließ sich neben ihm auf die Knie herabsinken. Noch vor ein paar Minuten hätte der Agent ihm ohne zu zögern den Schädel eingeschlagen, und Bremer umgekehrt ihm auch. Jetzt wollte er nichts anderes, als ihm irgendwie helfen. Seine Verwundung hatte ihn verändert; von einem Feind war er zu einem Menschen geworden, der litt, und irgendein uralter, sinnvoller Mechanismus in Bremers Seele sorgte dafür, daß der Wunsch, dieses Leiden zu beenden, zumindest für den Moment stärker war als sein Haß.

Aber es gab nicht viel, was er für ihn tun konnte. Eigentlich gar nichts.

Bremer verstand nicht allzu viel von Erste Hilfe. Die Kunden, mit denen er es normalerweise zu tun hatte, benötigten sie im allgemeinen nicht mehr. Aber man mußte auch kein ausgebildeter Rettungssanitäter sein, um zu erkennen, daß es Reinhold wirklich übel erwischt hatte. Sein Unterkiefer und möglicherweise auch ein Teil des Oberkiefers waren zertrümmert. Sein ganzes Gesicht wirkte deformiert, sein offenstehender Mund war schwarz vor Blut. Bremer konnte nicht sagen, ob er noch bei Bewußtsein war oder nicht. Er stöhnte leise, und seine Atemzüge wurden von einem schrecklichen Blubbern und Gurgeln begleitet. Bremer begriff, daß er in Gefahr war, an seinem eigenen Blut zu ersticken.

Hastig legte er die Pistole zu Boden und drehte Reinhold in eine stabile Seitenlage; alles, was er im Moment für ihn tun konnte. Reinhold wimmerte, spuckte Blut und Schleim und ballte die Hände vor dem Gesicht zu Fäusten. Wenn er bei Bewußtsein war, dann in einem Zustand, der dem Koma näher kam als irgend etwas anderes.

Er hörte Schritte, sah aber erst auf, als Angela sich neben ihm in die Hocke sinken ließ und ihr Schatten über Reinholds Gesicht fiel.

»Warum hast du das getan?« fragte er.

Angela sah ihn stirnrunzelnd an. Sie hatte die Hand nach Reinholds Gesicht ausgestreckt, zog sie nun aber wieder zurück und fragte: »Was glaubst du, was er mit mir gemacht hätte, hätte ich ihn gelassen?«

Bremer hatte gesehen, was der Agent Angela um ein Haar angetan hätte. Sein logisches Denken sagte ihm mit einer Klarheit, die keinen Widerspruch duldete, daß Angela gar keine andere Wahl gehabt hatte. Reinhold hätte sie umgebracht, hätte sie ihm die Gelegenheit dazu geboten. Aber das war nur die eine Seite. Daneben gab es noch eine andere, die zumindest im Moment stärker war als jede Logik, die auf die zertrümmerte Maske herabsah, die einmal ein menschliches Gesicht gewesen war, und die sich vor Entsetzen zusammenzog, wenn sie an die gnadenlose Brutalität zurückdachte, mit der Angela gekämpft hatte. Sie hatte nicht gekämpft, wie ein Mensch kämpfen sollte. Sie hatte sich nicht einmal bewegt, wie sich ein Mensch bewegen sollte.

Angela schien zu spüren, daß das nicht die Antwort war, die er hatte hören wollen, denn ihr Blick wurde härter. Zwei, drei Sekunden lang sah sie ihn kalt an, dann ließ sie ihren Blick für die gleiche Zeit auf der Waffe ruhen, die er zwischen seinen Knien abgelegt hatte, und sagte ruhig: »Ich schätze, ich habe ihm das Leben gerettet.«

Bremer fand diese Antwort einfach nicht fair. Richtig, zwingend, aber einfach nicht fair.

Angela blickte ihn noch zwei oder drei Sekunden weiter auf diese schreckliche, kalte Art an, dann hob sie die Augenbrauen, als hätte sie sich selbst in Gedanken eine Frage gestellt und zugleich auch beantwortet, und wandte sich wieder dem verletzten Agenten zu. Ihre Fingerspitzen fuhren ganz sacht über Reinholds Gesicht, berührten sein Kinn, den zerbrochenen Kiefer und das Wangenbein und zogen sich wieder zurück, und etwas beinahe Unheimliches geschah: Reinhold hörte auf zu wimmern. Sein pfeifender Atem beruhigte sich, und Bremer konnte regelrecht sehen, wie die Spannung aus seinem Körper wich.

»Wie ... hast du das gemacht?« fragte er fassungslos.

»Ich habe heilende Hände«, antwortete Angela. Sie seufzte. »Mehr kann ich nicht tun. Wir rufen ihm einen Krankenwagen, sobald wir unterwegs sind. Komm jetzt.« Während sie sprach, hatte sich ihre Stimme verändert, etwas von der alten Leichtigkeit war jetzt wieder darin, auch wenn sie Bremer im Moment ziemlich unpassend erschien. Sie stand auf, und auch Bremer erhob sich und steckte in der gleichen Bewegung die Waffe ein, die er Cremer abgenommen hatte. Automatisch wollte er sich nach links wenden, wo Angelas Fiat stand, aber sie schüttelte den Kopf und deutete auf den BMW.

»Wir nehmen den«, sagte sie. »So eine Angeberkarre wollte ich immer schon mal fahren.« Sie lief um den Wagen herum, warf sich hinter das Steuer und startete den Motor, noch bevor Bremer die Beifahrertür öffnen und ebenfalls Platz nehmen konnte. Ihr Fuß spielte nervös mit dem Gas. Die ungezählten PS des BMW brüllten laut genug auf, um auch noch den letzten Schläfer im Umkreis von hundert Metern zu wecken, und Bremer beobachtete etwas, was ihm angesichts ihrer Situation einfach nur absurd vorkam: Angela hatte offensichtlich die Wahrheit gesagt, was ihre Begeisterung für diesen Wagen anging. Ihre Augen leuchteten, und ihre Hände öffneten und schlossen sich im gleichen Takt um das lederbezogene Lenkrad, in dem ihr Fuß mit dem Gas spielte. Es erschien ihm fast unglaublich, daß das die gleiche junge Frau sein sollte, die noch vor drei Minuten vor seinen Augen einen hochtrainierten Nahkampfspezialisten auseinandergenommen hatte. Was er im Moment vor sich sah, das war ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hatte, und darauf brannte, es auszuprobieren. Und es tat.

Er zog die Tür hinter sich zu, und Angela trat das Gaspedal des BMW warnungslos bis zum Boden durch und ließ zugleich die Kupplung springen. Der Wagen machte einen Satz, der ihn nicht nur bis zur Mitte der Straße katapultierte, sondern Bremer auch so tief in die Sitzpolster preßte daß ihm die Luft wegblieb, und stellte sich mit durchdrehenden Hinterrädern quer. Unter seinem Heck quoll hellgrauer Qualm hervor.

»Ups!« sagte Angela lachend. »Das war vielleicht ein bißchen heftig. Großer Gott, hat die Kiste eine Power!«

Bremer arbeitete sich mühsam wieder in die Höhe und starrte sie böse an. »Willst du zu Ende bringen, was diese beiden Idioten angefangen haben?« fragte er.

»Schnall dich an«, grinste Angela - und gab Gas.

Bremer griff hastig nach dem Sicherheitsgurt, stemmte die Füße gegen das Bodenblech und hielt den Atem an, bis der Verschluß eingerastet war. Die Kirche war längst hinter ihnen zurückgefallen, und einen Kilometer vor ihnen konnte Bremer ein Stopschild im Licht des Scheinwerfers erkennen. Angela gab erbarmungslos weiter Gas. Der Motor kreischte, und die Häuser rechts und links der Straße bemühten sich, zu ineinanderfließenden Schemen zu werden. Selbst Bremer, der nichts von Autos verstand, begann sich zu fragen, was für eine Maschine unter der Haube des BMW arbeitete. Das Ding beschleunigte wie ein Flugzeug!

»Angela!« sagte er vorsichtig.

»Nimm das Handy.« Sie deutete auf den Apparat, der am Armaturenbrett befestigt war. »Ruf einen Krankenwagen für die beiden.« Bremer löste das Handy aus seiner Halterung, tippte die 110 ein und zögerte noch einmal. Das Stopschild huschte an ihnen vorbei, ohne daß Angela auch nur den Fuß vom Gas nahm. »Soll ich gleich noch einen zweiten Krankenwagen für uns bestellen?« fragte er. »Das da gerade war ein Stopschild!«

»Die gelten ab drei Uhr nachts nicht mehr«, antwortete Angela grinsend. »Ruf an. Der arme Kerl braucht dringend einen Arzt.«

Bremer drückte die Ruftaste. Als sich der Diensthabende meldete, bestellte er einen Krankenwagen an die Adresse der Straße, auf der sie gerade abgehoben hatten, ignorierte die Frage nach seinem Namen und hängte ein.

»Bitte fahr langsamer«, bat er. »Mir wird schlecht.« Das entsprach sogar der Wahrheit, hatte aber wohl weniger mit Angelas Fahrstil zu tun: Seine Nieren taten so erbärmlich weh, daß er am liebsten laut losgeheult hätte.

»Feigling!« lachte Angela. Vermutlich nur, um ihn zu ärgern, gab sie noch mehr Gas, katapultierte den Wagen mit kreischenden Reifen über eine rote Ampel und trat anschließend so hart auf die Bremse, daß Bremer in den Sicherheitsgurt geworfen wurde. Aber als er sich wieder hochrappelte, rasten sie wenigstens nicht mehr mit hundertdreißig Stundenkilometern durch das nächtliche Berlin, sondern nur noch mit siebzig, vielleicht achtzig.

»Entschuldige«, sagte Angela, »aber das habe ich jetzt gebraucht. Davon habe ich schon lange geträumt, weißt du? Diese Dinger sind unvernünftig, gefährlich und dumm - aber sie machen einfach Spaß!«

»Ach?« sagte Bremer säuerlich.

Angela warf ihm einen raschen Blick zu. Sie sagte nichts, nahm den Fuß aber weiter vom Gas, bis sie nur noch mit knapp fünfzig Stundenkilometern dahinrollten. Bremer dankte ihr in Gedanken, drehte sich im Sitz herum und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.

»Was ist mit deinem Wagen?« fragte er.

»Jemand wird ihn schon finden und abschleppen lassen«, antwortete Angela achselzuckend. »Und wenn nicht, melde ich ihn eben als gestohlen... Ich kenne da einen Polizisten, der mir bestimmt bei den Formalitäten helfen wird.«

»Ex-Polizisten«, verbesserte sie Bremer. »Jedenfalls bald.«

Angela ging vorsichtshalber nicht darauf ein. »Wie geht es deinen Nieren?« fragte sie.

Bremer fragte sich, woher sie von seinem Problem wußte. Sie war erst aufgetaucht, nachdem Cremer ihn zusammengeschlagen hatte. »Danke«, sagte er. »Sie tun ziemlich weh. Vor allem, wenn mich jemand daran erinnert.«

Angela lächelte. »Ich sehe sie mir nachher an«, sagte sie. »Du weißt ja, ich habe heilende Hände.« Sie verzog das Gesicht, betastete mit spitzen Fingern ihre geschwollene Unterlippe und drehte den Rückspiegel so, daß sie sich selbst darin betrachten konnte. Wenn sie jetzt noch einen Lippenstift aus der Handtasche zieht, dachte Bremer, dann wäre das typische Klischee von der Frau am Steuer perfekt. Statt dessen stieß Angela einen wenig damenhaften Fluch aus und knetete weiter ihre Unterlippe. »Verdammt, noch mal!« schimpfte sie. »Jetzt schau dir an, was der Kerl mit mir gemacht hat! Spätestens morgen früh werde ich aussehen wie der Glöckner von Notre-Dame! Ich hätte diesem Mistkerl noch ein paar Zähne mehr ausschlagen sollen!«

»Ich bin nicht ganz sicher, ob er noch welche übrig hatte«, antwortete Bremer. »Deine Hände können offensichtlich nicht nur heilen.«

»Ich habe ihn gewarnt«, sagte Angela. »Er hätte auf mich hören sollen. Einen schwachen Gegner zu schonen ist leicht. Er war nicht schwach.« Ihre Worte jagten Bremer einen eisigen Schauer über den Rücken, und für einen Moment sah er Angela wieder als das, was sie auch war: Ein ... Ding, das so schnell und gnadenlos töten konnte wie eine Spinne, die lautlos in ihrem Netz lauerte. Er verscheuchte das Bild. Es gefiel ihm nicht.

»Das, was du vorhin angewendet hast«, begann er vorsichtig. »Diese Kampftechnik. Was war das?«

»So etwas lernt man im ersten Semester auf der Schule für Schutzengel«, antwortete Angela spöttisch. »Nur für den Fall, daß man starrsinnigen alten Männern den Hals retten muß, die glauben, sich ganz allein mit dem Rest der Welt anlegen zu können. So etwas soll vorkommen, weißt du?«

»Ich meine es ernst«, sagte Bremer.

Angela sah ihn stirnrunzelnd an. »Warum interessiert dich das?«

»Ich habe früher einmal geboxt«, antwortete Bremer. »Und in meiner Jugend war ich ein großer Bruce-Lee-Fan. Ich kenne alle seine Filme auswendig, und die mit Chuck Norris auch. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Und es hat dich beeindruckt«, vermutete Angela.

»Es hat mich erschreckt«, korrigierte sie Bremer.

»Weil es so effektiv war?«

»Weil es so grausam war.«

Angela seufzte. Sie konzentrierte sich weiter auf die Straße, aber Bremer sah, daß der Ausdruck von Spott auf ihrem Gesicht erlosch. »Du verwechselst Grausamkeit mit Kompromißlosigkeit«, sagte sie. »Wie die meisten. Was du gesehen hast, war nicht grausam. Es war konsequent.«

»Es war...«

»Du hast noch niemals wirklich gekämpft, habe ich recht?« unterbrach ihn Angela.

»Ich dachte, ich hätte dir gerade erzählt...«

»Daß du früher einmal geboxt hast, ja.« Daß sie ihn zum zweitenmal innerhalb weniger Sekunden unterbrach, sagte mehr über ihre Verfassung aus, als ihr vermutlich bewußt war. Von ihrem Lächeln oder gar dem Spott in ihrer Stimme war nichts mehr geblieben. »Das habe ich nicht gemeint. Das ist ein Spiel. Manchmal tut ihr euch dabei weh. Manchmal wird sogar jemand verletzt, aber es bleibt ein Spiel. Du hast niemals wirklich gekämpft, habe ich recht?« Bremer schwieg, und Angela sagte nach einer Sekunde noch einmal und in verändertem, bitterem Tonfall: »Du hast niemals wirklich gekämpft. Du weißt nicht einmal, was das ist. Ich schon. Ich habe es gelernt. Du greifst an, der andere verteidigt sich, du greifst härter an. So einfach ist das. Es ist nicht wie in deinen Boxkämpfen. Und auch nicht wie in deinen Filmen, weißt du? Es geht nicht um Fairneß oder Anstand, sondern nur um Leben oder Tod.« Es hätte eine Menge gegeben, was er darauf hätte sagen können, aber er schwieg. Angelas Worte hatten ihn auf eine seltsame Weise berührt. Wäre sie nur ein paar Jahre jünger gewesen, hätte er sie einfach als lächerlich empfunden; genau die Art von pseudointellektuellem Geschwafel, mit dem man pickelgesichtige Fünfzehnjährige beeindrucken konnte. Wäre sie mehr als nur ein paar Jahre älter gewesen, dann hätten ihn diese Worte vielleicht beeindruckt. So ... verunsicherten sie ihn. Obwohl er noch das Gefühl hatte, einen Dialog aus einem billig heruntergedrehten und noch schlampiger synchronisierten Eastern zu lauschen, enthielten sie trotzdem ein Quentchen Wahrheit, das ihm unangenehm war.

Aus keinem anderen Grund als dem, das Thema zu wechseln, räusperte er sich ein paarmal und fragte dann:

»Woher wußtest du überhaupt, wo ich bin?«

»Ich wußte es nicht«, antwortete Angela offen heraus »Ich habe dich beschattet.«

»Die ganze Zeit?« Er hatte nichts davon bemerkt, was bedeutete, daß sie sich zumindest nicht allzu ungeschickt angestellt hatte.

»Beinahe die ganze Zeit. Nachdem du in der Kirche verschwunden warst, habe ich die beiden Kerle in dem BMW beschattet. Was hattest du eigentlich vor?«

»Vor?«

»Wenn es dir gelungen wäre, sie zu überrumpeln.«

Bremer hob die Schultern. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. So weit habe ich nicht geplant.«

»Ich verstehe«, grummelte Angela. »Du legst dich immer mit hochtrainierten Profischlägern an, ohne einen Plan zu haben.«

»Kein Plan ist oft der beste«, antwortete Bremer verärgert. Angelas Überheblichkeit ärgerte ihn - vor allem, weil sie berechtigt war. »Eigentlich solltest du das wissen, wo du doch so auf fernöstliche Kampfkunst stehst. Keine Strategie übersteht den ersten Kontakt mit dem Feind.«

»Also ist es nur konsequent, erst gar keine zu haben.« Angela schüttelte seufzend den Kopf. »Wie alt bist du eigentlich?«

»Auf jedem Fall alt genug, um dein Vater sein zu können«, sagte Bremer zornig. »Was soll das?«

»Oh, nichts«, antwortete Angela achselzuckend. »Ich frage mich nur, wie du mit dieser Einstellung so alt geworden bist. Die beiden hätten dich fertiggemacht, selbst wenn du eine richtige Waffe gehabt hättest.«

»Woher weißt du das?« fragte Bremer rasch.

»Was?«

»Daß ich keine richtige Waffe hatte. Du warst nicht einmal in der Nähe!«

»Deine Pistole liegt immer noch in deinem Schreibtisch«, antwortete Angela. »Und ich glaube nicht, daß dir Vater Thomas mit einer Schußwaffe aushelfen konnte. Also mußtest du bluffen. Was hast du benutzt? Einen Stock?«

»Einen Labello-Stift«, gestand Bremer. Er glaubte ihr kein Wort. Ihre Erklärung klang einleuchtend und logisch, und trotzdem überzeugte sie ihn nicht.

Das Telefon schrillte. Bremer hob ganz automatisch die Hand, um danach zu greifen, aber Angela schüttelte rasch den Kopf und schaltete das Gerät aus.

»Warum hast du das getan?« fragte Bremer.

»Man kann die Dinger anpeilen«, antwortete Angela. »Ich hätte gleich daran denken sollen. Meine Schuld ... oder erwartest du zufällig einen dringenden Anruf?« Bremer runzelte ärgerlich die Stirn. Angelas Stimme hatte wieder den flapsigen Ton angenommen, den er von ihr gewohnt war. Aber jetzt, wissend, wozu sie in der Lage war, funktionierte er einfach nicht mehr. Wahrscheinlich würde er sie nie wieder so sehen können, wie er es bisher getan hatte.

»Also gut«, sagte er. »Jetzt, nachdem wir dafür gesorgt haben, daß uns niemand aufspüren kann: Wohin fahren wir?«

»Keine Ahnung«, antwortete Angela. »Ich bin nur das mobile Einsatzkommando. Du bist der Pfadfinder.«

Und damit war er wieder so schlau wie vor einer Stunde.

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