20


Hinter ihm hatte etwas geklappert. Nicht sehr laut, und nur für einen kurzen Moment, aber doch lange genug, um ihn für einen Moment abzulenken. Das Präzisionsgewehr in Ostners Händen schwankte zwei, drei Millimeter. Kaum sichtbar, und doch heftig genug, daß der rote Punkt im Zentrum des Zielfernrohres für drei oder vier Sekunden nicht mehr auf Bremers Brust verharrte, sondern hektisch über Mobiliar, Fensterscheiben und die sorgsam gestutzten Grünpflanzen des Dachgartens irrte, ehe es ihm gelang, die Waffe wieder fester zu ergreifen und den Laserpunkt auf sein ursprüngliches Ziel auszurichten.

Ostner fluchte lautlos in sich hinein. Es waren nur ein paar Sekunden gewesen, und er hoffte, daß Braun es nicht bemerkt hatte, war aber in diesem Punkt nicht allzu optimistisch. Braun gehörte zu jenen Menschen, die prinzipiell alles merkten, was sie nicht mitbekommen sollten. Außerdem war er vollkommen unberechenbar. Ostner hatte schon erlebt, daß er manchmal wirklich schlimme Fehler vergab und mit einem Achselzucken darüber hinwegging. Aber auch, daß er bei einer lächerlichen Kleinigkeit einen regelrechten Wutanfall bekam.

Seine Hände begannen allmählich steif zu werden. Er hatte die Waffe nicht auf das Stativ gestellt, sondern zielte freihändig; bei einer Entfernung von weniger als fünfzig Metern kein Problem. Der Laserpunkt im Zentrum des Fadenkreuzes zitterte nur ganz sacht. Die Waffe war so perfekt ausbalanciert, daß er ihr Gewicht normalerweise kaum spürte. Und er war ein wirklich ausgezeichneter Schütze. Aber es war viel kälter, als er erwartet hatte. Der Regen hatte zwar aufgehört, aber es war noch immer so feucht, daß seine Kleider bereits an seiner Haut klebten. Er würde diese Position nicht mehr allzu lange aushalten. Und er hatte keine Ahnung, wie lange es noch dauerte.

Er wußte nicht einmal so ganz genau, was er eigentlich tun sollte. Brauns Anweisungen waren ungewohnt vage gewesen. Strohm und er sollten Bremer auf der Stelle erschießen, wenn dort drüben irgend etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Was zum Teufel hatte er damit gemeint? Sollten sie ihn abknallen, wenn er sich am Hintern kratzte, oder doch besser abwarten, bis dort drüben eine Horde säbelschwingender Türken auftauchte? Ostner verfluchte sich dafür nicht um präzisere Anweisungen gebeten zu haben, sagte sich gleichzeitig aber auch selbst, daß er wahrscheinlich keine bekommen hätte. Er hatte Braun selten so reizbar und nervös erlebt wie an diesem Abend. Auf jeden Fall schien die Situation dort drüben allmählich zu eskalieren. Vor zwei oder drei Minuten hatte Braun den Professor erschossen, so wie Ostner das erkennen konnte, ohne besonderen Anlaß. War das nicht in Ordnung genug, um seinem Befehl nachzukommen und Bremer ins Jenseits zu befördern?

Einer der beiden roten Punkte in seinem Zielfernrohr erlosch. Ostner runzelte die Stirn, bewegte ganz sacht seine Waffe, um sich davon zu überzeugen, daß es nicht etwa sein eigener Ziellaser war, der im unpassendsten aller Momente den Geist aufgegeben hatte, und stellte fest, daß es nicht so war. Halblaut rief er Strohms Namen.

Er bekam keine Antwort, aber das Klappern hinter ihm wiederholte sich, dann hörte er einen sonderbaren, seufzenden Laut, gefolgt von einem Geräusch wie zerreißendes, nasses Papier.

»Strohm?« rief er noch einmal. »Verdammt noch mal, was ist los?« Er bekam immer noch keine Antwort.

Ohne die Waffe von ihrem Ziel zu nehmen, drehte Ostner den Kopf, um nach seinem Kollegen zu sehen, der nur ein paar Meter entfernt Stellung bezogen hatte.

Und erstarrte. Im Gegensatz zu ihm hatte Strohm sein Gewehr auf ein Stativ gesetzt, um einen präzisen Schuß anbringen zu können. Die Waffe lag auf der Seite; eines der beiden dünnen Metallbeine des Stativs war verbogen, und ihr Besitzer lag ein Stück daneben auf dem Rücken und versuchte röchelnd, Luft zu holen. Es gelang ihm nicht, denn seine Kehle war von einem Ende zum anderen aufgeschlitzt.

Das Ding, das das getan hatte, stand breitbeinig über ihm und schien gerade damit beschäftigt zu sein, ihn auszuweiden. Ostner konnte nicht genau erkennen, was es tat, aber dieses schreckliche Reißen und Fetzen hielt an, ein widerwärtiges, feuchtes Geräusch, das allein ihm schier das Blut in den Adern gerinnen ließ.

Er konnte auch nicht genau erkennen, um was für ein Geschöpf es sich handelte. Gewiß kein Mensch. Dazu war es zu groß, und sein Umriß stimmte nicht. Es schien Flügel zu haben. Für einen Moment hatte Ostner das absurde Gefühl, eine Art riesigen, grotesk verzerrten Engel zu sehen.

In seinem Kopfhörer knackte es, dann ertönte Brauns aufgeregte, verzerrte Stimme: »Einheit drei! Was ist bei euch los?« Ostner war nicht fähig, irgendwie darauf zu reagieren. Aber die Kreatur schien die Worte gehört zu haben, denn sie hörte abrupt auf, Strohms Gedärme neu anzuordnen. Ihr Kopf flog in die Höhe, und der Blick ihrer grausamen Augen bohrte sich in den Ostners.

Es war kein Engel.

»Einheit drei!« blaffte Braun. »Was zum Teufel ist bei euch los? Antwortet!«

Das Wesen richtete sich auf. Es war größer, als Ostner geglaubt hatte. Viel, viel größer. Mit einem grotesk wirkenden, staksenden Schritt trat es über Strohm hinweg und streckte seine dürren Klauen aus.

Ostner erwachte endlich aus seiner Erstarrung, wälzte sich blitzschnell auf den Rücken und versuchte seine Waffe hochzureißen.

Es war zu spät. Die Kreatur riß ihm das Gewehr aus den Händen, brach es in zwei Teile und stürzte sich auf ihn. Ihre Klauen blitzten auf wie Messer. Das gräßliche, reißende Geräusch erklang erneut, und Ostner spürte eine seltsam distanzierte Art von brennendem Schmerz, der überall zugleich in seinem Körper aufzuflammen schien.

Das letzte, was er sah, bevor sein Sturz in den endlosen lichterfüllten Tunnel begann, war der Anblick der grotesken Kreatur, die sich neben ihm von der Dachrinne abstieß und ihre gewaltigen Schwingen ausbreitete.

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