11


»Was zum Teufel war jetzt schon wieder los?« Brauns Stimme war nur noch einen Deut davon entfernt, in ein lächerlich-hysterisches Quietschen umzuschlagen und ihre Lautstärke höchstens noch ein halbes Dezibel davor, wirklich zu schreien. Er stürmte mit gesenkten Schultern und kampflustig vorgerecktem Kinn herein und versuchte, die Tür hinter sich zuzuwerfen, vermutlich um seinem Auftritt auf diese Weise noch mehr Nachdruck zu verleihen. Da die Tür aus zwölf Zentimeter dickem Panzerstahl bestand und annähernd eine Tonne wog, mißlang der Versuch kläglich - Braun wurde von seiner eigenen Kraft zurückgerissen und stürzte mehr ins Labor hinein, als er ging, bevor es ihm gelang, sein Gleichgewicht mit einem raschen Schritt zurückzuerlangen. Wäre die letzte halbe Stunde nicht gewesen, hätte es absolut lächerlich ausgesehen.

Weder Mecklenburg noch seinen beiden Assistenten war im Moment allerdings zum Lachen zumute.

»Verdammt noch mal!« polterte Braun weiter. »Muß ich hier wirklich alles selbst machen? Kann man euch nicht einmal einen einzigen Abend allein lassen, ohne daß sofort eine Katastrophe losbricht?!« Er redete Unsinn. Mecklenburg wußte es, und Braun wußte natürlich auch, daß Mecklenburg es wußte. Braun war so nervös (und erschrocken) wie sie alle. Sein Wutausbruch war eben nur seine ganz persönliche Art, mit dem Schrecken fertig zu werden. Was es allerdings kein bißchen leichter machte, ihn zu ertragen. Mecklenburgs Assistenten zogen erschrocken die Köpfe ein und taten ihr Möglichstes um auf der Stelle unsichtbar zu werden, und selbst Mecklenburg fiel es schwer, Brauns Blick standzuhalten. Offensichtlich bekam er an diesem Abend nicht nur eine Lektion über die Grenzen seiner Fähigkeiten als Wissenschaftler, sondern auch als Mensch. Noch vor einer Stunde hatte er geglaubt, Braun trotzen zu können. Schließlich war er sein Auftraggeber, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das war die Theorie. In der Praxis war es ein ziemlich beunruhigendes Gefühl, einem Mann gegenüberzustehen, der nicht nur buchstäblich Macht über Leben und Tod hatte, sondern von dem er auch wußte, daß ihm ein Menschenleben nicht besonders viel galt. Der lebende Beweis (lebend?) dafür befand sich in dem schwarz verchromten Sarkophag auf der anderen Seite der Glasscheibe.

Braun gab es endlich auf, eine Tür zuknallen zu wollen, die sich nicht zuknallen ließ, fuhr mit einer wütenden Bewegung auf dem Absatz herum und sah sich kampflustig um. »Also?!«

»Es ist ... alles wieder in Ordnung.« Es war schon fast grotesk: Mecklenburg brauchte fast eine Sekunde, um zu begreifen, daß es nicht seine Stimme war, die geantwortet hatte, sondern die Grinners.

Braun schien es wohl ähnlich zu ergehen, denn er würdigte ihn nicht einmal eines Blickes, sondern fuhr direkt an ihn gewandt und in kaum weniger scharfem Ton fort: »Ich habe nicht gefragt, was jetzt los ist. Ich habe gefragt, was war.«

»Das wissen wir nicht.« Mecklenburg kam zu dem Schluß, daß er nur eine einzige Wahl hatte, nämlich die, in die Offensive zu gehen. Er stand auf, konnte gerade noch dem Wunsch widerstehen, sich zu räuspern, um seiner Stimme mehr Sicherheit zu verleihen, und schlug mit der flachen Hand wahllos auf einen der Computerbildschirme vor sich. »Wir werten noch die Daten aus. Eine Menge Daten. Es wird eine Weile dauern.« Braun war nicht in der Stimmung für Wortklauberei. Er mußte es nicht sagen. Sein Blick sprach Bände. »Es hat vor zwanzig Minuten angefangen.« Grinner verbesserte sich. »Fünfundzwanzig. Seine zerebralen Aktivitäten sind plötzlich angestiegen.« Das war die Untertreibung des Jahres, dachte Mecklenburg. Ebensogut hätte man sagen können, daß es auf der Sonne warm wäre. Er kam nicht dazu, Grinner zu korrigieren (Er würde den Teufel tun, verdammt noch mal!), aber Brauns Aufmerksamkeit verlagerte sich endlich von ihm zu seinem unglückseligen Assistenten - der ganz offensichtlich keine Ahnung hatte, worauf er sich einließ. Es gab Menschen, deren Aufmerksamkeit man besser nicht weckte, und Braun gehörte dazu. Er führte diese Spezies an.

»Was genau soll das heißen: Plötzlich angestiegen?« Braun sah sich kampflustig um, konzentrierte seine Aufmerksamkeit aber praktisch sofort wieder auf Grinner. »Nur damit wir uns richtig verstehen: Der Mann da drinnen hat vor anderthalb Jahren den letzten Atemzug aus eigener Kraft getan. Medizinisch gesehen ist er tot.« Er ging mit schnellen Schritten auf die Trennscheibe zu, blieb in einem guten Meter Abstand davor stehen und ließ zwei oder drei weitere Sekunden verstreichen, ehe er fortfuhr: »Jedenfalls haben Sie mir das gesagt, Doktor Mecklenburg.«

»Ich habe nichts dergleichen gesagt«, murmelte Mecklenburg. Jedenfalls wollte er es murmeln.

Offensichtlich hatte er aber doch laut genug gesprochen, um verstanden zu werden, denn Braun antwortete: »Ich darf zitieren, Doktor? Ein lebender Leichnam, Herr Braun - wobei ich das lebend nicht unbedingt unterschreiben würde. Strenggenommen sind es zweihundert Pfund biologischer Abfall, die nur von unserer Technik vor dem Verfall bewahrt werden.« Mecklenburg war verblüfft. Das war nicht nur sinngemäß, sondern wortwörtlich das, was er zu Braun gesagt hatte; und das vor etlichen Monaten. Braun mußte entweder über ein fotografisches Gedächtnis verfügen, oder seine Worte hatten ihn mehr beeindruckt, als Mecklenburg seinerzeit klar gewesen war. Er hatte sie eigentlich nur so daher gesagt, ohne sich viel dabei zu denken. Sie waren nicht einmal hundertprozentig korrekt gewesen.

»Nun, Doktor?« fuhr Braun fort, als Mecklenburg auch nach einigen Sekunden noch nicht antwortete.

»Das ist nicht so einfach zu erklären«, sagte Mecklenburg. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Noch nicht. Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten.«

»Gar nichts?« Braun fuhr mit einer so abrupten Bewegung herum, daß Mecklenburg erschrocken zusammenzuckte und nur noch mit Mühe den Impuls unterdrücken konnte, einen Schritt vor ihm zurückzuweichen. Braun sagte nichts weiter. Er erklärte seinen plötzlichen Ausbruch nicht, und er hatte sich in der nächsten Sekunde auch schon wieder in der Gewalt. Aber die Art, auf die er auf Mecklenburgs einfach so dahingeworfene Bemerkung reagiert hatte, machte diesem zweifelsfrei eines klar: Irgend etwas war passiert. Braun war nicht nur so wütend gewesen, weil sie ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hatten. Ja, er war plötzlich sicher, daß sein nächtlicher Anruf nicht einmal der Grund für Brauns Gereiztheit war. Irgend etwas war passiert. Etwas, von dem Mecklenburg keine Ahnung hatte - und das Braun bis ins Mark erschüttert haben mußte und ihn fast wahnsinnig vor Angst werden ließ.

Braun sprach nichts davon aus. Er gab sich sogar mit Erfolg Mühe, sich nichts von seinen Gefühlen anmerken zu lassen. Aber Mecklenburg begriff das alles in der einzigen Sekunde, in der sich ihre Blicke begegneten. Dann hatte sich Braun auch mit den Dingen, die er nicht aussprach, wieder vollkommen unter Kontrolle, und der verräterische Ausdruck in seinen Augen erlosch. Was in Mecklenburg zurückblieb, war tiefe Verunsicherung. Ein sehr unangenehmes Gefühl. Er war nicht wirklich erschrocken, aber er ahnte, daß er jeden Grund gehabt hätte, erschrocken zu sein, wenn er nur die ganze Wahrheit gewußt hätte.

Die Stille begann unangenehm zu werden. Mecklenburg räusperte sich und setzte dazu an, etwas zu sagen, und der übereifrige Grinner ergriff die Gelegenheit beim Schopf, sich wieder in den Vordergrund zu spielen - diesmal sogar in ganz körperlichem Sinne: Er trat mit einem schnellen Schritt zwischen Braun und Mecklenburg, so daß er den Blickkontakt zwischen ihnen unterbrach, und sagte: »Was Professor Mecklenburg sagen will, ist, daß wir noch nicht genau wissen, was dieser Zwischenfall zu bedeuten hat. Vielleicht nichts, vielleicht eine Menge. Vergleichen Sie ihn mit einem Menschen, der sehr tief schläft. Die meiste Zeit liegt er vollkommen ruhig da. Man muß schon sehr genau hinsehen, um festzustellen, daß er überhaupt noch am Leben ist. Aber manchmal regt er sich eben. Wahrscheinlich hat er nur einen Alptraum gehabt. Die ersten Male war es nicht so schlimm wie heute, aber...«

»Die ersten Male?« Braun zog die linke Augenbraue hoch. »Soll das heißen, das ist schon einmal passiert?« Grinner tauschte einen verwirrten Blick mit Mecklenburg, erntete aber nur einen stoischen Gesichtsausdruck. Mecklenburg würde den Teufel tun und sich einmischen. Er hatte in seinem Leben genug Erfahrungen mit hoffnungsvollen jungen Wissenschaftlern gemacht, deren Ehrgeiz in keinem guten Verhältnis mit ihren Fähigkeiten stand, um zu wissen, was jetzt in Grinner vorging. Er nahm es ihm nicht übel. Er war ein wenig enttäuscht, aber nicht wütend. Grinner hatte ja keine Ahnung, worauf er sich da einließ.

»Also?« fragte Braun ungeduldig.

»Es ist ... zwei- oder dreimal passiert«, sagte Grinner, und Braun unterbrach ihn sofort und in hörbar schärferem Ton:

»Was denn nun? Zweimal oder dreimal?«

»Dreimal«, antwortete Grinner. »Glaube ich.«

»So, glauben Sie«, sagte Braun. »Ich bezahle Sie nicht dafür, Dinge zu glauben, Herr...?«

»Ich habe nicht immer Dienst!« verteidigte sich Grinner, wobei er Brauns unausgesprochene Frage nach seinem Namen vorsichtshalber überging. Mecklenburg konnte zusehen, wie seine Nervosität wuchs, was ihn eigentlich mit einer gewissen Schadenfreude hätte erfüllen müssen, es aber nicht tat. Grinner machte in diesem Moment eine wichtige Erfahrung, und Mecklenburg hoffte nur, daß er auch wirklich etwas daraus lernte.

»Während ich hier war, ist es dreimal passiert. Aber es war noch nie so schlimm wie heute.«

»Es?« Grinner sah weg, und Braun wandte sich wieder an Mecklenburg: »Wieso weiß ich nichts davon?«

»Keine Ahnung«, antwortete Mecklenburg kühl. »Es waren vier solcher Zwischenfälle, um genau zu sein. Vielleicht sogar fünf. Bei einer Gelegenheit ... waren wir nicht ganz sicher. Und es steht alles in den Berichten, die ich Ihnen täglich per E-Mail zukommen lasse. Sie sollten Ihren Computer ab und zu auch einmal einschalten.« Es hätte Brauns ärgerlichen Stirnrunzelns nicht bedurft, um ihm klarzumachen, daß er mit der letzten Bemerkung einen Schritt zu weit gegangen war. Sie war vor allem nicht nötig gewesen. Irgend etwas ging hier vor. Etwas, das nicht gut war. Sie taten besser daran, ihre Kräfte aufzusparen, statt sie in sinnlosen Grabenkämpfen untereinander zu vergeuden.

Braun kam wohl zu demselben Schluß, denn er ging nicht auf seinen herausfordernden Ton ein, sondern starrte ihn nur an und drehte sich nach einer oder zwei Sekunden wieder zu der Glasscheibe um. Der stählerne Sarkophag auf der anderen Seite war nur als unsicherer Schemen zu erkennen, und vermutlich nicht einmal das; Mecklenburg sah ihn wahrscheinlich nur, weil er wußte, daß er da war. Das Licht in dem Raum auf der anderen Seite war ausgeschaltet, und die Scheibe hatte sich in einen Spiegel verwandelt.

Die Wirkung war jedoch genau anders herum als sonst. Normalerweise war Mecklenburg um jede Sekunde froh, die er den Stahlsarg nicht ansehen mußte. Sein Anblick beunruhigte ihn, denn er erfüllte ihn nicht nur mit unerfreulichen Assoziationen und düsteren Vorahnungen, sondern erinnerte ihn auch daran, was sie getan hatten. Jetzt war es genau anders herum. Es war die Dunkelheit auf der anderen Seite der Barriere, die ihn erschreckte. Sie hatte eine neue, beunruhigende Qualität, war zu einem Versteck für etwas geworden, etwas, das bisher in dem stählernen Sarkophag gefangen gewesen war und nun hinaus wollte. Alles, was er sah, waren sein eigenes und Brauns Spiegelbild, aber durch diese vertrauten Gesichter hindurch schien sie noch etwas anzugrinsen; uralt, höhnisch, böse und durch und durch gnadenlos. Das Gefühl war so intensiv, daß er nicht anders konnte, als mit zwei schnellen Schritten an Braun vorbeizugehen und den Schalter an der Wand zu berühren, der das Licht aktivierte. Aus dem farbenfressenden Spiegel wurde wieder eine Glasscheibe, die den Blick in den dahinter liegenden Raum freigab. Zwei oder drei Sekunden lang sog Mecklenburg jedes Detail der Kammer fast gierig in sich auf, erst dann gestattete er sich ein Gefühl - vorsichtiger - Erleichterung. Der stählerne Sarg war nicht mehr als eben ein stählerner Sarg, ein technisches Wunderwerk, der tatsächlich ein wenig an die goldenen Sarkophage erinnerte, wie man sie in ägyptischen Pharaonengräbern gefunden hatte. Aber auch nicht mehr. Der Raum enthielt nichts, wovor er sich hätte fürchten müssen. Nicht mehr. Das Licht hatte die Schatten vertrieben, und mit ihnen auch alles, was sich darin verborgen gehalten hatte.

Aber es würde wiederkommen, sobald das Licht gegangen war.

Mecklenburg wußte es, und als er den Kopf drehte und in Brauns Gesicht sah, da begriff er, daß Braun es genauso wußte.

Загрузка...