35


Er war irgendwo vor ihm. Bremer konnte Brauns Nähe regelrecht spüren, wie ein Raubtier, das die Witterung seiner Beute aufgenommen hatte und ihr unerbittlich folgte, ganz egal, welche Tricks sich sein Opfer einfallen ließ, um es abzuschütteln. Brauns Vorsprung konnte noch nicht besonders groß sein, zwei, vielleicht vier Minuten, keinesfalls mehr.

Und Bremer glaubte nicht, daß er sich schneller bewegte als er.

Bremer bewegte sich so schnell und selbstverständlich durch den Flur, als wäre seine linke Schulter nicht taub und als hinge der linke Arm nicht so starr und nutzlos wie ein Stück Holz an seiner Seite herab. Er spürte keinen Schmerz, keine Schwäche, ja, nicht einmal Zorn, sondern allenfalls eine kalte, durch nichts aufzuhaltende Entschlossenheit, den Mann zu töten, der ihm das einzige genommen hatte, was ihm jemals in seinem Leben wirklich etwas bedeutet hatte. Braun hatte Angela getötet, und dafür würde er Braun töten, so einfach war das. Er empfand und dachte eine Menge in diesem Augenblick, aber er fühlte - nichts. Nur Kälte.

Trotzdem wäre er vermutlich zutiefst erschrocken, hätte er sich in diesem Augenblick selbst sehen können.

Bremer bewegte sich tatsächlich wie ein Raubtier den Korridor entlang. Sein linker Arm hing steif und nutzlos an seinem Körper herab, aber die andere Hand war halb erhoben und wie zu einer Kralle verkrümmt. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, und seine Nasenflügel blähten sich im Rhythmus seiner schweren Atemzüge, als nähme er wirklich Witterung auf. Er zog eine dünner werdende Blutspur hinter sich her - dünner werdend nicht, weil die Schußwunde in seiner Schulter aufgehört hätte zu bluten, sondern weil seine Schritte mit jedem Meter, den er zurücklegte, ein wenig schneller wurden, bis er schließlich rannte.

Er sah Braun wieder, als dieser am Ende des schmalen Korridors in einen Aufzug trat und die Hand nach dem Tastenfeld ausstreckte.

Braun war nicht allein. Nicht weniger als fünf seiner Männer waren bei ihm. Einer davon war verletzt und trug einen Arm in einer Schlinge, sein Gesicht kam Bremer vage bekannt vor, aber er war nicht mehr in einem Zustand, in dem sein Gedächtnis noch allzu gut funktioniert hätte. Es spielte auch keine Rolle. Wenn sie ihm aus dem Weg gingen, gut. Wenn er diese fünf Männer mit bloßen Händen umbringen mußte, um an Braun heranzukommen, auch gut. Es war ihre Entscheidung. Bremer fühlte sich von der vielleicht stärksten aller Empfindungen besucht, die es gab: Rache. Man hatte ihm ein Leben genommen, und er wollte ein Leben dafür haben.

Braun entdeckte ihn fast im gleichen Moment wie Bremer umgekehrt ihn. Für eine Sekunde breitete sich ein Ausdruck maßloser Überraschung auf seinen Zügen aus, der aber fast sofort von Zorn und einer kalten Entschlossenheit verdrängt wurde. Er hob den Arm, und der Mann mit der Schlinge und ein zweiter Agent traten wieder aus dem Aufzug heraus und gingen Bremer entgegen. Fast im gleichen Moment begannen sich die Aufzugtüren zu schließen. Bremer stieß ein gequältes Heulen aus und versuchte schneller zu laufen, aber es ging nicht. Sein geschundener Körper war einfach nicht mehr in der Lage, weitere Kraftreserven zu mobilisieren.

Es hätte ihm auch nichts genutzt. Der Aufzug hatte sich bereits geschlossen, und die beiden Agenten traten ihm entgegen. Bremer attackierte den Mann mit dem verletzten Arm mit wütender Entschlossenheit und begriff spätestens in diesem Moment, daß Körper und Geist nicht immer dasselbe waren. Er war entschlossen, es mit der gesamten Welt aufzunehmen, wenn es sein mußte, um Braun zu bekommen, aber sein Faustschlag war so kraftlos wie der eines Kindes. Der Agent machte sich nicht einmal die Mühe, ihm auszuweichen, sondern schlug seine Hand fast beiläufig zur Seite und schickte Bremer mit einer Bewegung zu Boden, die mehr ein Schubsen als ein Hieb war. Sofort versuchte Bremer wieder auf die Füße zu kommen. Der Mann versetzte ihm mit der flachen Hand einen Stoß vor die Brust, der ihn erneut nach hinten schleuderte, und diesmal blieb Bremer liegen. Er wollte sich abermals hochstemmen, aber er konnte es nicht mehr.

Der Agent stand breitbeinig über ihm. Seine unverletzte Hand war abwehrbereit erhoben, nur für den Fall, daß Bremer noch irgend etwas Unerwartetes versuchen sollte, aber Bremer las in seinen Augen, daß er nicht ernsthaft damit rechnete. Der Mann hatte genug Erfahrung, um zu wissen, wann sein Gegner besiegt war.

»Worauf wartest du?« fragte sein Kollege. »Bring es zu Ende.«

»Das arme Schwein ist doch schon so gut wie tot«, sagte der Mann mit dem verbundenen Arm. »Sieh ihn dir doch an!«

»Braun hat gesagt, daß wir ihn erledigen sollen«, sagte der andere. »Willst du ihm vielleicht erklären, warum...« Er brach mitten im Satz ab. Seine Hand glitt unter die Jacke, vermutlich um die Waffe hervorzuziehen, die er in seinem Schulterhalfter darunter trug, und sein Blick bohrte sich in das Halbdunkel des Korridors hinter Bremer. Er schien jedoch nichts zu entdecken, worauf zu schießen sich gelohnt hätte, denn nach zwei oder drei Sekunden zog er die Hand wieder heraus, ohne daß sie eine Waffe hielt.

»Was hast du?« fragte sein Kollege.

»Nichts«, antwortete der Agent. »Ich dachte, ich hätte etwas...«

Er kam nicht mehr dazu, das ›gehört‹ auszusprechen. Ein dumpfer, sonderbar weicher Laut erklang. Die Augen des Agenten wurden groß, und er gab einen erstickten Seufzer von sich. Aus seiner Brust ragten plötzlich drei fingerlange, gebogene Klauen.

Der zweite Mann prallte entsetzt zurück. Seine unversehrte Hand glitt unter die Jacke und zerrte die Waffe hervor, aber er kam nicht einmal mehr dazu, sie zu ziehen. Der Dämon trat mit einem ungelenk wirkenden Schritt vollends aus dem düsteren Schattenreich hervor, das seine Heimat war, packte ihn mit beiden Händen und warf ihn mit unvorstellbarer Gewalt gegen die Aufzugtüren. Noch bevor der Mann vollends zu Boden sacken konnte, war das Ungeheuer über ihm. Seine schwarzen Schwingen schlossen sich über seinem Opfer wie die Hälften eines unheimlichen, flatternden Mantels, und Bremer hörte eine Reihe gräßlicher, reißender Laute.

Stöhnend wälzte er sich herum, kroch auf Händen und Knien ein Stück weit von der Kreatur davon und richtete sich auf. Er sah nicht zurück, aber das Reißen und Fressen hinter ihm hielt an. Solange der Dämon mit seinem letzten Opfer beschäftigt war, hatte er vielleicht noch einmal eine Chance zu entkommen. Plötzlich erschien ihm das wieder sehr wichtig. Noch vor wenigen Minuten war er bereit gewesen, einfach aufzugeben, aber mit einemmal gab es nichts Wichtigeres, als am Leben zu bleiben. Er mußte es schaffen, weil er Braun sonst nicht erwischen würde. Bremer taumelte bis zur nächsten Abzweigung, ließ sich blindlings nach rechts und gegen die Wand sinken und schloß für einen Moment die Augen. Alles drehte sich um ihn. Sein Körper begann mittlerweile massiv gegen ihn zu arbeiten. Die Wunde in seiner Schulter blutete noch immer, und auch wenn er immer noch kaum Schmerzen verspürte, so konnte er doch fühlen, wie das Leben mit jedem Herzschlag ein kleines bißchen mehr aus ihm herausströmte. Er wußte, daß er es nicht schaffen würde.

Braun hatte letzten Endes doch gewonnen. Die Kugel, die er ihm verpaßt hatte, hatte ihn umgebracht. Nicht so schnell und dramatisch wie Angela, aber am Ende doch. Er würde verbluten, innerhalb der nächsten Minuten.

Bremer hob mühsam die Hand und preßte sie gegen das daumennagelgroße Einschußloch in seiner Schulter. Es gelang ihm tatsächlich, den Blutstrom ein wenig zu stoppen, aber die ungleich größere Austrittswunde über seinem linken Schulterblatt blutete weiter. Wie viele Liter Blut hatte ein Mensch? Fünf? Acht? Er wußte es nicht, aber er mußte die Hälfte davon bereits verloren haben. Es kam ihm selbst fast wie ein Wunder vor, daß er noch bei Bewußtsein war, aber dieser Zustand würde nicht mehr allzu lange anhalten. Seine Gedanken begannen sich mehr und mehr zu verwirren.

Bitterkeit überkam ihn. Es war ... nicht fair! Er hatte den größten Kampf seines Lebens gekämpft, war vielleicht der furchtbarsten Kreatur entronnen, mit der es jemals ein Mensch zu tun gehabt hatte, und nun sollte er ganz banal verbluten, an einer lächerlichen Schußwunde! Und als wäre dies noch nicht ironisch genug, starb er inmitten eines Krankenhauses, umgeben von der modernsten und aufwendigsten Technik, die Menschen jemals geschaffen hatten, um Leben zu retten.

Es tat ihm leid, daß Angela tot war. Es tat ihm leid, daß Braun am Ende doch davonkommen sollte, und es tat ihm vor allem leid, daß es so endete. Bremer hatte Geschichten ohne Happy-End immer gemocht, aber nun, als er selbst die Hauptperson einer solchen Geschichte sein sollte, fand er sie nicht mehr so gut.

Sein Blick begann sich zu verschleiern. Der Korridor vor seinen Augen verzerrte sich, schien jetzt länger und schmaler zu werden und wurde zu einem wabernden Tunnel, an dessen Ende ein strahlendes Licht lockte, unendlich weit entfernt, aber gleißend hell. Nun hatte er das Tunnelerlebnis, von dem alle gesprochen hatten. Er bedauerte es, daß er Angela nicht mehr davon erzählen konnte, empfand aber gleichzeitig eine sachte Neugier, was ihn wohl in dem Licht dort hinten erwarten mochte. Er starb, aber der Tod war angenehm, süß, ohne Schmerzen und nicht mit der mindesten Spur von Angst.

Das Licht am Ende des Tunnels wurde heller und kam gleichzeitig näher. Im ersten Moment dachte Bremer, daß sich etwas darin bewegte, dann erkannte er, daß es das Licht selbst war. Es wogte, ballte sich zusammen und nahm Form an, und dann sah Bremer, wie eine riesige, strahlende Lichtgestalt auf ihn zutrat. Er halluzinierte, aber es war eine wunderbare Halluzination. Wenn die Agnostiker recht hatten, die behaupteten, daß nach dem Sterben nichts mehr kam, so hatte die Natur zumindest dafür gesorgt, daß der Weg hinüber in dieses Nichts unbeschreiblich schön war...

Die Lichtgestalt kam näher, streckte einen Arm aus, der aus nichts anderem als milder, weißer Helligkeit bestand, und berührte seine Schulter. Der Blutstrom versiegte, und eine neue Form von milder Schwere und Taubheit breitete sich in seinem Körper aus.

Dann hörte die Gestalt auf zu leuchten, nahm wieder ein menschliches Aussehen und Angelas Gesicht an und sagte: »Laß dir bloß nicht einfallen, jetzt zu sterben, alter Mann. Die Show ist noch nicht vorbei.«

Bremer starrte sie an. Seine Umgebung schnappte mit einem furchtbaren Ruck wieder in die normalen Formen der Wirklichkeit zurück. Aus dem Tunnel wurde wieder der kaum beleuchtete Krankenhausflur, und er selbst war kein spirituelles Wesen auf dem Weg zu Wolke sieben, sondern saß ganz körperlich auf dem Boden, beide Beine in stumpfem Winkel von sich gestreckt und mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt, die naß und klebrig von seinem eigenen Blut war.

»Du bist tot«, murmelte er.

Angela schüttelte heftig den Kopf und verzog gleich darauf das Gesicht. »Bin ich nicht«, antwortete sie. »Aber ich wünschte mir fast, ich wäre es, so wie mein Schädel dröhnt. Falls wir Braun zu fassen kriegen, dann untersteh dich, ihn anzurühren. Ich will den Kerl selbst umbringen.«

»Aber ... aber du ... du mußt tot sein«, beharrte Bremer stur. »Braun hat dir in den Kopf geschossen.«

»Entschuldige bitte, daß ich noch lebe«, sagte Angela spitz. »Es tut mir ja leid, dich enttäuschen zu müssen, aber Braun ist ein noch miserablerer Schütze als Nördlinger.« Sie hob die Hand und deutete auf eine fingerbreite, gut zehn Zentimeter lange Wunde über ihrer linken Augenbraue. »Kannst du aufstehen?« fragte sie.

Bremer versuchte es, und fast zu seiner eigenen Überraschung kam er sogar auf die Füße, wenn auch mit Angelas Hilfe. Er fühlte sich sehr matt, aber er war eindeutig nicht tot. Und seine Schulter blutete nicht mehr. »Wie hast du das gemacht?« fragte er.

Angela grinste. »Du weißt doch, ich habe...«

»...heilende Hände, ja ich weiß«, unterbrach sie Bremer. »Ich meine es ernst, verdammt noch mal!« Was sie getan hatte, war unmöglich. Er war im Begriff gewesen zu sterben, und jetzt fühlte er sich, als brauchte er nicht mehr als zwölf Stunden Schlaf, um wieder völlig der Alte zu sein. Und er hatte gesehen, wie Braun ihr in den Kopf geschossen hatte! Bremer wußte zwar, wie heftig selbst relativ harmlose Wunden im Kopfbereich bluteten aber aus einem Meter Entfernung hätte nicht einmal ein Blinder danebengeschossen! Was ging hier vor?

Angela verdrehte die Augen. »Und du glaubst, jetzt wäre der richtige Moment, um darüber zu diskutieren, ja?« fragte sie. »Wenn wir das hier überleben sollten, dann gebe ich dir vielleicht einen Crash-Kurs in fernöstlicher Heilkunst, aber im Moment haben wir Wichtigeres zu tun. Soll ich Braun ganz allein erledigen, oder möchtest du mir vielleicht dabei helfen? Natürlich nur, wenn es dir nicht allzu viel ausmacht.«

»Ich weiß nicht, wo er ist«, gestand Bremer. »Er ist im Aufzug verschwunden. Ich konnte ihn nicht aufhalten.«

»In welchem Aufzug?«

»Das hat doch gar keinen Sinn«, sagte Bremer niedergeschlagen. »Ich weiß nicht einmal, in welche Etage er gefahren ist.«

»Zeig ihn mir«, beharrte Angela.

Bremer schüttelte noch einmal den Kopf, drehte sich dann aber gehorsam um und schlurfte voraus. Es war nicht besonders schwer, den Aufzug wiederzufinden, aber nicht einfach, ihn zu erreichen. Was von den beiden Agenten übrig war, war über die Hälfte des Korridors verteilt. Das Ungeheuer hatte sich nicht damit zufriedengegeben, die beiden Männer einfach zu töten.

Angela verzog entsetzt das Gesicht, während Bremer sich rasch und eindeutig erschrocken umsah.

»Keine Angst«, sagte Angela. »Unser Freund ist im Moment anderweitig beschäftigt. Als ich ihn das letztemal gesehen habe, war er gerade dabei, Hasch-mich mit Brauns Prügelknaben zu spielen.«

Bremer gefiel ihre Wortwahl nicht, aber er nahm an, daß sie diesen flapsigen Ton ganz bewußt anschlug, um mit dem Grauen fertig zu werden, mit dem sie der Anblick erfüllen mußte. Tod war nicht gleich Tod.

Bremer drückte den Knopf neben dem Aufzug, und Angela und er traten in die Kabine, nachdem die Türen aufgeglitten waren. Angela bedeutete ihm mit Gesten, wieder einen halben Schritt zurückzutreten, um die Lichtschranke zu unterbrechen und begann sich sehr aufmerksam in der kleinen Kabine umzusehen. Sie untersuchte sehr aufmerksam das Tastenfeld neben der Tür und runzelte schließlich fragend die Stirn.

»Seltsam«, sagte sie. »Kein Schloß.«

»Was für ein Schloß?«

»Brauns kleine Frankenstein-Kammer ist bestimmt nicht so einfach mit dem Aufzug zu erreichen«, antwortete Angela. »Oder glaubst du, er wäre scharf darauf, daß Albert plötzlich vor ihm steht? Ich hätte damit gerechnet, daß er einen Schlüssel hat oder...« Sie sprach nicht weiter, sondern drehte sich ein zweites Mal im Kreis und unterzog die Kabine dabei einer neuerlichen, noch aufmerksameren Musterung. Schließlich blieb ihr Blick auf einem kleinen Spiegel an der Rückwand haften. Wortlos zog sie die Pistole unter dem Gürtel hervor, drehte sich herum und schmetterte den Kolben wuchtig gegen das Glas.

Der Spiegel zerbrach, aber dahinter kam nicht die Kabinenwand zum Vorschein, sondern ein kleiner Hohlraum, aus dem sie die Linse einer winzigen Kamera anstarrte.

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Angela stirnrunzelnd.

»Was? Eine Videoüberwachung?«

Angela schüttelte hastig den Kopf. »So leicht ist es nicht. Das da dürfte ein Retina-Scanner sein.«

»Aha«, sagte Bremer. »Und was bedeutet das?«

»Das kleine Miststück da läßt niemanden passieren, der nicht über Brauns Netzhautabdrücke verfügt«, antwortete Angela. »Falls du also nicht zufällig eines seiner Augen in der Tasche hast, haben wir ein Problem.«

»Kannst du das Ding überlisten?«

»Nicht von hier aus«, sagte Angela. Sie drehte sich herum, sah ihn eine Sekunde lang nachdenklich an und trat dann mit einem plötzlich sehr schnellen Schritt an ihm vorbei. »Komm mit.«

Bremer wäre ihr sowieso gefolgt. Er hätte den Teufel getan, allein mit den beiden Toten hier zurückzubleiben, oder gar im Lift. Angela eilte mit schnellen Schritten den Flur hinab, öffnete jede einzelne Tür, an der sie vorbeikamen und schaltete die Beleuchtung in dem dahinter liegenden Raum ein. Sie machte sich nicht die Mühe, Bremer zu erklären, was sie suchte, und Bremer machte sich nicht die Mühe, sie danach zu fragen.

Sie hatte auf diese Weise fast ein halbes Dutzend Türen geöffnet, als Angela endlich fündig wurde. Diesen Raum verließ sie nicht mehr, sondern trat mit einem zufriedenen Laut vollends hinein. Als Bremer ihr folgte, sah er, daß sie einen unordentlichen Schreibtisch ansteuerte, auf dem ein Computerterminal stand. Sie nahm rasch davor Platz, schaltete den Rechner ein und machte eine flatternde Geste in seine Richtung.

»Fünf Minuten«, sagte sie. »Such dir was zu lesen, oder nimm ein Bad.«

Bremer ersparte sich jede Antwort. Er hoffte, daß Angela auch wirklich fünf Minuten meinte, und nicht das, was Computerfreaks manchmal darunter verstanden, wenn sie sich an ihr Lieblingsspielzeug setzten und sagten, es dauere nur einen Augenblick.

Ziellos begann er im Raum auf und ab zu gehen und trat schließlich ans Fenster. Es führte auf die Rückseite des Gebäudes hinaus, und der Anblick unterschied sich radikal von dem, der sich ihm geboten hatte, als er das letztemal aus Alberts Fenster zwei Stockwerke höher auf den Garten hinausgeblickt hatte.

Es war nicht mehr völlig dunkel, sondern hatte zu dämmern begonnen. In dem grauen Licht, das sich wie eine träge Flüssigkeit über das Klinikgelände ergoß und alle Konturen aufzuweichen begann, konnte er erkennen, daß der Park von Menschen nur so wimmelte. Männer in den Kampfanzügen des SEK, uniformierte Polizisten, aber auch zahlreiche Männer und Frauen in weißer Krankenhauskluft oder Schlafanzügen und Morgenmänteln. Im ersten Blick begriff er nicht, was er da sah, aber dann sagte er: »Sie evakuieren die Klinik!«

»Die erste vernünftige Idee, die deine Kollegen heute hatten«, sagte Angela vom Computer aus. »Ich hoffe, sie schaffen es noch rechtzeitig.«

Bevor was geschieht! dachte Bremer.

Er sah Angela einen Moment lang nachdenklich an, dann drehte er sich wortlos wieder zum Fenster und blickte hinaus. Soweit er das beurteilen konnte, ging die Evakuierung zügig vonstatten. Eine Anzahl Krankenwagen und Mannschaftstransporter der Polizei war auf dem Gelände aufgefahren und nahm die Patienten auf, die noch immer in rascher Folge aus dem Gebäude gebracht wurden. Wenn die Räumung auf der anderen Seite ebenso rasch und reibungslos vonstatten ging, hatten sie eine gute Chance, die gesamte Klinik in wenigen Minuten zu leeren. Gottlob waren die wenigsten Patienten hier weder Liegendkranke noch transportunfähig.

Bremer hoffte nur, daß das, was er sah, nicht die Vorbereitungen für einen Sturmangriff waren. Nördlinger hätte so etwas Irrsinniges niemals getan, aber Nördlinger war tot oder zumindest nachhaltig außer Gefecht gesetzt, und er hatte keine Ahnung, wer an seiner Stelle die Leitung des Einsatzes übernommen hatte. Hoffentlich nicht Meiler, oder gar Vürfels. Diesem Idioten war jede Hirnrissigkeit zuzutrauen, wenn er die Chance sah, sich zu profilieren.

Die fünf Minuten, von denen Angela gesprochen hatte, waren noch nicht einmal vorbei, als sie aufstand und in triumphierendem Tonfall sagte: »Das war's. Braun, zieh dich warm an. Wir kommen!«

»Du hast das System überlistet?« fragte Bremer.

»Kein Problem«, antwortete Angela großspurig. »Programmierer sind Trottel. Sie lassen sich immer eine Hintertür offen, sogar wenn sie selbst nicht genau wissen warum. Wenn man weiß, wonach man zu suchen hat, ist es meistens nicht besonders schwer, sie zu finden.«

Bremer bedachte den Computer mit einem zweifelnden Blick. Er hatte ja schon erlebt, wozu Angela an einer Tastatur fähig war, aber es fiel ihm trotzdem schwer zu glauben daß ein so hochsensibles Projekt wie das Brauns so schlecht geschützt sein sollte.

Er kam nicht dazu, eine entsprechende Frage zu stellen, denn Angela verließ das Zimmer bereits wieder und eilte zum Aufzug zurück. Als er sie einholte, hatte sie den Knopf bereits gedrückt, und die Türen glitten auf. Angela trat in die Kabine, wartete ungeduldig, bis Bremer ihr gefolgt war, und drückte den Knopf für das Kellergeschoß. Die Türen schlossen sich, und die Kabine setzte sich summend in Bewegung.

Bremers Blick saugte sich an der Leuchtanzeige über der Tür fest.

Der Lift erreichte das Kellergeschoß, und die entsprechende Anzeige leuchtete für einen kurzen Moment auf und erlosch dann wieder.

Sie sanken weiter in die Tiefe.

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