IX

Ein Mausoleum!« sagt Frau Niebuhr. »Ein Mausoleum und nichts anderes!«

»Gut«, erwidere ich. »Also ein Mausoleum.«

Die kleine, verschüchterte Frau hat sich in der kurzen Zeit, seit Niebuhr tot ist, stark verändert. Sie ist scharf, redselig und zänkisch geworden und eigentlich bereits eine ziemliche Pest.

Ich verhandle seit zwei Wochen mit ihr über ein Denkmal für den Bäcker und denke jeden Tag milder über den Verstorbenen. Manche Menschen sind gut und brav, solange es ihnen schlecht geht, und sie werden unausstehlich, wenn sie es besser haben, besonders in unserm geliebten Vaterlande; die unterwürfigsten und schüchternsten Rekruten wurden da später oft die wüstesten Unteroffiziere.

»Sie haben ja keine zur Ansicht«, sagt Frau Niebuhr spitz.

»Mausoleen«, erkläre ich,»gibt es nicht zur Ansicht. Die werden nach Maß angefertigt wie die Ballkleider von Königinnen. Wir haben ein paar Zeichnungen dafür da und müssen vielleicht sogar eine Extrazeichnung für Sie entwerfen.«

»Natürlich! Es muß etwas ganz Besonderes sein. Sonst gehe ich zu Hollmann und Klotz.«

»Ich hoffe, Sie sind schon dort gewesen. Wir haben es gern, wenn unsere Kunden sich bei der Konkurrenz informieren. Bei einem Mausoleum kommt es ja nur auf die Qualität an.«

Ich weiß, daß sie dort gewesen ist. Der Reisende von Hollmann und Klotz, Tränen-Oskar, hat es mir erzählt. Wir haben ihn kürzlich getroffen und versucht, ihn zum Verräter zu machen. Er schwankt noch, aber wir haben ihm höhere Prozente angeboten als Hollmann und Klotz, und um sich während der Bedenkzeit freundlich zu erweisen, arbeitet er einstweilen für uns als Spion. »Zeigen Sie mir Ihre Zeichnungen!« befiehlt Frau Niebuhr wie eine Herzogin.

Wir haben keine, aber ich hole ein paar Kriegerdenkmalsentwürfe hervor. Sie sind effektvoll, einundeinhalb Meter hoch, mit Kohle und bunter Kreide gezeichnet und mit stimmungsvollem Hintergrund geschmückt.

»Ein Löwe«, sagt Frau Niebuhr. »Er war wie ein Löwe! Aber wie ein springender, nicht wie ein sterbender. Es müßte ein springender Löwe sein.«

»Wie wäre es mit einem springenden Pferd?« frage ich. »Unser Bildhauer hat darin vor einigen Jahren den Wanderpreis von Berlin-Teplitz gewonnen.«

Sie schüttelt den Kopf. »Ein Adler«, sagt sie nachdenklich.

»Ein wirkliches Mausoleum sollte eine Art Kapelle sein«, erkläre ich. »Bunte Scheiben wie eine Kirche, ein Marmorsarkophag mit einem bronzenen Lorbeerkranz, eine Marmorbank zum Ausruhen und zum stillen Gebet für Sie, rundherum Blumen, Zypressen, Kieswege, ein Vogelbad für unsere gefiederten Sänger, eine Grabeinfassung von niedrigen Granitsäulen und Bronzeketten, eine schwere Eisentür mit dem Monogramm, dem Familienwappen oder dem Wahrzeichen der Bäckerinnung -«

Frau Niebuhr lauscht, als spiele Moritz Rosenthal ein Nocturne von Chopin. »Klingt ganz gut«, sagt sie dann. »Aber haben Sie nicht etwas Originelles?«

Ich starre sie ärgerlich an. Sie starrt kalt zurück – das Urbild des ewigen Kunden mit Geld.

»Es gibt schon originelle Sachen«, erwidere ich sanft und giftig. »Zum Beispiel solche wie auf dem Campo Santo in Genua. Unser Bildhauer hat dort jahrelang gearbeitet. Eines der Glanzstücke ist von ihm – eine weinende Frauengestalt, über einen Sarg gebeugt, im Hintergrund der auferstandene Tote, der von einem Engel himmelwärts geführt wird. Der Engel sieht zurück und segnet mit der freien Hand die trauernde Hinterbliebene. Alles das in weißem carrarischem Marmor, der Engel entweder mit angelegten oder ausgebreiteten Flügeln -«

»Ganz nett. Was gibt es sonst noch?«

»Man stellt häufig auch den Beruf des Verschiedenen dar. Man könnte zum Beispiel einen Bäckermeister beim Brotkneten aushauen. Hinter ihm steht der Tod und tippt ihm auf die Schulter. Der Tod kann mit oder ohne Sense gezeigt werden, entweder in ein Bahrtuch gekleidet, oder aber nackt, das heißt in diesem Falle als Gerippe, eine sehr schwierige bildhauerische Leistung, besonders bei den Rippen, die ja einzeln sehr vorsichtig ausgemeißelt werden müssen, damit sie nicht brechen.«

Frau Niebuhr schweigt, als erwarte sie mehr. »Die Familie kann natürlich auch noch hinzugefügt werden«, fahre ich fort. »Betend zur Seite oder schreckerfüllt dem Tode wehrend. Das sind aber Objekte, die in die Billionen gehen und ein oder zwei Jahre Arbeit erfordern. Ein großer Vorschuß und Ratenzahlungen wären dazu unerläßlich.«

Ich habe plötzlich Angst, daß sie einen der Vorschläge annehmen könnte. Kurt Bach kann höchstens einen windschiefen Engel modellieren; aber viel weiter geht seine Kunst nicht. Immerhin, zur Not könnten wir die Bildhauerarbeiten anderswo bestellen.

»Und sonst?« fragt Frau Niebuhr unerbittlich.

Ich überlege, ob ich diesem unbarmherzigen Teufel etwas von dem Grabmal in Form eines Sarkophags erzählen soll, dessen Deckel sich etwas verschoben hat und aus dem eine skelettige Hand herausgreift – aber ich lasse es. Unsere Positionen sind zu ungleich; sie ist der Käufer und ich bin der Verkäufer, sie kann mich schikanieren, ich sie nicht – denn vielleicht kauft sie doch etwas.

»Das wäre alles für den Augenblick.«

Frau Niebuhr wartet noch einen Moment. »Wenn Sie weiter nichts haben, muß ich zu Hollmann und Klotz gehen.«

Sie sieht mich mit ihren Käferaugen an. Den Trauerschleier hat sie über den schwarzen Hut emporgeschlagen. Sie erwartet, daß ich jetzt ein wildes Theater mache. Ich tue es nicht. »Sie werden uns damit ein Vergnügen machen«, erkläre ich statt dessen kalt. »Es ist unser Prinzip, die Konkurrenz heranzuziehen, damit man sieht, wie leistungsfähig unsere Firma ist. Bei Aufträgen mit so viel Bildhauerarbeit kommt es natürlich sehr auf den Künstler an, sonst hat man plötzlich, wie kürzlich bei der Arbeit eines unserer Konkurrenten, dessen Namen ich verschweigen möchte, einen Engel mit zwei linken Füßen. Auch schielende Mütter Gottes sind schon dagewesen und ein Christus mit elf Fingern. Als man es merkte, war es dann zu spät.«

Frau Niebuhr läßt den Schleier herunter wie einen Theatervorhang. »Ich werde schon aufpassen!«

Ich bin überzeugt, daß sie das tun wird. Sie ist ein gieriger Genießer ihrer Trauer und schlürft sie in vollen Zügen. Es wird noch lange dauern, bis sie etwas bestellt; denn solange sie sich nicht entscheidet, kann sie alle Grabsteingeschäfte drangsalieren – nachher aber nur noch das eine, bei dem sie bestellt hat. Sie ist jetzt gewissermaßen noch ein flotter Junggeselle der Trauer – später ist sie wie ein verheirateter Mann, der treu sein muß.


Der Sargtischler Wilke kommt aus seiner Werkstatt. In seinem Schnurrbart hängen Hobelspäne. Er hält ein Kistchen appetitlicher Kieler Sprotten in der Hand und ißt sie schmatzend.

»Wie denken Sie über das Leben?« frage ich ihn.

Er hält an. »Morgens anders als abends, im Winter anders als im Sommer, vor dem Essen anders als nachher, und in der Jugend wahrscheinlich anders als im Alter.«

»Richtig. Endlich eine vernünftige Antwort!«

»Na schön, wenn Sie es wissen, weshalb fragen Sie denn noch?«

»Fragen bildet. Außerdem frage ich morgens anders als abends, im Winter anders als im Sommer, und vor dem Beischlaf anders als nachher.«

»Nach dem Beischlaf«, sagt Wilke. »Richtig, da ist immer alles anders! Das hatte ich ganz vergessen.«

Ich verbeuge mich vor ihm wie vor einem Abt. »Gratuliere zur Askese! Sie haben den Stachel des Fleisches also schon überwunden! Wer auch soweit wäre!«

»Unsinn! Ich bin nicht impotent. Aber die Weiber sind komisch, wenn man Sargtischler ist. Grauen sich. Wollen nicht in die Werkstatt rein, wenn ein Sarg drinsteht. Nicht einmal, wenn man Berliner Pfannkuchen und Portwein auftischt.«

»Wo auftischt?« frage ich. »Auf dem unfertigen Sarg? Auf dem polierten doch sicher nicht; Portwein macht Ringe.«

»Auf der Fensterbank. Auf dem Sarg kann man sitzen. Dabei ist es doch noch gar kein Sarg. Ein Sarg wird es erst, wenn ein Toter drin liegt. Bis dahin ist es nur ein Stück Tischlerarbeit.«

»Stimmt. Aber es ist schwer, das immer auseinanderzuhalten!«

»Es kommt darauf an. Einmal, in Hamburg, hatte ich eine Dame, der war es egal. Es machte ihr sogar Spaß. Sie war scharf drauf. Ich füllte den Sarg halbvoll mit weichen weißen Hobelspänen aus Tanne, die riechen immer so romantisch nach Wald. Alles ging gut. Wir hatten mächtigen Spaß, bis sie wieder herauswollte. Da war irgendwo noch etwas von dem verdammten Leim an einer Stelle auf dem Boden nicht ganz trocken gewesen, die Hobelspäne hatten sich verschoben, und die Haare der Dame waren in den Leim geraten und festgeklebt. Sie ruckte ein paarmal, und dann ging das Schreien los. Sie glaubte, es wären Tote, die sie bei den Haaren festhielten. Sie schrie und schrie, und Leute kamen, mein Meister auch, sie wurde freigemacht, und ich flog aus meiner Stellung heraus. Schade – es hätte eine schöne Beziehung werden können; das Leben ist nicht leicht für unsereins.«

Wilke wirft mir einen wilden Blick zu, grinst kurz und scharrt genußvoll in seinem Kistchen, ohne es mir anzubieten. »Ich kenne zwei Fälle von Sprottenvergiftung«, sage ich. »Das ist ein grauenhafter, langwieriger Tod.«

Wilke winkt ab. »Diese hier sind frisch geräuchert. Und sehr zart. Eine Delikatesse. Ich teile sie mit Ihnen, wenn Sie mir ein nettes, unvoreingenommenes Mädchen verschaffen – so wie die mit dem Sweater, die Sie jetzt öfter abholen kommt.«

Ich starre den Sargtischler an. Er meint zweifellos Gerda. Gerda, auf die ich gerade warte. »Ich bin kein Mädchenhändler«, sage ich scharf. »Aber ich will Ihnen einen Rat geben. Führen Sie Ihre Damen anderswohin und nicht gerade in Ihre Werkstatt.«

»Wohin denn?« Wilke stochert nach Gräten in seinen Zähnen. »Da liegt ja der Haken! In ein Hotel? Zu teuer. Dazu die Angst vor Polizei-Razzien. In die städtischen Anlagen? Wieder die Polizei! Hier in den Hof? Da ist meine Werkstatt doch noch besser.«

»Haben Sie keine Wohnung?«

»Mein Zimmer ist nicht sturmfrei. Meine Vermieterin ist ein Drache. Vor Jahren habe ich mal was mit ihr gehabt. In äußerster Not, verstehen Sie? Nur kurz – aber der Satan ist heute, zehn Jahre später, noch eifersüchtig. Mir bleibt nur die Werkstatt. Also, wie ist es mit einem Freundschaftsdienst? Stellen Sie mich der Dame im Sweater vor!«

Ich zeige stumm auf das leergefressene Sprottenkistchen. Wilke wirft es in den Hof und geht zum Wasserhahn, um sich die Pfoten zu waschen. »Ich habe oben noch eine Flasche erstklassigen Portwein-Verschnitt.«

»Behalten Sie das Gesöff für Ihre nächste Bajadere.«

»Bis dahin wird Tinte daraus. Aber es gibt noch mehr Sprotten in der Welt als dieses eine Kistchen.«

Ich zeige auf meine Stirn und gehe ins Büro, um mir einen Zeichenblock und einen Klappsessel zu holen und für Frau Niebuhr ein Mausoleum zu entwerfen. Ich setze mich neben den Obelisken – so kann ich gleichzeitig das Telefon hören und die Straße und den Hof überblicken. Die Zeichnung des Denkmals werde ich mit der Inschrift schmücken: Hier ruht nach langem, schwerem Leiden der Major a. D. Wolkenstein, gestorben im Mai 1923.

Eines der Knopfmädchen kommt und bestaunt meine Arbeit. Es ist einer der Zwillinge, die kaum zu unterscheiden sind. Die Mutter kann es, am Geruch, Knopf ist es egal, und von uns anderen kann es keiner genau. Ich versinke in Gedanken darüber, wie es sein müßte, wenn man einen Zwilling heiratete und der zweite wohnte im selben Hause.

Gerda unterbricht mich. Sie steht im Hofeingang und lacht. Ich lege meine Zeichnung beiseite. Der Zwilling verschwindet. Wilke hört auf, sich zu waschen. Er zeigt hinter Gerdas Rücken auf das leere Sprottenkistchen, das die Katze durch den Hof schiebt, dann auf sich und hebt zwei Finger. Dazu flüstert er lautlos:»Zwei.«

Gerda trägt heute einen grauen Sweater, einen grauen Rock und eine schwarze Baskenmütze. Sie sieht nicht mehr aus wie ein Papagei; sie ist hübsch und sportlich und guter Laune. Ich blicke sie mit neuen Augen an. Eine Frau, die ein anderer begehrt, auch wenn es nur ein liebestoller Sargtischler ist, wird sofort kostbarer als vorher. Der Mensch lebt nun einmal viel mehr vom relativen als vom absoluten Wert.

»Warst du heute in der Roten Mühle?« frage ich.

Gerda nickt. »Eine Stinkbude! Ich habe da geprobt. Wie ich diese Lokale mit dem kalten Tabakqualm hasse!«

Ich sehe sie beifällig an. Wilke hinter ihr knöpft sein Hemd zu, streicht sich die Hobelspäne aus dem Schnurrbart und fügt seinem Angebot drei Finger hinzu. Fünf Kistchen Sprotten! Ein schönes Angebot, aber ich beachte es nicht. Vor mir steht das Glück einer Woche, klar, fest, ein Glück, das nicht schmerzt – das einfache Glück der Sinne und der gemäßigten Phantasie, das kurze Glück eines Nachtklub-Engagements von vierzehn Tagen, ein Glück, das schon halb vorüber ist, das mich von Erna erlöst hat und das selbst Isabelle zu dem gemacht hat, was sie sein sollte: eine Fata Morgana, die nicht schmerzt und die keine Wünsche weckt, die unerfüllbar sind.

»Komm, Gerda«, sage ich voll plötzlich aufschießender sachlicher Dankbarkeit. »Laß uns heute erstklassig essen gehen! Bist du hungrig?«

»Ja, sehr. Wir können irgendwo -«

»Nichts von Kartoffelsalat heute und nichts von Würstchen! Wir werden hervorragend essen und ein Jubiläum feiern: die Mitte unseres gemeinsamen Lebens. Vor einer Woche warst du zum erstenmal hier; in einer Woche wirst du mir vom Bahnhof aus Lebewohl zuwinken. Laß uns das erste feiern und an das zweite nicht denken!«

Gerda lacht. »Ich habe auch gar keinen Kartoffelsalat machen können. Zuviel Arbeit. Zirkus ist was anderes als blödes Kabarett.«

»Gut, dann gehen wir heute ins „Walhalla“. Ißt du gern Gulasch?«

»Ich esse gern«, erwidert Gerda.

»Das ist es! Laß uns dabei bleiben! Und nun auf zum Fest der großen Mitte unseres kurzen Lebens!«

Ich werfe den Zeichenblock durch das offene Fenster auf den Schreibtisch. Im Weggehen sehe ich noch Wilkes maßlos enttäuschte Visage. Mit trostlosem Ausdruck hält er beide Hände hoch – zehn Kistchen Sprotten – ein Vermögen!


»Warum nicht?« sagt Eduard Knobloch kulant zu meinem Erstaunen. Ich hatte erbitterten Widerstand erwartet. Die Eßmarken gelten nur für mittags, aber nach einem Blick auf Gerda ist Eduard nicht nur bereit, sie auch für heute abend zu akzeptieren, er bleibt sogar am Tisch stehen:»Würdest du mich bitte vorstellen?«

Ich bin in einer Zwangslage. Er hat die Eßmarken akzeptiert – also muß ich ihn akzeptieren. »Eduard Knobloch, Hotelier, Restaurateur, Poet, Billionär und Geizhals«, erkläre ich nachlässig. »Fräulein Gerda Schneider.«

Eduard verneigt sich, halb geschmeichelt, halb verärgert.

»Glauben Sie ihm nichts von allem, gnädiges Fräulein.«

»Auch nicht deinen Namen?« frage ich.

Gerda lächelt. »Sie sind Billionär? Wie interessant!«

Eduard seufzt. »Nur ein Geschäftsmann mit allen Sorgen eines Geschäftsmannes. Hören Sie nicht auf diesen leichtfertigen Schwätzer da! Und Sie? Ein schönes, strahlendes Ebenbild Gottes, sorgenlos wie eine Libelle über den dunklen Teichen der Schwermut schwebend -«

Ich glaube, nicht recht gehört zu haben, und glotze Eduard an, als hätte er Gold gespuckt. Gerda scheint heute eine magische Anziehungskraft zu haben. »Laß die Stuckornamente, Eduard«, sage ich. »Die Dame ist selbst Künstlerin. Bin ich der dunkle Teich der Schwermut? Wo bleibt das Gulasch?«

»Ich finde, Herr Knobloch spricht sehr poetisch!« Gerda schaut Eduard mit unschuldiger Begeisterung an. »Wie finden Sie nur Zeit dafür? Mit so einem großen Haus und so vielen Kellnern! Sie müssen ein glücklicher Mensch sein! So reich und begabt dazu.«

»Es geht, es geht!« Eduards Gesicht glänzt. »So, Künstlerin, Sie auch -«

Ich sehe, wie er von einem plötzlichen Mißtrauen erfaßt wird. Der Schatten Renée de la Tours gleitet ohne Zweifel vorüber, wie eine Wolke über den Mond. »Seriöse Künstlerin, nehme ich an«, sagt er.

»Seriöser als du«, erwidere ich. »Fräulein Schneider ist auch keine Sängerin, wie du gerade geglaubt hast. Sie kann Löwen durch Reifen jagen und auf Tigern reiten. Und nun vergiß den Polizisten, der in dir, als echtem Sohn unseres geliebten Vaterlandes, steckt, und tisch auf!«

»So, Löwen und Tiger!« Eduards Augen haben sich geweitet. »Ist das wahr?« fragt er Gerda. »Dieser Mensch dort lügt so oft.«

Ich trete ihr unter dem Tisch auf den Fuß. »Ich war im Zirkus«, erwidert Gerda, die nicht versteht, was dabei so interessant ist. »Und ich gehe wieder zum Zirkus zurück.«

»Was gibt es zu essen, Eduard?« frage ich ungeduldig. »Oder müssen wir erst einen ganzen Lebenslauf in vier Ausfertigungen einreichen?«

»Ich werde einmal persönlich nachsehen«, sagt Eduard galant zu Gerda. »Für solche Gäste! Der Zauber der Manege! Ah! Verzeihen Sie Herrn Bodmer sein erratisches Benehmen. Er ist unter Torfbauern im Kriege aufgewachsen und hat seine Erziehung einem hysterischen Briefträger zu verdanken.«

Er watschelt davon. »Ein stattlicher Mann«, erklärt Gerda. »Ist er verheiratet?«

»Er war es. Seine Frau ist ihm davongelaufen, weil er so geizig ist.«

Gerda befühlt den Damast des Tischtuches. »Sie muß eine dumme Person gewesen sein«, sagt sie träumerisch. »Ich habe sparsame Leute gern. Sie halten ihr Geld zusammen.«

»Das ist in der Inflation das Dümmste, was es gibt.«

»Man muß es natürlich gut anlegen.« Gerda betrachtet die schwer versilberten Messer und Gabeln. »Ich glaube, dein Freund hier macht das schon richtig – auch wenn er ein Poet ist.«

Ich sehe sie leicht überrascht an. »Das mag sein«, sage ich. »Aber andere haben nichts davon. Am wenigsten seine Frau. Die ließ er von morgens bis nachts schuften. Verheiratet sein heißt bei Eduard: umsonst für ihn arbeiten.«

Gerda lächelt ungewiß wie die Mona Lisa. »Jeder Geldschrank hat seine Nummer, weißt du das noch nicht, Baby?«

Ich starre sie an. Was ist hier los? denke ich. Ist das noch dieselbe Person, mit der ich gestern im Gartenrestaurant »Zur schönen Aussicht« für bescheidene fünftausend Mark Butterbrote mit dicker Milch gegessen und über den Zauber des einfachen Lebens gesprochen habe?»Eduard ist fett, schmutzig und unheilbar geizig«, erkläre ich fest. »Und ich weiß das seit vielen Jahren.«

Der Frauenkenner Riesenfeld hat mir einmal gesagt, diese Kombination schrecke jede Frau ab. Aber Gerda scheint keine gewöhnliche Frau zu sein. Sie mustert die großen Kronleuchter, die wie durchsichtige Stalaktiten von der Decke hängen, und bleibt beim Thema. »Wahrscheinlich braucht er jemand, der auf ihn achtgibt. Nicht wie eine Henne natürlich! Er scheint jemand zu brauchen, der seine guten Eigenschaften würdigt.«

Ich bin jetzt offen alarmiert. Geht mein friedliches Zweiwochenglück bereits auf Wanderschaft? Wozu mußte ich es auch an die Stätte des Silbers und Kristalls schleppen!

»Eduard hat keine guten Eigenschaften«, sage ich.

Gerda lächelt wieder. »Jeder Mann hat welche. Man muß sie ihm nur klarmachen.«

In diesem Augenblick erscheint zum Glück der Kellner Freidank und trägt pompös auf einer silbernen Platte eine Pastete heran. »Was ist denn das?« frage ich.

»Leberpastete«, erklärt Freidank hochmütig.

»Auf dem Menü steht aber doch Kartoffelsuppe!«

»Dies ist das Menü, das Herr Knobloch selbst bestimmt haben«, sagt Freidank, der ehemalige Fouriergefreite, und teilt zwei Stücke ab – ein dickes für Gerda, ein dünnes für mich. »Oder wollen Sie lieber die verfassungsgemäße Kartoffelsuppe?« erkundigt er sich kordial. »Kann gemacht werden.«

Gerda lacht. Ich will gerade, erbost über den billigen Versuch Eduards, sie mit Fressen zu kapern, die Kartoffelsuppe verlangen, als Gerda mich unter dem Tisch anstößt. Über dem Tisch wechselt sie graziös die Teller und gibt mir das größte Stück. »So gehört sich das«, sagt sie zu Freidank. »Ein Mann muß immer das größte Stück haben. Oder nicht?«

»Das schon«, stottert Freidank, plötzlich verwirrt. »Zu Hause – aber hier -« Der ehemalige Gefreite weiß nicht, was er machen soll. Er hat den Befehl von Eduard erhalten, Gerda ein generöses Stück, mir aber ein Scheibchen zu geben, und er hat ihn ausgeführt. Jetzt sieht er, daß das Gegenteil daraus geworden ist, und er bricht nahezu zusammen, da er auf einmal selbst die Verantwortung dafür übernehmen muß, was er jetzt tun soll. Das ist in unserm geliebten Vaterlande nicht beliebt. Auf Befehl reagieren wir prompt, das haben wir nun seit Jahrhunderten in unserem stolzen Blut – aber selbst zu entscheiden, das ist eine andere Sache. Freidank tut das einzige, was er kennt: er blickt um Hilfe nach seinem Meister aus und hofft auf einen neuen Befehl.

Eduard erscheint. »Servieren Sie, was stehen Sie herum?«

Ich greife nach meiner Gabel und hacke rasch ein Stück aus der Pastete, die vor mir steht, gerade als Freidank, getreu seinem ersten Befehl, die Teller wieder umtauschen will.

Freidank erstarrt. Gerda prustet los. Eduard, beherrscht wie ein Feldherr, übersieht die Situation, schieb Freidank beiseite, schneidet ein zweites gutes Stück von der Pastete ab, legt es mit Schwung Gerda vor und fragt mich sauersüß:»Schmeckt’s?«

»Es geht«, erwidere ich. »Schade, daß es keine Gänseleber ist.«

»Es ist Gänseleber.«

»Sie schmeckt wie Kalbsleber.«

»Hast du je in deinem Leben Gänseleber gegessen?«

»Eduard«, erwidere ich. »Ich hab‘ sogar Gänseleber gekotzt, soviel habe ich gegessen.«

Eduard lacht durch die Nase. »Wo?« fragt er verächtlich.

»In Frankreich, beim Vormarsch, während meiner Erziehung zum Mann. Wir haben damals einen ganzen Laden voll Gänseleber erobert. In Terrinen, von Straßburg, mit schwarzen Trüffeln aus Perigord, die in deiner hier fehlen. Du schältest damals in der Küche Kartoffeln.«

Ich erzähle nicht, daß mir schlecht geworden ist, weil wir auch noch die Besitzerin des Ladens gefunden hatten – ein altes Frauchen, das in Fetzen an den Resten der Wände klebte, der graue Kopf abgerissen und am Haken eines Ladenregals aufgespießt, wie von einem barbarischen Stamm an einer Lanze.

»Und wie schmeckt es Ihnen?« fragt Eduard Gerda im schmelzenden Ton eines Frosches, der flott an den dunklen Teichen der Weltschwermut hockt.

»Gut«, erwidert Gerda und haut ein.

Eduard macht eine weltmännische Verbeugung und weht davon wie ein tanzender Elefant. »Siehst du«, sagt Gerda und strahlt mich an. »So geizig ist er gar nicht.«

Ich lege meine Gabel nieder. »Höre, du von Sägespänen umwehtes Zirkuswunder«, erwidere ich. »Du siehst einen Menschen vor dir, dessen Stolz noch schwer verletzt ist, um in Eduards Jargon zu reden, weil ihm eine Dame mit einem reichen Schieber durchgegangen ist. Willst du nun, um wieder Eduards Barockprosa zu kopieren, siedendes Oel in die noch nicht verheilten Wunden gießen und mir dasselbe noch einmal vormachen?«

Gerda lacht und ißt. »Rede keinen Unsinn, Schatz«, erklärt sie mit vollen Backen. »Und sei keine beleidigte Leberwurst. Werde noch reicher als die andern, wenn es dich ärgert.«

»Ein schöner Rat! Wie soll ich das machen? Zaubern?«

»So wie die andern. Die haben es doch auch geschafft.«

»Eduard hat dieses Hotel geerbt«, sage ich bitter.

»Und Willy?«

»Willy ist ein Schieber.«

»Was ist ein Schieber?«

»Ein Mann, der die Konjunktur ausnutzt. Der mit allem handelt, von Heringen bis zu Stahlaktien. Der Geschäfte macht, wo er kann, mit was er kann, wie er kann, wenn er nur gerade noch am Gefängnis vorbeikommt.«

»Na, siehst du!« sagt Gerda und greift nach dem Rest der Pastete.

»Findest du, ich sollte auch einer werden?«

Gerda zerkracht ein Brötchen zwischen ihren gesunden Zähnen. »Werde einer oder werde keiner. Aber ärgere dich nicht, wenn du keiner werden willst und die andern es sind. Schimpfen kann jeder, Schatz!«

»Stimmt«, sage ich perplex und plötzlich stark ernüchtert. Eine Menge Seifenblasen scheinen auf einmal in meinem Gehirn zu platzen. Ich sehe Gerda an. Sie hat eine verflucht realistische Art, die Dinge zu betrachten.

»Du hast eigentlich wirklich recht«, sage ich.

»Natürlich habe ich recht. Aber sieh mal, was da erscheint: Glaubst du, das ist auch für uns?«

Es ist für uns. Ein gebratenes Huhn und Spargel dazu. Ein Essen für Munitionsfabrikanten. Eduard überwacht die Sache selbst. Er läßt Freidank tranchieren. »Die Brust für Madame«, kommandiert er.

»Ich nehme lieber ein Bein«, sagt Gerda.

»Ein Bein und ein Stück Brust für Madame«, erklärt Eduard galant.

»Immer zu«, erwidert Gerda. »Sie sind ein Kavalier, Herr Knobloch! Ich wußte es doch!«

Eduard schmunzelt selbstgefällig. Ich verstehe nicht, wozu er das ganze Theater aufführt. Daß Gerda ihm so gefällt, daß er derartige Opfer bringt, kann ich nicht glauben; eher, daß er aus Wut über unsere Eßmarken versucht, sie mir wegzuschnappen. Ein Racheakt ausgleichender Gerechtigkeit also.

»Freidank«, sage ich. »Nehmen Sie das Gerippe von meinem Teller. Ich esse keine Knochen. Geben Sie mir dafür das zweite Bein. Oder handelt es sich bei eurem Huhn um ein amputiertes Kriegsopfer?«

Freidank schaut wie ein Schäferhund auf seinen Herrn.

»Das ist doch das Leckerste«, erklärt Eduard. »Die Brustknochen sind delikat zum Abknabbern.«

»Ich bin kein Knabberer. Ich bin ein Esser.«

Eduard zuckt seine dicken Schultern und gibt mir zögernd das zweite Bein.

»Möchtest du nicht lieber etwas Salat?« fragt er. »Spargel sind sehr schädlich für Trunkenbolde.«

»Gib mir die Spargel. Ich bin ein moderner Mensch und habe einen starken Hang zur Selbstzerstörung.«

Eduard entschwebt wie ein Gummirhinozeros. Mir kommt plötzlich ein Einfall. »Knobloch!« schnauze ich im Generalston Renée de la Tours hinter ihm her.

Er schießt herum, wie von einer Lanze in den Rücken getroffen. »Was soll das?« fragt er mich wütend.

»Was?«

»So zu brüllen.«

»Brüllen? Wer brüllt hier außer dir? Oder ist es zuviel, wenn Miß Schneider etwas Salat haben möchte? Dann biete ihn nicht vorher an!«

Eduards Augen werden enorm. Man sieht einen ungeheuren Verdacht in ihnen aufsteigen und zur Gewißheit werden.

»Sie -« fragt er Gerda. »Sie haben mich gerufen?«

»Wenn Salat da ist, nehme ich gerne welchen«, erklärt Gerda, die nicht errät, was vorgeht. Eduard steht immer noch am Tisch. Er glaubt jetzt fest, daß Gerda die Schwester Renée de la Tours ist. Ich kann sehen, wie er die Leberpastete, das Huhn und die Spargel bereut. Er hat den Eindruck, grauenhaft hereingelegt zu sein. »Es war Herr Bodmer«, sagt Freidank, der herangeschlichen ist. »Ich habe es gesehen.«

Aber Freidanks Worte verhallen ungehört bei Eduard.

»Antworten Sie nur, wenn Sie gefragt werden, Kellner«, sage ich nachlässig zu ihm. »Das sollten Sie bei den Preußen gelernt haben! Und nun gehen Sie und schütten Sie weiter ahnungslosen Leuten Gulaschsaft in den Nacken. Du aber, Eduard, erkläre mir, ob dieses herrliche Essen eine Einladung war, oder ob du dafür unsere Marken kassieren willst?«

Eduard sieht aus, als ob er einen Schlaganfall kriegen wird. »Gib die Marken her, Schuft«, sagt er dumpf.

Ich trenne sie ab und lege die Papierstückchen auf den Tisch. »Wer hier der Schuft war, steht sehr zur Debatte, du verhinderter Don Juan«, sage ich.

Eduard nimmt die Marken nicht selbst auf. »Freidank«, sagt er, diesmal tonlos vor Wut. »Werfen Sie diese Fetzen in den Papierkorb.«

»Halt«, sage ich und greife nach dem Menü. »Wenn wir schon zahlen, haben wir noch das Recht auf ein Dessert. Was möchtest du, Gerda? Rote Grütze oder Kompott?«

»Was empfehlen Sie, Herr Knobloch?« fragt Gerda, die nicht weiß, was für ein Drama in Eduard vorgegangen ist.

Eduard macht eine verzweifelte Geste und geht ab. »Also Kompott!« rufe ich ihm nach.

Er zuckt kurz und geht dann weiter, als schliche er über Eier. Jede Sekunde erwartet er die Kasernenhofstimme.

Ich überlege, verzichte aber dann darauf, als noch wirksamere Taktik. »Was ist auf einmal hier los?« fragt die ahnungslose Gerda.

»Nichts«, erwidere ich unschuldig und teile das Hühnerskelett zwischen uns auf. »Lediglich ein kleines Muster für die These des großen Clausewitz über Strategie: Greife den Gegner an, wenn er glaubt, gesiegt zu haben, und dann da, wo er es am wenigsten vermutet.«

Gerda nickt verständnislos und ißt ihr Kompott, das Freidank respektlos vor uns hinschmeißt. Ich sehe ihr gedankenvoll zu und beschließe, sie nie wieder in das »Walhalla« zu führen und von nun an dem eisernen Gesetz Georgs zu folgen: Zeige einer Frau nichts Neues, dann will sie auch nicht dahin und läuft dir nicht weg.


Es ist Nacht. Ich lehne in meiner Bude am Fenster. Der Mond scheint, der schwere Geruch des Flieders weht aus den Gärten, und ich bin vor einer Stunde aus dem Altstädter Hof nach Hause gekommen. Ein verliebtes Paar huscht die Straßenseite entlang, die im Mondschatten liegt, und verschwindet in unserm Garten. Ich tue nichts dagegen; wer selbst nicht dürstet, ist friedfertig, und die Nächte sind jetzt unwiderstehlich. Damit nichts passiert, habe ich allerdings vor einer Stunde an die beiden kostbaren Kreuzdenkmäler ein Schild gehängt mit der Aufschrift:»Achtung! Kann umfallen! Zerschmettert die Zehen!« Aus irgendwelchen Gründen bevorzugen nämlich die Liebenden die Kreuze, wenn der Boden zu feucht ist; wahrscheinlich, weil sie sich besser daran festhalten können, obschon man glauben könnte, daß mittlere Hügelsteine ebenso vorteilhaft wären. Ich hatte den Gedanken, ein zweites Schild mit einer Empfehlung dafür aufzuhängen, habe es aber nicht getan. Frau Kroll ist manchmal früh auf, und sie würde mich, bei aller Toleranz, ohrfeigen wegen Frivolität, bevor ich ihr erklären könnte, daß ich vor dem Kriege ein prüder Mensch war – eine Eigenschaft, die mir bei der Verteidigung unseres geliebten Vaterlandes abhanden gekommen ist.

Plötzlich sehe ich eine quadratische Gestalt schwarz durch den Mondschein heranstampfen. Ich erstarre. Es ist der Roßschlächter Watzek. Er verschwindet in seiner Wohnung, zwei Stunden zu früh. Vielleicht sind ihm die Gäule ausgegangen; Pferdefleisch ist heute ein sehr beliebter Artikel. Ich beobachte die Fenster. Sie werden hell, und Watzeks Schatten spukt umher. Ich überlege, ob ich Georg Kroll Bescheid sagen soll; aber es ist ein undankbares Geschäft, Liebende zu stören, und außerdem kann es sein, daß Watzek, ohne nachzudenken, schlafen geht. Das scheint aber nicht so zu werden. Der Schlächter öffnet das Fenster und starrt rechts und links die Straße entlang. Ich höre ihn schnaufen. Er schließt die Läden, und nach einer Weile erscheint er vor der Tür, einen Stuhl in der Hand, sein Fleischermesser im Stiefelschaft. Er setzt sich auf den Stuhl, und es sieht aus, als ob er auf Lisas Rückkehr warten will. Ich schaue auf die Uhr; es ist halb zwölf. Die Nacht ist warm, und Watzek kann es Stunden draußen aushalten. Lisa dagegen ist schon ziemlich lange bei Georg; das heisere Fauchen der Liebe ist bereits verstummt, und wenn sie dem Schlächter in die Arme läuft, wird sie zwar eine glaubhafte Erklärung finden, und er wird wahrscheinlich darauf hereinfallen – aber besser ist es doch, wenn das nicht passiert.

Ich schleiche hinunter und klopfe den Anfang des Hohenfriedberger Marsches an Georgs Tür. Sein kahler Kopf erscheint. Ich berichte, was los ist. »Verdammt«, sagte er. »Sieh zu, daß du ihn dort wegbringst.«

»Um diese Zeit?«

»Versuch es! Laß deinen Charme spielen.«

Ich schlendere nach draußen, gähne, bleibe stehen und wandere dann zu Watzek hinüber. »Schöner Abend«, sage ich.

»Schöner Abend, Scheiße«, erwidert Watzek.

»Das auch«, gebe ich zu.

»Es wird nicht mehr lange dauern«, sagt Watzek plötzlich scharf.

»Was?«

»Was? Sie wissen das doch genau! Die Schweinerei! Was sonst?«

»Schweinerei?« frage ich alarmiert. »Wieso?«

»Na, was sonst? Finden Sie das etwa nicht?«

Ich blicke auf das Messer im Stiefel und sehe Georg bereits mit durchschnittener Kehle zwischen den Denkmälern liegen. Lisa natürlich nicht; das ist die alte Idiotie des Mannes. »Wie man es nimmt«, sage ich diplomatisch. Ich verstehe nicht ganz, weshalb Watzek nicht längst in Georgs Fenster geklettert ist. Es liegt im Parterre und ist offen.

»Das alles wird bald anders werden«, erklärt Watzek grimmig. »Blut wird fließen. Die Schuldigen werden büßen.«

Ich sehe ihn an. Er hat lange Arme an seinem gedrungenen Körper und sieht überaus kräftig aus. Ich könnte ihm mit dem Knie gegen das Kinn stoßen und ihm dann, wenn er hochtaumelt, einen zweiten Stoß zwischen die Beine versetzen – oder aber, wenn er losrennt, kann ich ihm ein Bein stellen und seinen Schädel ein paarmal gründlich aufs Pflaster schlagen. Das würde im Augenblick genügen – aber was später?

»Haben Sie ihn gehört?« fragt Watzek.

»Wen?«

»Sie wissen doch! Ihn! Wen sonst? Es gibt doch nur einen!«

Ich lausche. Ich habe nichts gehört. Die Straße ist still. Georgs Fenster ist jetzt vorsichtig zugezogen worden.

»Wen soll ich gehört haben?« frage ich laut, um Zeit zu gewinnen und den andern ein Zeichen zu geben, damit Lisa in den Garten verschwindet.

»Mensch, ihn! Den Führer! Adolf Hitler!«

»Adolf Hitler!« wiederhole ich erlöst. »Den?«

»Was, den?« fragt Watzek herausfordernd. »Sind Sie nicht für ihn?«

»Und wie! Gerade jetzt! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr!«

»Warum haben Sie ihn dann nicht gehört?«

»Er war doch nicht hier.«

»Er war am Radio. Wir haben ihn auf dem Schlachthof gehört. Sechsröhrenapparat. Er wird alles ändern! Wunderbare Rede! Der Mann weiß, was los ist. Alles muß anders werden!«

»Das ist klar«, sage ich. In dem einen Satz steckt das gesamte Rüstzeug aller Demagogen der Welt. »Alles muß anders werden! Wie wäre es mit einem Bier?«

»Bier? Wo?«

»Bei Blume, um die Ecke.«

»Ich warte auf meine Frau.«

»Auf die können Sie bei Blume auch warten. Worüber hat Hitler gesprochen? Ich möchte das gerne genau wissen. Mein Radio ist kaputt.«

»Über alles«, sagt der Schlächter und erhebt sich. »Der Mann weiß alles! Alles, sage ich Ihnen, Kamerad!«

Er stellt den Stuhl in den Hausflur, und wir wandern einträchtig dem Dortmunder Bier in der Gartenwirtschaft Blume entgegen.

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