Über dem Walde steht ein dunstiger, roter Mond. Es ist schwül und sehr still. Der Mann aus Glas geht lautlos vorüber. Er kann jetzt hinaus; die Sonne macht aus seinem Kopf kein Brennglas mehr. Zur Vorsicht trägt er trotzdem dicke Gummihandschuhe – es könnte ein Gewitter geben, und das ist für ihn noch gefährlicher als die Sonne. Isabelle sitzt neben mir auf einer Bank im Garten vor dem Pavillon für die Unheilbaren. Sie trägt ein enges schwarzes Leinenkleid und hockhackige goldene Schuhe an den nackten Füßen.
»Rudolf«, sagt sie,»du hast mich wieder verlassen. Das letztemal hast du mir versprochen, hierzubleiben. Wo bist du gewesen?«
Rudolf, denke ich, gottlob! Rolf hätte ich heute abend nicht ertragen. Ich habe einen zerrissenen Tag hinter mir und fühle mich, als hätte jemand aus einer Schrotflinte mit Salzpatronen auf mich geschossen.
»Ich habe dich nicht verlassen«, sage ich. »Ich war fort – aber ich habe dich nicht verlassen.«
»Wo bist du gewesen?«
»Draußen, irgendwo -«
Draußen, bei den Verrückten, hätte ich fast gesagt, aber ich unterdrücke es rechtzeitig.
»Warum?«
»Ach, Isabelle, ich weiß es selbst nicht. Man tut so vieles, ohne daß man weiß, warum -«
»Ich habe dich gesucht, diese Nacht. Der Mond war da – nicht der dort drüben, der rote, unruhige, der lügt -, nein, der andere, kühle, klare, den man trinken kann.«
»Es wäre sicher besser gewesen, wenn ich hier gewesen wäre«, sage ich und lehne mich zurück und fühle, wie Ruhe von ihr zu mir herüberfließt. »Wie kann man denn den Mond trinken, Isabelle?«
»In Wasser. Es ist ganz einfach. Er schmeckt wie Opal. Du fühlst ihn nicht sehr im Munde; erst später – dann fühlst du, wie er in dir anfängt zu schimmern. Er scheint aus den Augen wieder heraus. Aber du darfst kein Licht machen. Im Licht verwelkt er.«
Ich nehme ihre Hand und lege sie gegen meine Schläfe. Sie ist trocken und kühl. »Wie trinkt man ihn in Wasser?« frage ich.
Isabelle zieht ihre Hand zurück. »Du hältst ein Glas mit Wasser nachts hinaus aus dem Fenster – so.« Sie streckt den Arm aus. »Dann ist er darin. Man kann es sehen, das Glas wird hell.«»Du meinst, er spiegelt sich darin.«
»Er spiegelt sich nicht. Er ist darin.« Sie sieht mich an. »Spiegeln – was meinst du mit spiegeln?«
»Spiegeln ist das Bild in einem Spiegel. Man kann sich in vielem spiegeln, das glatt ist. Auch in Wasser. Aber man ist trotzdem nicht darin.«
»Das glatt ist!« Isabelle lächelt höflich und ungläubig. »Wirklich? So etwas!«
»Aber natürlich. Wenn du vor dem Spiegel stehst, siehst du dich doch auch.«
Sie zieht einen Schuh aus und betrachtet ihren Fuß. Er ist schmal und lang und nicht mit Druckstellen verunstaltet. »Ja, vielleicht«, sagt sie, immer noch höflich und uninteressiert.
»Nicht vielleicht. Bestimmt. Aber das, was du siehst, bist nicht du. Es ist nur ein Spiegelbild. Nicht du.«
»Nein, nicht ich. Aber wo bin ich, wenn es da ist?«»Du stehst vor dem Spiegel. Sonst könnte er dich ja nicht spiegeln.«
Isabelle zieht ihren Schuh wieder an und blickt auf. »Bist du sicher, Rudolf?«
»Ganz sicher.«
»Ich nicht. Was machen Spiegel, wenn sie allein sind?«
»Sie spiegeln das, was da ist.«
»Und wenn nichts da ist?«
»Das gibt es nicht. Irgend etwas ist immer da.«
»Und nachts? Bei Neumond – wenn es ganz dunkel ist, was spiegeln sie dann?«
»Die Dunkelheit«, sage ich, nicht mehr so völlig überzeugt, denn wie kann sich tiefste Dunkelheit spiegeln? Zum Spiegeln gehört immer noch etwas Licht.
»Dann sind sie also tot, wenn es ganz finster ist?«
»Sie schlafen vielleicht – und wenn das Licht wiederkommt, erwachen sie.«
Isabelle nickt nachdenklich und zieht ihr Kleid dicht um die Beine. »Und wenn sie träumen?« fragt sie plötzlich. »Was träumen sie?«
»Wer?«
»Die Spiegel.«
»Ich glaube, sie träumen immer«, sage ich. »Das ist es, was sie den ganzen Tag tun. Sie träumen uns. Sie träumen uns nach der anderen Seite herum. Was bei uns rechts ist, ist bei ihnen links, und was links ist, ist rechts.«
Isabelle dreht sich mir zu. »Dann sind sie die andere Seite von uns?«
Ich überlege. Wer weiß wirklich, was ein Spiegel ist?
»Da siehst du es«, sagt sie. »Und vorhin behauptetest du, es wäre nichts in ihnen. Dabei haben sie unsere andere Seite in sich.«
»Nur so lange, wie wir vor ihnen stehen. Wenn wir weggehen, nicht mehr.«
»Woher weißt du das?«
»Man sieht es. Wenn man fortgeht und zurücksieht, ist unser Bild schon nicht mehr da.«
»Und wenn sie es nur verstecken?«
»Wie können sie es verstecken? Sie spiegeln doch alles! Deshalb sind sie ja Spiegel. Ein Spiegel kann nichts verstecken.«
Eine Falte steht zwischen Isabelles Brauen. »Wo bleibt es dann?«
»Was?«
»Das Bild! Die andere Seite! Springt es in uns zurück?«
»Das weiß ich nicht.«
»Es kann doch nicht verlorengehen!«
»Es geht nicht verloren.«
»Wo bleibt es denn?« fragt sie drängender. »Im Spiegel?«
»Nein. Im Spiegel ist es nicht mehr.«
»Es wird schon noch da sein! Woher weißt du das so genau? Du siehst es doch nicht.«
»Andere Leute sehen auch, daß es nicht mehr da ist. Sie sehen nur ihr eigenes Bild, wenn sie vor dem Spiegel stehen. Nichts anders.«
»Sie verdecken es. Aber wo bleibt meins? Es muß da sein!«
»Es ist ja da«, sage ich und bereue, daß ich das ganze Gespräch angefangen habe. »Wenn du wieder vor den Spiegel trittst, ist es auch wieder da.«
Isabelle ist plötzlich sehr aufgeregt. Sie kniet auf der Bank und beugt sich vor. Schwarz und schmal steht ihre Silhouette vor den Narzissen, deren Gelb im schwülen Abend aussieht, als wären sie aus Schwefel. »Es ist also darin! Und vorhin sagtest du, es sei nicht da.«
Sie umklammert meine Hand und zittert. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, um sie zu beruhigen. Mit physikalischen Gesetzen kann ich ihr nicht kommen; sie würde sie verachtungsvoll ablehnen. Und im Augenblick bin ich der Gesetze auch nicht so ganz sicher. Spiegel scheinen auf einmal wirklich ein Geheimnis zu haben.
»Wo ist es, Rudolf?« flüstert sie und drängt sich gegen mich. »Sag mir, wo es ist! Ist überall von mir ein Stück zurückgeblieben? In all den Spiegeln, die ich gesehen habe? Ich habe viele gesehen, unzählige! Bin ich überall darin verstreut? Hat jeder etwas von mir genommen? Einen dünnen Abdruck, eine dünne Scheibe von mir? Bin ich von Spiegeln zerschnitten worden wie ein Stück Holz von Hobeln? Was ist dann noch von mir da?«
Ich halte ihre Schultern. »Alles ist von dir da«, sage ich. »Im Gegenteil, Spiegel geben noch etwas hinzu. Sie machen es sichtbar und geben es dir zurück – ein Stück Raum, ein beglänztes Stück Selbst.«
»Selbst?« Sie umklammert immer noch meine Hand. »Und wenn es anders ist? Wenn es überall begraben liegt in tausend und tausend Spiegeln? Wie kann man es zurückholen? Ach, man kann es nie zurückholen! Es ist verloren! Verloren! Es ist abgehobelt wie eine Statue, die kein Gesicht mehr hat. Wo ist mein Gesicht? Wo ist mein erstes Gesicht? Das vor allen Spiegeln? Das, bevor sie begannen, mich zu stehlen?«
»Niemand hat dich gestohlen«, sage ich ratlos. »Spiegel stehlen nicht. Sie spiegeln nur.«
Isabelle atmet heftig. Ihr Gesicht ist bleich. In ihren durchsichtigen Augen schimmert der rote Widerschein des Mondes. »Wo ist es geblieben?« flüstert sie. »Wo ist alles geblieben? Wo sind wir überhaupt, Rudolf? Alles läuft und saust und versinkt! Halte mich fest! Laß mich nicht los! Siehst du sie nicht?« Sie starrt zum dunstigen Horizont. »Da fliegen sie! Alle die toten Spiegelbilder! Sie kommen und wollen Blut! Hörst du sie nicht? Die grauen Flügel! Sie flattern wie Fledermäuse! Laß sie nicht heran!«
Sie drückt ihren Kopf gegen meine Schulter und ihren bebenden Körper gegen meinen. Ich halte sie und blicke in die Dämmerung, die tiefer und tiefer wird. Die Luft ist still, aber das Dunkel rückt jetzt aus den Bäumen der Allee langsam vor wie eine lautlose Kompanie von Schatten. Es scheint uns umgehen zu wollen und kommt aus dem Hinterhalt heran, um uns den Weg abzuschneiden. »Komm«, sage ich. »Laß uns gehen! Drüben hinter der Allee ist es heller. Da ist noch viel Licht.«
Sie widerstrebt und schüttelt den Kopf. Ich fühle ihr Haar an meinem Gesicht, es ist weich und riecht nach Heu, und auch ihr Gesicht ist weich, ich fühle die schmalen Knochen, das Kinn und den Bogen der Stirn, und plötzlich bin ich wieder tief verwundert darüber, daß hinter diesem engen Halbkreis eine Welt mit völlig anderen Gesetzen lebt, und daß dieser Kopf, den ich mit meinen Händen mühelos umspanne, alles anders sieht als ich, jeden Baum, jeden Stern, jede Beziehung und auch sich selbst. Ein anderes Universum ist in ihm beschlossen, und einen Augenblick lang schwimmt alles durcheinander, und ich weiß nicht mehr, was Wirklichkeit ist – das, was ich sehe, oder das, was sie sieht, oder das, was ohne uns da ist und was wir nie erkennen können, da es mit ihm so ist, wie mit den Spiegeln, die da sind, wenn wir da sind, und die doch immer nichts anderes spiegeln als unser eigenes Bild. Nie, nie wissen wir, was sie sind, wenn sie allein sind, und was hinter ihnen ist; sie sind nichts, und doch können sie spiegeln und müssen etwas sein; aber niemals geben sie ihr Geheimnis preis.
»Komm«, sage ich. »Komm, Isabelle. Keiner weiß, was er ist und wo und wohin er geht – aber wir sind zusammen, das ist alles, was wir wissen können.«
Ich ziehe sie mit mir. Vielleicht gibt es wirklich nichts anderes, wenn alles zerfällt, denke ich, als das bißchen Beieinandersein, und auch das ist noch ein sanfter Betrug, denn da, wo der andere einen wirklich braucht, kann man ihm nicht folgen und ihm nicht beistehen, das habe ich oft genug gesehen, wenn ich im Kriege in die toten Gesichter meiner Kameraden geblickt habe. Jeder hat seinen eigenen Tod und muß ihn allein sterben, und niemand kann ihm dabei helfen.
»Du läßt mich nicht allein?« flüstert sie.
»Ich lasse dich nicht allein.«
»Schwöre es«, sagt sie und bleibt stehen.
»Ich schwöre es«, erwidere ich unbedenklich.
»Gut, Rudolf.«
Sie seufzt, als wäre jetzt vieles leichter.
»Aber vergiß es nicht. Du vergißt so oft.«
»Ich werde es nicht vergessen.«
»Küsse mich.«
Ich ziehe sie an mich. Ich fühle ein sehr leichtes Grauen und weiß nicht, was ich tun soll, und küsse sie mit trockenen, geschlossenen Lippen.
Sie hebt ihre Hände um meinen Kopf und hält ihn. Plötzlich spüre ich einen scharfen Biß und stoße sie zurück. Meine Unterlippe blutet. Sie hat hineingebissen. Ich starre sie an. Sie lächelt. Ihr Gesicht ist verändert. Es ist böse und schlau. »Blut!« sagt sie leise und triumphierend. »Du wolltest mich wieder betrügen, ich kenne dich! Aber jetzt kannst du es nicht mehr. Es ist besiegelt. Du kannst nicht mehr weg!«
»Ich kann nicht mehr weg«, sage ich ernüchtert. »Meinetwegen! Darum brauchst du mich aber doch nicht wie eine Katze anzufallen. Wie das blutet! Was soll ich der Oberin sagen, wenn sie mich so sieht?«
Isabelle lacht. »Nichts«, erwidert sie. »Warum mußt du immer etwas sagen? Sei doch nicht so feige!«
Ich spüre das Blut lau in meinem Munde. Mein Taschentuch hat keinen Zweck – die Wunde muß sich von selbst schließen. Geneviève steht vor mir. Sie ist plötzlich Jenny. Ihr Mund ist klein und häßlich, und sie lächelt schlau und boshaft. Dann beginnen die Glocken für die Maiandacht. Eine Pflegerin kommt den Weg entlang. Ihr weißer Mantel schimmert ungewiß im Zwielicht.
Meine Wunde ist während der Andacht getrocknet, ich habe meine tausend Mark empfangen und sitze jetzt mit dem Vikar Bodendiek am Tisch. Bodendiek hat seine seidenen Gewänder in der kleinen Sakristei abgelegt. Vor fünfzehn Minuten war er noch eine mystische Figur -, weihrauchumdampft stand er in Brokat und Kerzenlicht da und hob die goldene Monstranz mit dem Leib Christi in der Hostie über die Köpfe der frommen Schwestern und die Schädel der Irren, die Erlaubnis haben, bei der Andacht dabeizusein – jetzt aber, im schwarzen abgeschabten Rock und dem leicht verschwitzten weißen Kragen, der hinten statt vorne geschlossen ist, ist er nur noch ein einfacher Agent Gottes, gemütlich, kräftig, mit den roten Backen, der roten Nase und den geplatzten Äderchen darin, die den Liebhaber des Weines kennzeichnen. Er weiß es nicht – aber er war mein Beichtvater für manche Jahre vor dem Kriege, als wir, auf Anordnung der Schule, jeden Monat beichten und kommunizieren mußten. Wer nicht ganz dumm war, ging zu Bodendiek. Er war schwerhörig, und da man bei der Beichte flüstert, konnte er nicht verstehen, was für Sünden man bekannte. Er gab deshalb die leichtesten Bußen auf. Ein paar Vaterunser, und man war aller Sünden ledig und konnte Fußball spielen gehen oder in der Städtischen Leihbücherei versuchen, verbotene Bücher zu bekommen. Das war etwas anderes als beim Dompastor, zu dem ich einmal geriet, weil ich es eilig hatte und weil vor Bodendieks Beichtstuhl eine lange Schlange Wartender stand. Der Dompastor gab mir eine heimtückische Buße auf: ich mußte in einer Woche wieder zur Beichte kommen, und als ich es tat, fragte er mich, warum ich da sei. Da man in der Beichte nicht lügen darf, sagte ich es ihm, und er gab mir als Buße ein paar Dutzend Rosenkränze zu beten und den Befehl, die folgende Woche ebenfalls wiederzukommen. Das ging so weiter, und ich verzweifelte fast – ich sah mich bereits mein ganzes Leben an der Kette des Dompastors zu wöchentlichen Konfessionen verurteilt. Zum Glück bekam der heilige Mann in der vierten Woche die Masern und mußte im Bett bleiben. Als mein Beichttag herankam, ging ich zu Bodendiek und erklärte ihm mit lauter Stimme die Lage – der Dompastor habe mich verpflichtet, heute wieder zu beichten, aber er sei krank. Was ich tun solle? Zu ihm hingehen könne ich nicht, da Masern ansteckend seien. Bodendiek entschied, daß ich bei ihm ebensogut beichten könne; Beichte sei Beichte und Priester Priester. Ich tat es und war frei. Den Dompastor aber mied ich seither wie die Pest.
Wir sitzen in einem kleinen Zimmer in der Nähe des großen Saales für die freien Kranken. Es ist kein eigentliches Eßzimmer; Bücherregale stehen darin, ein Topf mit weißen Geranien, ein paar Stühle und Sessel und ein runder Tisch. Die Oberin hat uns eine Flasche Wein geschickt, und wir warten auf das Essen. Ich hätte vor zehn Jahren nie geglaubt, einmal mit meinem Beichtvater eine Flasche Wein zu trinken – aber ich hätte damals auch nie geglaubt, daß ich einmal Menschen töten und dafür nicht aufgehängt, sondern dekoriert werden würde, und trotzdem ist es so gekommen.
Bodendiek probiert den Wein. »Ein Schloß Reinhardshausener von der Domäne des Prinzen Heinrich von Preußen«, erklärt er andächtig. »Die Oberin hat uns da etwas sehr Gutes geschickt. Verstehen Sie was von Wein?«
»Wenig«, sage ich.
»Sie sollten es lernen. Speise und Trank sind Gaben Gottes. Man soll sie genießen und verstehen.«
»Der Tod ist sicher auch eine Gabe Gottes«, erwidere ich und blicke durch das Fenster in den dunklen Garten. Es ist windig geworden, und die schwarzen Kronen der Bäume schwanken. »Soll man den auch genießen und verstehen?«
Bodendiek sieht mich über den Rand seines Weinglases belustigt an. »Für einen Christen ist der Tod kein Problem. Er braucht ihn nicht gerade zu genießen; aber verstehen kann er ihn ohne weiteres. Der Tod ist der Eingang zum ewigen Leben. Da ist nichts zu fürchten. Und für viele ist er eine Erlösung.«
»Warum?«
»Eine Erlösung von Krankheit, Schmerz, Einsamkeit und Elend.« Bodendiek nimmt einen genießerischen Schluck und läßt ihn hinter seinen roten Backen im Munde umhergehen.
»Ich weiß«, sage ich. »Die Erlösung vom irdischen Jammertal. Warum hat Gott es eigentlich geschaffen?«
Bodendiek sieht im Augenblick nicht so aus, als könne er das Jammertal nicht ertragen. Er ist rund und voll und hat die Schöße seines Priesterrocks über die Lehne des Stuhls gebreitet, damit sie nicht zerknittern unter dem Druck seines kräftigen Hinterns. So sitzt er da, der Kenner des Jenseits und des Weines, das Glas fest in der Hand.
»Wozu hat Gott eigentlich das irdische Jammertal geschaffen?« wiederhole ich. »Hätte er uns nicht gleich im ewigen Leben lassen können?«
Bodendiek hebt die Schultern. »Sie können das in der Bibel nachlesen. Der Mensch, das Paradies, der Sündenfall -«
»Der Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradiese, die Erbsünde und damit der Fluch über hunderttausend Generationen. Der Gott der längsten Rache, die es je gegeben hat.«
»Der Gott der Vergebung«, erwidert Bodendiek und hält den Wein gegen das Licht. »Der Gott der Liebe und der Gerechtigkeit, der immer wieder bereit ist, zu vergeben, und der seinen eigenen Sohn geopfert hat, um die Menschheit zu erlösen.«
»Herr Vikar Bodendiek«, sagte ich, plötzlich sehr wütend. »Weshalb hat der Gott der Liebe und der Gerechtigkeit eigentlich die Menschen so verschieden erschaffen? Warum den einen elend und krank und den andern gesund und gemein?«
»Wer hier erniedrigt wird, wird im Jenseits erhöht. Gott ist die ausgleichende Gerechtigkeit.«
»Ich bin nicht so sicher«, erwidere ich. »Ich kannte eine Frau, die zehn Jahre Krebs hatte, die sechs fürchterliche Operationen hinter sich brachte, die nie ohne Schmerzen war und die schließlich an Gott verzweifelte, als zwei ihrer Kinder starben. Sie ging nicht mehr zur Messe, zur Beichte und zur Kommunion, und nach den Regeln der Kirche starb sie im Stande der Todsünde. Nach denselben Regeln brennt sie jetzt für alle Ewigkeit in der Hölle, die der Gott der Liebe geschaffen hat. Das ist gerecht, nicht wahr?«
Bodendiek sieht eine Zeitlang in den Wein. »Ist es Ihre Mutter?« fragt er dann.
Ich starre ihn an. »Was hat das damit zu tun?«
»Es ist Ihre Mutter, nicht wahr?«
Ich schlucke. »Und wenn es meine Mutter wäre -«
Er schweigt. »Es genügt eine einzige Sekunde, um sich mit Gott zu versöhnen«, sagt er dann behutsam. »Eine Sekunde vor dem Tode. Ein einziger Gedanke. Er braucht nicht einmal ausgesprochen zu werden.«
»Das habe ich vor ein paar Tagen einer verzweifelten Frau auch gesagt. Aber wenn der Gedanke nicht da war?«
Bodendiek sieht mich an. »Die Kirche hat Regeln. Sie hat Regeln, um zu verhüten und zu erziehen. Gott hat keine. Gott ist die Liebe. Wer von uns kann wissen, wie er richtet?«
»Richtet er?«
»Wir nennen es so. Es ist Liebe.«
»Liebe«, sage ich bitter. »Eine Liebe, die voll Sadismus ist. Eine Liebe, die quält und elend macht und die entsetzliche Ungerechtigkeit der Welt mit dem Versprechen eines imaginären Himmels zu korrigieren glaubt.«
Bodendiek lächelt. »Glauben Sie nicht, daß vor Ihnen schon andere Leute darüber nachgedacht haben?«
»Ja, unzählige. Und klügere als ich.«
»Das glaube ich auch«, erwidert Bodendiek gemütlich.
»Das ändert nichts daran, daß ich es nicht auch tue.«
»Bestimmt nicht.« Bodendiek schenkt sein Glas voll. »Tun Sie es nur gründlich. Zweifel ist die Kehrseite des Glaubens.«
Ich sehe ihn an. Er sitzt da, ein Turm der Festigkeit, und nichts kann ihn erschüttern. Hinter seinem kräftigen Kopf steht die Nacht, die unruhige Nacht Isabelles, die weht und gegen das Fenster stößt und endlos und voller Fragen ohne Antwort ist. Bodendiek aber hat auf alles eine Antwort.
Die Tür öffnet sich. Auf einer großen Platte erscheint das Essen, in runden Schüsseln, die aufeinandergestellt sind. Eine paßt in die andere, es ist die Art, wie in Hospitälern serviert wird. Die Küchenschwester breitet ein Tuch über den Tisch, legt Messer, Löffel und Gabeln darauf und verschwindet.
Bodendiek lüftet die obere Schüssel. »Was haben wir denn heute nacht? Bouillon«, sagt er zärtlich. »Bouillon mit Markklößchen. Erstklassig! Und Rotkohl mit Sauerbraten. Eine Offenbarung!«
Er schöpft die Teller voll und beginnt zu essen. Ich ärgere mich darüber, mit ihm disputiert zu haben, und fühle, daß er klar überlegen ist, obschon es nichts mit dem Problem zu tun hat. Er ist überlegen, weil er nichts sucht. Er weiß. Aber was weiß er schon? Beweisen kann er nichts. Trotzdem kann er mit mir spielen, wie er will.
Der Arzt kommt herein. Es ist nicht der Direktor; es ist der behandelnde Arzt. »Essen Sie mit uns?« fragt Bodendiek. »Dann müssen Sie sich dazuhalten. Wir lassen sonst nichts übrig.«
Der Arzt schüttelt den Kopf. »Ich habe keine Zeit. Es gibt ein Gewitter. Da sind die Kranken immer besonders unruhig.«
»Es sieht nicht nach einem Gewitter aus.«
»Noch nicht. Aber es wird kommen. Die Kranken fühlen das voraus. Wir, mußten schon ein paar ins Dauerbad legen. Es wird eine schwierige Nacht werden.«
Bodendiek verteilt den Sauerbraten zwischen uns. Er nimmt sich die größere Portion. »Gut, Doktor«, sagt er.
»Aber trinken Sie wenigstens ein Glas Wein mit uns. Es ist ein Fünfzehner. Eine Gabe Gottes! Sogar für unseren jungen Heiden hier.«
Er zwinkert mir zu, und ich möchte ihm gern meine Sauerbratensauce in seinen leicht speckigen Kragen schütten. Der Doktor setzt sich zu uns und nimmt das Glas an. Die bleiche Schwester steckt den Kopf durch die Tür.
»Ich esse jetzt nicht, Schwester«, sagt der Doktor. »Stellen Sie mir ein paar belegte Brote und eine Flasche Bier in mein Zimmer.«
Er ist ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, dunkel, mit einem schmalen Gesicht, dicht zusammenstehenden Augen und großen, abstehenden Ohren. Er heißt Wernicke, Guido Wernicke, und haßt seinen Vornamen so, wie ich »Rolf« hasse.
»Wie steht’s mit Fräulein Terhoven?« frage ich.
»Terhoven? Ach so – nicht so besonders, leider. Haben Sie nichts bemerkt heute? Eine Änderung?«
»Nein. Sie war so wie immer. Vielleicht etwas erregter; aber Sie sagten ja, das käme vom Gewitter.«
»Wir werden sehen. Man kann nie viel voraussagen hier oben.«
Bodendiek lacht. »Das sicher nicht. Hier nicht.«
Ich sehe ihn an. Was für ein roher Christ, denke ich. Aber dann fällt mir ein, daß er ja berufsmäßiger Seelenpfleger ist; dabei geht immer etwas an Empfindung auf Kosten des Könnens verloren – ebenso wie bei Ärzten, Krankenschwestern und Grabsteinverkäufern.
Ich höre, wie er sich mit Wernicke unterhält. Ich habe plötzlich keine Lust mehr zu essen und stehe auf und gehe ans Fenster. Hinter den bewegten schwarzen Wipfeln ist eine Wolkenwand mit fahlen Rändern emporgewachsen. Ich starre hinaus. Alles scheint auf einmal sehr fremd, und hinter dem vertrauten Gartenbild drängt ein anderes, wilderes schweigend hervor, das das alte wegstößt wie eine leere Hülse. Ich erinnere mich an Isabelles Schrei:»Wo ist mein erstes Gesicht? Mein Gesicht vor allen Spiegeln?« Ja, wo ist das allererste Gesicht? denke ich. Die Urlandschaft, bevor sie zur Landschaft unserer Sinne wurde, zu Park und Wald und Haus und Mensch – wo ist das Gesicht Bodendieks, bevor es Bodendiek wurde, wo das Wernickes, bevor es seinem Namen entsprach? Wissen wir noch etwas davon? Oder sind wir gefangen in einem Netz von Begriffen und Worten, von Logik und täuschender Vernunft, und dahinter stehen die einsam lodernden Urfeuer, zu denen wir keinen Zugang mehr haben, weil wir sie in Nützlichkeit und Wärme verwandelt haben, in Küchenfeuer und Heizung und Schwindel und Gewißheit und Bürgerlichkeit und Mauern und allenfalls in ein türkisches Bad schwitzender Philosophie und Wissenschaft? Wo sind sie? Stehen sie immer noch unfaßbar und rein und unzugänglich hinter Leben und Tod, bevor sie Leben und Tod für uns wurden, und sind vielleicht nur die, die jetzt in diesem Hause in ihren vergitterten Zimmern hocken und schleichen und starren und das Gewitter in ihrem Blut fühlen, ihnen nahe? Wo ist die Grenze, die Chaos von Ordnung scheidet, und wer kann sie überschreiten und zurückkommen, und wenn es ihm gelingt, wer weiß dann noch etwas davon? Löscht das eine nicht die Erinnerung an das andere aus? Wer ist der Gestörte, Gezeichnete, Verbannte, sind wir es mit unseren Grenzen, mit unserer Vernunft, unserem geordneten Weltbild, oder sind es die andern, durch die das Chaos rast und blitzt, und die dem Grenzenlosen preisgegeben sind wie Zimmer ohne Türen, ohne Decke, Räume mit drei Wanden, in die es hineinblitzt und stürmt und regnet, während wir andern stolz in unsern geschlossenen Zimmern mit Türen und vier Wänden umhergehen und glauben, wir seien überlegen, weil wir dem Chaos entkommen sind? Aber was ist Chaos? Und was Ordnung? Und wer hat sie? Und warum? Und wer entkommt je?
Ein fahles Leuchten fliegt über dem Parkrand hoch, und nach langer Zeit antwortet ein sehr schwaches Murren. Wie eine Kabine voll Licht scheint unser Zimmer zu schwimmen in der Nacht, die unheimlich wird, als rüttelten irgendwo gefangene Riesen an ihren Ketten, um aufzuspringen und das Geschlecht der Zwerge zu vernichten, das sie für kurze Zeit gefesselt hat. Eine Kabine mit Licht in der Dunkelheit, Bücher und drei geordnete Gehirne in einem Hause, in dem wie in den Waben eines Bienenkorbes das Unheimliche eingesperrt ist, wetterleuchtend in den zerstörten Gehirnen ringsum! Wie, wenn in einer Sekunde ein Blitz der Erkenntnis durch alle schlüge und sie sich zusammenfänden in einer Revolte, wenn sie die Schlösser brächen, die Stangen zersprengten, und wie eine graue Woge die Treppe hinaufschäumten und das erleuchtete Zimmer, diese Kabine begrenzten, festen Geistes wegschwemmten in die Nacht und in das, was ohne Namen mächtiger hinter der Nacht steht?
Ich drehe mich um. Der Mann des Glaubens und der Mann der Wissenschaft sitzen unter dem Licht, das sie bescheint. Die Welt ist keine vage, zitternde Unruhe für sie, kein Murren aus Tiefen, kein Wetterleuchten in eisigen Ätherräumen – sie sind Männer des Glaubens und der Wissenschaft, sie haben Senkblei und Lot und Waage und Maß, jeder ein anderes, aber das ficht sie nicht an, sie sind sicher, sie haben Namen, die sie wie Etiketten auf alles kleben können, sie schlafen gut, sie haben einen Zweck, das genügt ihnen, und selbst das Grauen, der schwarze Vorhang vor dem Selbstmord, hat seinen wohlgeordneten Platz in ihrem Dasein, es hat einen Namen und ist klassifiziert und damit ungefährlich geworden. Nur das Namenlose tötet, oder das, was seinen Namen gesprengt hat.
»Es blitzt«, sage ich.
Der Doktor sieht auf. »Tatsächlich!«
Er erörtert gerade das Wesen der Schizophrenie, der Krankheit Isabelles. Sein dunkles Gesicht ist von Eifer leicht gerötet. Er erklärt, wie Kranke dieser Art blitzartig, in Sekunden, von einer Persönlichkeit in die andere springen, und daß man sie in alten Zeiten als Seher und Heilige bezeichnet habe und in anderen als vom Teufel Besessene, vor denen das Volk abergläubischen Respekt hatte. Er philosophiert über die Gründe, und ich wundere mich plötzlich, woher er das alles weiß und warum er es als Krankheit bezeichnet. Könnte man es nicht ebensogut als einen besonderen Reichtum ansehen? Hat nicht jeder normale Mensch auch ein Dutzend Persönlichkeiten in sich? Und ist der Unterschied nicht nur der, daß der Gesunde sie unterdrückt und der Kranke sie freiläßt? Wer ist da krank?
Ich trete an den Tisch und trinke mein Glas aus. Bodendiek betrachtet mich wohlwollend; Wernicke so, wie man einen völlig uninteressanten Fall ansieht. Ich fühle zum erstenmal den Wein; ich fühle, daß er gut ist, in sich geschlossen, gereift und nicht lose. Er hat kein Chaos mehr in sich, denke ich. Er hat es verwandelt. Verwandelt in Harmonie. Aber verwandelt, nicht ersetzt. Er ist ihm nicht ausgewichen. Ich bin plötzlich, eine Sekunde lang, ohne Grund unsagbar glücklich. Man kann das also, denke ich. Man kann es verwandeln! Es ist nicht nur eins oder das andere. Es kann auch eins durch das andere sein.
Ein neuer blasser Schein wirft sich gegen das Fenster und erlischt. Der Doktor erhebt sich. »Es geht los. Ich muß zu den Geschlossenen hinüber.«
Die Geschlossenen sind die Kranken, die nie herauskommen. Sie bleiben eingeschlossen, bis sie sterben, in Zimmern mit festgeschraubten Möbeln, mit vergitterten Fenstern und mit Türen, die man nur von außen mit Schlüsseln öffnen kann. Sie sind in Käfigen wie gefährliche Raubtiere, und niemand spricht gerne von ihnen.
Wernicke sieht mich an. »Was ist mit Ihrer Lippe los?«
»Nichts. Ich habe mich im Traum gebissen.«
Bodendiek lacht. Die Tür öffnet sich, und die kleine Schwester bringt eine neue Flasche Wein herein, mit drei Gläsern dazu. Wernicke verläßt mit der Schwester das Zimmer. Bodendiek greift nach der Flasche und schenkt sich ein. Ich verstehe jetzt, warum er Wernicke angeboten hat, mit uns zu trinken; die Oberin hat daraufhin die neue Flasche geschickt. Eine allein wäre nicht genug für drei Männer. Dieser Schlauberger, denke ich. Er hat das Wunder der Speisung bei der Bergpredigt wiederholt. Aus einem Glas für Wernicke hat er eine ganze Flasche für sich gemacht. »Sie trinken wohl nicht mehr, wie?« fragt er.
»Doch!« erwidere ich und setze mich. »Ich bin auf den Geschmack gekommen. Sie haben ihn mir beigebracht. Danke herzlich.«
Bodendiek zieht mit einem sauersüßen Lächeln die Flasche wieder aus dem Eis. Er betrachtet das Etikett einen Augenblick, ehe er mir eingießt – ein viertel Glas. Sein eigenes schenkt er fast bis zum Rande voll. Ich nehme ihm ruhig die Flasche aus der Hand und gieße mein Glas nach, bis es ebenso gefüllt ist wie seines. »Herr Vikar«, sage ich. »In manchen Dingen sind wir gar nicht so verschieden.«
Bodendiek lacht plötzlich. Sein Gesicht entfaltet sich wie eine Pfingstrose. »Zum Wohle«, sagt er salbungsvoll.
Das Gewitter murrt und zieht hin und her. Wie lautlose Säbelhiebe fallen die Blitze. Ich sitze am Fenster meines Zimmers, die Fetzen aller Briefe Ernas vor mir in einem ausgehöhlten Elefantenfuß, den mir der Weltreisende Hans Ledermann, der Sohn des Schneidermeisters Ledermann, vor einem Jahr als Papierkorb geschenkt hat.
Ich bin fertig mit Erna. Ich habe mir alle ihre unangenehmen Eigenschaften aufgezählt; ich habe sie emotionell und menschlich in mir vernichtet und als Dessert ein paar Kapitel Schopenhauer und Nietzsche gelesen. Aber trotzdem möchte ich lieber, daß ich einen Smoking hätte, ein Auto und einen Chauffeur, und daß ich, begleitet von zwei bis drei bekannten Schauspielerinnen, einige Hundert Millionen in der Tasche, jetzt in der Roten Mühle auftauchen könnte, um der Schlange dort den Schlag ihres Lebens zu versetzen. Ich träume eine Zeitlang davon, wie es wäre, wenn sie morgen in der Zeitung lesen würde, ich hätte das große Los gewonnen oder wäre schwer verletzt worden, während ich Kinder aus brennenden Häusern gerettet hätte. Dann sehe ich Licht in Lisas Zimmer.
Sie öffnet es und macht Zeichen. Mein Zimmer ist dunkel, sie kann mich nicht sehen; also meint sie nicht mich. Sie sagt lautlos etwas, zeigt auf ihre Brust und dann auf unser Haus, und nickt. Darauf erlischt das Licht.
Ich beuge mich vorsichtig hinaus. Es ist zwölf Uhr nachts, und die Fenster rundum sind dunkel. Nur das von Georg Kroll ist offen.
Ich warte und sehe, wie Lisas Haustür sich bewegt. Sie tritt heraus, sieht rasch nach beiden Seiten und läuft über die Straße. Sie trägt ein leichtes buntes Kleid und hat ihre Schuhe in der Hand, um kein Geräusch zu machen. Gleichzeitig höre ich, wie sich die Haustür bei uns vorsichtig öffnet. Es muß Georg sein. Die Haustür hat oben eine Klingel, und um sie ohne Krach zu öffnen, muß man auf einen Stuhl steigen, die Klingel festhalten und mit dem Fuß die Klinke herunterdrücken und aufziehen, eine akrobatische Leistung, zu der man nüchtern sein muß. Ich weiß, daß Georg heute abend nüchtern ist.
Gemurmel ertönt; das Klappern von hohen Absätzen. Lisa, das eitle Biest, hat also ihre Schuhe wieder angezogen, um verführerischer auszusehen. Die Tür zu Georgs Zimmer seufzt leise. Also doch! Wer hätte das erwartet? Georg, dieses stille Wasser! Wann hat er das nur geschafft?
Das Gewitter kommt zurück. Der Donner wird stärker, und plötzlich, wie ein Regen von Silbertalern, stürzt das Wasser auf das Pflaster. Es sprüht als Staubfontäne zurück, und Kühle weht erfrischend herauf. Ich lehne aus dem Fenster und blicke in den nassen Tumult. Das Wasser schießt bereits durch die Abflußrinnen, Blitze leuchten hinein, und im Auf- und Abflammen sehe ich aus Georgs Zimmer die nackten Arme Lisas sich in den Regen strecken, und dann sehe ich ihren Kopf und höre ihre heisere Stimme. Georgs kahlen Kopf sehe ich nicht. Er ist kein Naturschwärmer.
Das Hoftor öffnet sich unter einem Fausthieb. Klatschnaß wankt der Feldwebel Knopf herein. Das Wasser trieft von seiner Kappe. Gottlob, denke ich, bei dem Wetter brauche ich nicht mit einem Wassereimer hinter seinen Schweinereien her zu sein! Aber Knopf enttäuscht mich. Er sieht sein Opfer, den schwarzen Obelisken, überhaupt nicht an. Fluchend und nach dem Regen schlagend wie nach Stechmücken, flüchtet er ins Haus. Wasser ist sein großer Feind.
Ich nehme den Elefantenfuß und leere seinen Inhalt auf die Straße. Der Regen schwemmt Ernas Liebesgeschwätz rasch davon. Das Geld hat gesiegt, denke ich, wie immer, obschon es nichts wert ist. Ich gehe zum anderen Fenster und sehe in den Garten. Das große Regenfest ist dort in vollem Gange, eine grüne Orgie der Begattung, schamlos und unschuldig. Im Aufblitzen des Wetterleuchtens sehe ich die Grabplatte für den Selbstmörder. Sie ist beiseite gestellt, die Inschrift ist eingehauen und leuchtet golden. Ich ziehe das Fenster zu und mache Licht. Unten murmeln Georg und Lisa. Mein Zimmer erscheint mir plötzlich entsetzlich leer. Ich öffne das Fenster wieder, lausche in das anonyme Brausen und beschließe, mir vom Buchhändler Bauer als Honorar für die letzte Woche Nachhilfeunterricht ein Buch über Yoga, Entsagung und Selbstgenügsamkeit geben zu lassen. Die Leute sollen darin mit Atemübungen Fabelhaftes erreicht haben.
Bevor ich schlafen gehe, komme ich an meinem Spiegel vorbei. Ich bleibe stehen und sehe hinein. Was ist da wirklich? denke ich. Woher kommt die Perspektive, die keine ist, die Tiefe, die täuscht, der Raum, der Ebene ist? Und wer ist das, der da herausschaut und nicht da ist?
Ich sehe meine Lippe, geschwollen und verkrustet, ich berühre sie, und jemand gegenüber berührt eine Geisterlippe, die nicht da ist. Ich grinse, und der Nicht-Jemand grinst zurück. Ich schüttle den Kopf, und der Nicht-Jemand schüttelt den Nicht-Kopf. Wer von uns ist wer? Und was ist Ich? Das da oder das Fleischumkleidete davor? Oder ist es noch etwas anderes, etwas hinter beiden? Ich spüre einen Schauder und lösche das Licht.