IV

Wir sitzen im Büro und warten auf Riesenfeld. Als Abendessen haben wir eine Erbsensuppe zu uns genommen, die so dick war, daß der Schöpflöffel aufrecht darin stehenblieb – dazu haben wir das Fleisch gegessen, das hineingekocht worden ist – Schweinepfoten, Schweineohren und für jeden ein sehr fettes Stück Schweinebauch. Das Fett brauchen wir, um unsere Mägen gegen den Alkohol zu imprägnieren – wir dürfen heute auf keinen Fall früher betrunken werden als Riesenfeld. Die alte Frau Kroll hat deshalb selbst für uns gekocht und uns zum Nachtisch noch eine Portion fetten Holländer Käse aufgedrängt. Die Zukunft der Firma steht auf dem Spiel. Wir müssen Riesenfeld eine Ladung Granit entreißen, selbst wenn wir dafür auf den Knien vor ihm nach Hause rutschen müssen. Marmor, Muschelkalk und Sandstein haben wir noch – aber Granit, der Kaviar der Trauer, fehlt uns bitter.

Heinrich Kroll ist aus dem Weg geräumt worden. Der Sargtischler Wilke hat uns den Gefallen getan. Wir haben ihm zwei Flaschen Korn gegeben, und er hat Heinrich vor dem Abendessen zu einem Skat mit freiem Schnaps eingeladen. Heinrich ist daraufhereingefallen; er kann nicht widerstehen, wenn er etwas umsonst bekommt, und trinkt dann, so rasch er kann; außerdem hält er sich, wie jeder nationale Mann, für einen sehr widerstandsfähigen Zecher. In Wirklichkeit kann er nicht viel vertragen, und der Rausch holt ihn plötzlich. Ein paar Minuten vorher ist er noch bereit, die sozialdemokratische Partei allein aus dem Reichstag zu prügeln – und gleich darauf schnarcht er mit offenem Munde und ist nicht einmal durch das Kommando: Sprung auf, marsch, marsch! mehr zu erwecken, besonders wenn er, wie wir das arrangiert haben, vor dem Essen auf leeren Magen den Schnaps getrunken hat. Er schläft jetzt unschädlich in Wilkes Werkstatt in einem Sarg aus Eichenholz, weich auf Sägespäne gebettet. In sein Bett haben wir ihn, aus äußerster Vorsicht, da er darüber erwachen könnte, nicht gebracht. Wilke aber sitzt eine Etage tiefer im Atelier unseres Bildhauers Kurt Bach und spielt mit ihm Domino, ein Spiel, das beide lieben, weil es soviel freie Zeit zum Denken gibt. Dazu trinken sie die eineinviertel Flaschen Schnaps, die nach Heinrichs Niederlage übriggeblieben sind und die Wilke als Honorar beansprucht hat.


Die Ladung Granit, die wir Riesenfeld entreißen wollen, können wir ihm natürlich nicht im voraus bezahlen. Soviel Geld haben wir nie zusammen, und es wäre auch Irrsinn, es auf der Bank halten zu wollen – es zerflösse wie Schnee im Juni. Wir wollen Riesenfeld deshalb einen Wechsel geben, der in drei Monaten fällig ist. Das heißt, wir wollen fast umsonst kaufen.

Natürlich kann Riesenfeld dabei nicht der Leidtragende sein. Dieser Hai im Meere menschlicher Tränen will verdienen wie jeder ehrliche Geschäftsmann. Er muß deshalb den Wechsel am Tage, an dem er ihn von uns erhält, seiner oder unserer Bank geben und ihn diskontieren lassen. Die Bank stellt dann fest, daß sowohl Riesenfeld als auch wir gut für den Betrag sind, auf den er lautet, zieht ein paar Prozente für die Diskontierung ab und zahlt ihn aus. Wir geben Riesenfeld die Prozente für die Diskontierung sofort zurück. Er hat damit sein volles Geld für die Ladung erhalten, als hätten wir es ihm vorausgezahlt. Aber auch die Bank verliert nichts. Sie gibt den Wechsel sofort an die Reichsbank weiter, die ihn ihr ebenso auszahlt, wie sie vorher Riesenfeld. Erst bei der Reichsbank bleibt er liegen, bis er fällig ist und zur Einlösung präsentiert wird. Was er dann noch wert ist, läßt sich denken.

Wir kennen alles dieses erst seit 1922. Bis dahin hatten wir gearbeitet wie Heinrich Kroll und waren darüber fast bankrott gegangen. Als wir beinahe das gesamte Lager ausverkauft hatten und zu unserm Erstaunen nichts dafür besaßen als ein wertloses Bankkonto und ein paar Koffer mit Geldscheinen, die nicht einmal gut genug waren, um unsere Bude damit zu tapezieren, versuchten wir zuerst, so rasch wir konnten, zu verkaufen und wieder einzukaufen – aber die Inflation überholte uns dabei mühelos. Es dauerte zu lange, bis wir die Denkmäler bezahlt bekamen – in der Zwischenzeit fiel das Geld so rasch, daß selbst der beste Verkauf zum Verlust wurde. Erst als wir anfingen, mit Wechseln zu zahlen, konnten wir uns halten. Wir verdienen auch jetzt noch nichts Rechtes; aber wir können wenigstens leben. Da jedes Unternehmen Deutschlands sich auf diese Weise finanziert, muß die Reichsbank natürlich immer weiter ungedecktes Geld drucken, und der Kurs fällt dadurch immer schneller. Der Regierung ist das scheinbar auch recht; sie verliert auf diese Weise alle ihre Landesschulden. Wer dabei kaputtgeht, sind die Leute, die nicht auf Wechsel kaufen können, Leute, die etwas Besitz haben und ihn verkaufen müssen, kleine Ladenbesitzer, Arbeiter, Rentner, die ihre Sparkasseneinlagen und ihre Bankguthaben dahinschmelzen sehen, und Angestellte und Beamte, die ihr Leben von Gehältern fristen müssen, die ihnen nicht mehr erlauben, auch nur ein Paar neue Schuhe zu kaufen. Wer verdient, sind die Schieber, die Wechselkönige, die Ausländer, die für ein paar Dollars, Kronen oder Zlotys kaufen können, was sie wollen, und die großen Unternehmer, Fabrikanten und Börsenspekulanten, die ihre Aktien und ihren Besitz ins Ungemessene vergrößern. Für sie ist alles beinahe umsonst. Es ist der große Ausverkauf des Sparers, des ehrlichen Einkommens und der Anständigkeit. Die Geier flattern von allen Seiten, und nur wer Schulden machen kann, ist fein heraus. Sie verschwinden von selbst.


Riesenfeld war es, der uns alles dies im letzten Augenblick beigebracht und uns zu winzigen Mitschmarotzern an der großen Pleite gemacht hat. Er akzeptierte von uns den ersten Dreimonatswechsel, obwohl zumindest wir damals nicht gut für die Summe waren, die daraufstand. Aber die Odenwälder Werke waren gut, und das genügte. Wir waren natürlich dankbar. Wir versuchten ihn zu unterhalten wie einen indischen Radscha, wenn er nach Werdenbrück kam – das heißt, soweit ein indischer Radscha eben in Werdenbrück unterhalten werden kann. Kurt Bach, unser Bildhauer, machte ein farbiges Porträt von ihm, das wir ihm feierlich in einem stilgemäßen echten Goldrahmen überreichten. Leider freute es ihn nicht. Er sieht darauf aus wie ein Pfarramtskandidat, und gerade das will er nicht. Er will aussehen wie ein dunkler Verführer und nimmt auch an, daß er so wirke – ein bemerkenswertes Beispiel von Selbsttäuschung, wenn man einen Spitzbauch und kurze, krumme Beine hat. Aber wer lebt nicht von Selbsttäuschung? Hege ich mit meinen harmlosen Durchschnittsfähigkeiten nicht auch noch, besonders abends, den Traum, ein besserer Mensch zu werden, mit Talent genug, einen Verleger zu finden? Wer wirft da den ersten Stein nach Riesenfelds O-Beinen, besonders wenn sie, in diesen Zeiten, in echt englischem Kammgarnstoff stecken?

»Was machen wir nur mit ihm, Georg?« sage ich. »Wir haben keine einzige Attraktion! Mit einfachem Saufen ist Riesenfeld nicht zufrieden. Er hat zuviel Phantasie dafür und einen zu ruhelosen Charakter. Er will etwas sehen und hören und, wenn möglich, anfassen. Unsere Auswahl an Damen aber ist trostlos. Die paar hübschen, die wir kennen, haben keine Lust, sich einen ganzen Abend Riesenfeld in seiner Rolle als Don Juan von 1923 anzuhören. Hilfsbereitschaft und Verständnis findet man leider nur bei häßlichen und ältlichen Vögeln.«

Georg grinst. »Ich weiß nicht einmal, ob unser Bargeld für heute abend reicht. Als ich gestern den Zaster holte, habe ich mich im Dollarkurs geirrt; ich dachte, es wäre noch der von vormittags. Als der von zwölf Uhr rauskam, war es zu spät. Die Bank schließt sonnabends mittags.«

»Dafür hat sich heute nichts geändert.«

»In der Roten Mühle schon, mein Sohn. Dort ist man sonntags dem Dollarkurs schon um zwei Tage voraus. Weiß Gott, was eine Flasche Wein da heute abend kosten wird!«

»Gott weiß das auch nicht«, sage ich. »Der Besitzer weiß es ja selbst noch nicht. Er setzt die Preise erst fest, wenn das elektrische Licht angeht. Warum liebt Riesenfeld nicht Kunst, Malerei, Musik oder Literatur? Das käme viel billiger. Im Museum kostet der Eintritt immer noch 250 Mark. Wir könnten ihm dafür stundenlang Bilder und Gipsköpfe zeigen. Oder Musik. Heute ist ein volkstümliches Orgelkonzert in der Katharinenkirche -«

Georg verschluckt sich vor Lachen. »Na, schön«, erkläre ich. »Es ist absurd, sich Riesenfeld dabei vorzustellen; aber warum liebt er nicht wenigstens Operetten und leichte Musik? Wir könnten ihn ins Theater mitnehmen – immer noch billiger als der verdammte Nachtklub!«

»Da kommt er«, sagt Georg. »Frag ihn.«

Wir öffnen die Tür. Durch den frühen Abend segelt Riesenfeld die Treppenstufen herauf. Der Zauber der Frühlingsdämmerung hat keinen Einfluß auf ihn gehabt, das sehen wir sofort. Wir begrüßen ihn mit falscher Kameraderie. Riesenfeld merkt es, schielt uns an und plumpst in einen Sessel. »Sparen Sie sich die Flausen«, brummt er in meine Richtung.

»Das wollte ich sowieso«, erwidere ich. »Es fällt mir nur schwer. Das, was Sie Flausen nennen, heißt anderswo gute Manieren.«

Riesenfeld grinst kurz und böse. »Mit guten Manieren kommt man heutzutage nicht weit -«

»Womit denn?« fragte ich, um ihn zum Reden zu bringen.

»Mit gußeisernen Ellenbogen und einem Gummigewissen.«

»Aber Herr Riesenfeld«, sagt Georg begütigend. »Sie haben doch selbst die besten Manieren der Welt! Nicht die besten im bürgerlichen Sinne vielleicht – aber sicher sehr elegante -«

»So? Wenn Sie sich da nur nicht irren!« Riesenfeld ist trotz seiner Zurückweisung sichtlich geschmeichelt.

»Er hat die Manieren eines Räubers«, werfe ich ein, genau wie Georg es erwartet. Wir spielen dieses Spiel ohne vorherige Proben, als könnten wir es auswendig. »Oder eher die eines Piraten. Leider hat er Erfolg damit.«

Riesenfeld ist bei den Räubern etwas zusammengezuckt; der Schuß war zu nahe. Die Piraten versöhnen ihn wieder. Genau das war beabsichtigt. Georg holt eine Flasche Rothschen Korn aus dem Fach, in dem die Porzellanengel stehen, und schenkt ein. »Worauf wollen wir trinken?« fragt er.

Gewöhnlich trinkt man auf Gesundheit und gute Geschäfte. Das ist bei uns etwas schwierig. Riesenfeld ist dafür zu fein besaitet; er behauptet, so etwas sei bei einem Grabsteingeschäft nicht nur ein Paradoxon, sondern auch der Wunsch, daß möglichst viele Menschen stürben. Ebenso könne man auf Cholera und Krieg trinken. Wir überlassen seitdem ihm die Formulierungen.

Er starrt uns schief an, das Glas in der Hand, redet aber nicht. Nach einer Weile sagt er plötzlich in das Halbdunkel hinein:»Was ist eigentlich Zeit?«

Georg setzt erstaunt sein Glas nieder. »Der Pfeffer des Lebens«, erwidere ich ungerührt. Mich kriegt der alte Halunke nicht so leicht mit seinen Tricks. Ich bin nicht umsonst Mitglied des Dichterklubs Werdenbrück; wir sind große Fragen gewöhnt.

Riesenfeld beachtet mich nicht. »Was meinen Sie, Herr Kroll?« fragt er.

»Ich bin ein einfacher Mensch«, sagt Georg. »Prost!«

»Zeit«, beharrt Riesenfeld,»Zeit, dieses Fließen ohne Halt – nicht unsere lausige Zeit! Zeit, dieser langsame Tod.«

Dieses Mal setze auch ich mein Glas nieder. »Ich glaube, wir machen besser Licht«, sage ich. »Was haben Sie zu Abend gegessen, Herr Riesenfeld?«

»Halten Sie die Klappe, wenn erwachsene Leute reden«, erwidert Riesenfeld, und ich merke, daß ich einen Augenblick nicht aufgepaßt habe. Er wollte uns nicht verblüffen – er meint, was er sagt. Gott weiß, was ihm nachmittags passiert ist! Ich möchte ihm gerne antworten, daß Zeit ein wichtiger Faktor sei auf dem Wechsel, den er unterschreiben soll – aber ich ziehe vor, meinen Schnaps zu trinken.

»Ich bin jetzt sechsundfünfzig«, sagt Riesenfeld. »Aber ich erinnere mich noch der Zeit, als ich zwanzig war, als wäre das erst ein paar Jahre her. Wo ist all das dazwischen geblieben? Was ist los? Man wacht plötzlich auf und ist alt. Wie ist das bei Ihnen, Herr Kroll?«

»Ähnlich«, erwidert Georg friedlich. »Ich bin vierzig, aber ich fühle mich wie sechzig. Bei mir war es der Krieg.«

Er lügt, um Riesenfeld beizustehen. »Bei mir ist es anders«, erkläre ich, um ebenfalls mein Scherflein beizutragen. »Auch durch den Krieg. Ich war siebzehn, als ich hineinging – jetzt bin ich fünfundzwanzig, aber ich fühle mich noch wie siebzehn. Wie

siebzehn und siebzig. Mir ist meine Jugend beim Kommiß gestoh

len worden.«

»Bei Ihnen ist das nicht der Krieg«, erwidert Riesenfeld, der es anscheinend heute auf mich abgesehen hat, weil Zeit, der langsame Tod, mich noch nicht so erwischt hat wie ihn. »Sie sind nur einfach geistig zurückgeblieben. Im Gegenteil, der Krieg hat Sie sogar frühreif gemacht; ohne ihn ständen Sie heute noch auf der Stufe eines Zwölfjährigen.«

»Danke«, sage ich. »Welch ein Kompliment! Mit zwölf Jahren ist jeder Mensch ein Genie. Er verliert seine Originalität erst mit dem Eintreten der Geschlechtsreife, von der Sie Granit-Casanova ja so übertrieben viel halten. Ein ziemlich einförmiger Ersatz für den Verlust der Freiheit des Geistes!«

Georg schenkt neu ein. Wir sehen, daß es ein schwerer Abend wird. Wir müssen Riesenfeld aus den Schluchten der Weltschwermut hervorholen, und keiner von uns hat Lust, sich heute abend auf philosophische Plattheiten einzulassen. Wir möchten am liebsten unter einem Kastanienbaum ruhig, ohne zu reden, eine Flasche Moselwein trinken, anstatt in der Roten Mühle mit Riesenfeld über sein verlorenes Mannesalter zu trauern. »Wenn Sie sich für die Realität der Zeit interessieren«, sage ich mit leichter Hoffnung,»dann kann ich Sie in einen Verein einführen, in dem Sie lauter Spezialisten dafür treffen werden – den Dichterklub unserer geliebten Heimatstadt. Der Schriftsteller Hans Hungermann hat das Problem in einem noch ungedruckten Werke auf etwa sechzig Gedichte ausgewalzt. Wir können gleich hingehen; jeden Sonntagabend ist eine Sitzung mit anschließendem gemütlichem Teil.«

»Sind Damen dabei?«

»Natürlich nicht. Dichtende Frauen sind dasselbe wie rechnende Pferde. Ausgenommen natürlich die Schülerinnen Sapphos.«

»Woraus besteht dann der gemütliche Teil?« fragt Riesenfeld logisch.

»Daraus, daß über andere Schriftsteller geschimpft wird. Besonders über erfolgreiche.«

Riesenfeld grunzt verächtlich. Ich will schon aufgeben, da flammt gegenüber das Fenster im Hause Watzek auf wie ein beleuchtetes Bild in einem finsteren Museum. Wir sehen Lisa hinter den Vorhängen. Sie zieht sich gerade an und trägt nichts außer einem Büstenhalter und einem Paar sehr kurzer weißer Seidenhosen.

Riesenfeld stößt einen Pfiff durch die Nase aus wie ein Murmeltier. Seine kosmische Melancholie ist mit einem Schlage verschwunden. Ich erhebe mich, um Licht zu machen. »Kein Licht!« faucht er. »Haben Sie denn keinen Sinn für Poesie?«

Er schleicht ans Fenster. Lisa beginnt, sich ein enges Kleid über den Kopf zu ziehen. Sie windet sich wie eine Schlange. Riesenfeld schnauft laut. »Eine verführerische Kreatur! Donnerwetter, der Hintern! Ein Traum! Wer ist das?«

»Susanna im Bade«, erkläre ich. Ich will ihm damit zart klarmachen, daß wir im Augenblick die Rolle der alten Böcke spielen, die sie beobachten.

»Unsinn!« Der Voyeur mit dem Einsteinkomplex läßt kein Auge von dem goldenen Fenster. »Wie sie heißt, meine ich.«

»Keine Ahnung. Wir sehen sie zum erstenmal. Heute mittag wohnte sie noch nicht drüben.«

»Tatsächlich?« Lisa hat das Kleid übergezogen und streift es mit den Händen glatt. Georg schenkt hinter dem Rücken Riesenfelds sich und mir ein. Wir kippen die Gläser weg. »Eine Frau von Rasse«, sagt Riesenfeld, der weiter am Fenster klebt. »Eine Dame, das sieht man. Wahrscheinlich Französin.«

Lisa ist, soviel wir wissen, Böhmin. »Es könnte Mademoiselle de la Tour sein«, erwidere ich, um Riesenfeld noch mehr zu reizen. »Ich habe gestern irgendwo hier den Namen gehört.«

»Sehen Sie!« Riesenfeld dreht sich einen Augenblick zu uns herum. »Ich sagte ja, Französin! Man sieht das gleich – dieses je ne sais pas quoi! Finden Sie nicht auch, Herr Kroll?«

»Sie sind hier der Kenner, Herr Riesenfeld.«

Das Licht in Lisas Zimmer erlischt. Riesenfeld stürzt seinen Schnaps in die zugeschnürte Kehle und preßt sein Gesicht wieder gegen das Fenster. Nach einer Weile erscheint Lisa in der Haustüre und geht die Straße hinunter. Riesenfeld sieht ihr nach. »Bezaubernder Gang! Sie trippelt nicht; sie macht lange Schritte. Ein vollschlanker Panther! Frauen, die trippeln, sind Enttäuschungen. Aber diese – für die garantiere ich!«

Ich habe beim vollschlanken Panther rasch noch ein Glas getrunken. Georg ist lautlos grinsend in seinen Stuhl gesunken. Wir haben es geschafft! Jetzt dreht Riesenfeld sich um. Sein Gesicht schimmert wie ein bleicher Mond.

»Licht, meine Herren! Worauf warten wir noch? Rein ins Leben!«

Wir folgen ihm in die milde Nacht. Ich starre auf seinen Froschrücken. Wenn ich doch auch so einfach aus meinen grauen Stunden auftauchen könnte wie dieser Verwandlungskünstler, denke ich mit Neid.


Die Rote Mühle ist bombenvoll. Wir bekommen nur noch einen Tisch, der sehr nahe beim Orchester steht. Die Musik ist ohnehin schon laut, aber an unserm Tisch ist sie geradezu betäubend. Wir schreien uns anfangs unsere Bemerkungen in die Ohren; danach begnügen wir uns mit Zeichen wie ein Trio Taubstummer. Die Tanzfläche ist so voll, daß die Leute sich kaum bewegen können. Aber Riesenfeld ficht das nicht an. Er erspäht an der Bar eine Frau in weißer Seide und stürzt auf sie zu. Stolz stößt er sie mit seinem Spitzbauch über die Tanzfläche. Sie ist einen Kopf größer als er und starrt gelangweilt über ihn in den Raum, der mit Ballons dekoriert ist. Unterhalb aber kocht Riesenfeld wie ein Vesuv. Sein Dämon hat ihn gepackt. »Wie wär’ es, wenn wir ihm Schnaps in seinen Wein gössen, damit er rascher voll wird?« sage ich zu Georg. »Der Knabe säuft ja wie ein gefleckter Waldesel! Dies ist unsere fünfte Flasche! In zwei Stunden sind wir bankrott, wenn das so weitergeht. Wir haben schon ein paar Hügelsteine versoffen, schätze ich. Hoffentlich bringt er das weiße Gespenst nicht an den Tisch, so daß wir es auch noch tränken müssen.«

Georg schüttelt den Kopf. »Das ist eine Bardame. Sie muß an die Bar zurück.«

Riesenfeld taucht wieder auf. Er ist rot und schwitzt.

»Was ist das alles gegen den Zauber der Phantasie!« brüllt er uns durch den Lärm zu. »Handfeste Wirklichkeit, gut! Aber wo bleibt die Poesie? Heute abend, das Fenster vor dem dunklen Himmel – das war etwas zum Träumen! Eine solche Frau – verstehen Sie, wie ich das meine?«

»Klar«, schreit Georg zurück. »Das, was man nicht kriegt, scheint immer besser als das, was man hat. Darin liegt die Romantik und die Idiotie des menschlichen Lebens. Prost Riesenfeld!«

»Ich meine es nicht so roh«, heult Riesenfeld gegen den Foxtrott »Ach, wenn das der Petrus wüßte« an. »Ich meine es zarter.«

»Ich auch«, brüllte Georg zurück.

»Ich meine es noch zarter!«

»Gut, so zart wie Sie wollen!«

Die Musik holt zu einem kräftigen Crescendo aus. Die Tanzfläche ist eine bunte Sardinenbüchse. Ich erstarre plötzlich. In die Pratzen eines angekleideten Affen gepreßt, schiebt sich rechts in dem Tanzhaufen meine Freundin Erna heran. Sie sieht mich nicht; aber ich erkenne ihre roten Haare schon von weitem. Ohne Scham hängt sie an der Schulter eines typischen Schieberjünglings. Ich sitze unbeweglich da – aber ich habe das Gefühl, eine Handgranate verschluckt zu haben. Da tanzt sie, die Bestie, der zehn Gedichte meiner unveröffentlichten Sammlung »Staub und Sterne« gewidmet sind, und mir hat sie seit einer Woche vorgelogen, es sei ihr wegen einer kleinen Gehirnerschütterung verboten, auszugehen. Sie sei im Dunkeln gefallen. Gefallen, ja, aber an die Brust dieses Jünglings, der einen zweireihigen Smoking trägt und einen Siegelring an der Pfote, mit der er Ernas Kreuz stützt. Und ich Kamel habe ihr heute nachmittag noch rosa Tulpen aus unserm Garten mit einem Gedicht von drei Strophen, betitelt »Pans Maiandacht«, geschickt. Wenn sie das nun dem Schieber vorgelesen hat! Ich sehe direkt, wie beide sich vor Lachen krümmen.

»Was ist los?« brüllt Riesenfeld. »Ist Ihnen schlecht?«

»Heiß!« heule ich zurück und fühle, wie mir der Schweiß den Rücken ’runterläuft. Ich bin wütend; wenn Erna sich umdreht, wird sie mich schwitzend mit rotem Kopf sehen – aber ich möchte jetzt um alles in der Welt überlegen, kalt und gelassen wie ein Weltmann wirken. Rasch fahre ich mir mit dem Taschentuch übers Gesicht. Riesenfeld grinst mitleidlos. Georg sieht es. »Sie schwitzen selbst ganz nett, Riesenfeld«, sagt er.

»Bei mir ist das was anderes! Es ist der Schweiß der Lebenslust!« brüllt Riesenfeld.

»Es ist der Schweiß der dahinfliegenden Zeit«, krächze ich giftig und spüre, wie mir das Wasser salzig in die Mundwinkel läuft.

Erna ist nahe heran. Sie stiert selig zur Musik hinüber. Ich gebe meinem Gesicht einen leicht erstaunten, überlegen lächelnden Ausdruck, während mir der Schweiß jetzt den Kragen aufweicht.

»Was haben Sie denn?« schreit Riesenfeld. »Sie sehen ja aus wie ein mondsüchtiges Känguruh!«

Ich ignoriere ihn. Erna hat sich umgedreht. Ich blicke kühl auf die Tanzenden und mustere sie, bis ich, mit einem Aufdämmern, so tue, als erkenne ich Erna zufällig. Lässig erhebe ich zwei Finger zum Gruß. »Er ist meschugge«, heult Riesenfeld durch die Synkopen des Foxtrotts »Himmelsvater«.

Ich antworte nicht. Ich bin tatsächlich sprachlos. Erna hat mich überhaupt nicht gesehen.


Die Musik hört endlich auf. Die Tanzfläche wird langsam leer. Erna entschwindet in eine Nische. »Waren Sie eben siebzehn oder siebzig?« heult Riesenfeld.

Da die Musik in diesem Augenblick schweigt, schallt seine Frage mächtig durch den Raum. Ein paar Dutzend Leute sehen zu uns her, und selbst Riesenfeld erschrickt. Ich möchte rasch unter den Tisch kriechen; aber dann fällt mir ein, daß die Leute, die hier sind, die Frage einfach für ein Verkaufsangebot halten können, und ich erwidere kalt und laut:»Einundsiebzig Dollar das Stück, und keinen Cent drunter.«

Meine Antwort erweckt augenblicklich Interesse. »Um was handelt es sich?« fragt ein Mann mit einem Kindergesicht vom Nebentisch her. »Habe immer Interesse für gute Objekte. Cash natürlich. Aufstein ist mein Name.«

»Felix Koks«, erwidere ich die Vorstellung, froh, mich sammeln zu können. »Das Objekt waren zwanzig Flaschen Parfüm. Der Herr drüben hat leider schon gekauft.«

»Schschsch -« macht eine künstliche Blondine.

Die Darbietungen beginnen. Ein Ansager redet Blödsinn und ist wütend, weil seine Witze nicht zünden. Ich ziehe meinen Stuhl zurück und verschwinde hinter Aufstein; für Ansager bin ich ein beliebtes Ziel, und das wäre Ernas wegen heute eine Blamage.

Alles geht gut. Der Ansager zieht mißmutig ab, und wer steht auf einmal in einem weißen Brautkleid mit Schleier da? Renée de la Tour. Erleichtert setze ich mich wieder zurecht.

Renée beginnt ihr Duett. Züchtig und verschämt, in hohem Sopran, tiriliert sie als Jungfrau ein paar Verse – dann kommt der Baß und ist sofort eine Sensation.

»Wie finden Sie die Dame?« frage ich Riesenfeld.

»Dame ist gut -«

»Möchten Sie sie kennenlernen? Mademoiselle de la Tour.«

Riesenfeld stutzt. »La Tour? Sie wollen doch nicht behaupten, daß dieses absurde Naturspiel die Zauberin vom Fenster Ihnen gegenüber ist?«

Ich will es gerade behaupten, um zu sehen, wie er reagiert, da sehe ich etwas wie einen engelhaften Schein um seine Elefantennase wehen. Ohne zu sprechen deutet er mit dem Daumen zum Eingang. »Da – dort drüben – da ist sie ja! Dieser Gang! Man kennt ihn sofort wieder!«

Er hat recht. Lisa ist hereingekommen. Sie ist in Gesellschaft von zwei älteren Knackern und benimmt sich wie eine Dame feinster Gesellschaft, wenigstens nach Riesenfelds Begriffen. Sie scheint kaum zu atmen und hört ihren Kavalieren zerstreut und hochmütig zu. »Habe ich recht?« fragt Riesenfeld. »Kennt man Frauen nicht gleich am Gang?«

»Frauen und Polizisten«, sagt Georg und grinst; aber er blickt ebenfalls wohlgefällig auf Lisa.

Die zweite Nummer des Programms beginnt. Eine Akrobatin steht auf der Tanzfläche. Sie ist jung, hat ein keckes Gesicht, eine kurze Nase und schöne Beine. Sie tanzt einen akrobatischen Tanz, mit Saltos, Handständen und hohen Sprüngen. Wir beobachten Lisa weiter. Sie scheint am liebsten das Lokal wieder verlassen zu wollen. Das ist natürlich Schwindel; es gibt nur diesen einen Nachtklub in der Stadt; das andere sind Cafés, Restaurants oder Kneipen. Deshalb trifft man hier auch jeden, der genug Zaster hat, herzukommen.

»Champagner!« schmettert Riesenfeld mit Diktatorstimme.

Ich schrecke auf, und auch Georg ist besorgt. »Herr Riesenfeld«, sage ich. »Der Champagner ist hier sehr schlecht.«

In diesem Augenblick schaut mich ein Gesicht vom Boden an. Ich blicke erstaunt zurück und sehe, daß es die Tänzerin ist, die sich so weit nach hinten heruntergebeugt hat, daß ihr Kopf zwischen den Beinen wieder hervorkommt. Sie sieht eine Sekunde aus wie ein äußerst verwachsener Zwerg. »Den Champagner bestelle ich!« erklärt Riesenfeld und winkt dem Kellner.

»Bravo!« sagt das Gesicht von unten.

Georg zwinkert mir zu. Er spielt die Rolle des Kavaliers, während ich da bin für die unbequemen Sachen; das ist so ausgemacht zwischen uns. »Wenn Sie Champagner wollen, Riesenfeld, bekommen Sie Champagner«, sagt er deshalb jetzt. »Aber Sie sind natürlich unser Gast.«

»Ausgeschlossen! Ich übernehme das! Kein Wort mehr darüber!« Riesenfeld ist ganz Don Juan hoher Klasse. Er sieht befriedigt auf die goldene Kapsel im Eiskühler. Verschiedene Damen zeigen sofort starkes Interesse. Ich bin ebenfalls einverstanden. Der Champagner wird Erna lehren, daß sie mich zu früh über Bord geschmissen hat. Mit Genugtuung trinke ich Riesenfeld zu, der feierlich erwidert.

Willy taucht auf. Es war zu erwarten; er ist hier Stammgast. Aufstein bricht mit seiner Gesellschaft auf, und Willy wird unser Nachbar. Er erhebt sich gleich darauf und heißt Renée de la Tour willkommen. Sie hat ein hübsches Mädchen bei sich, das ein schwarzes Abendkleid trägt. Nach einer Weile erkenne ich die Akrobatin. Willy macht uns bekannt. Sie heißt Gerda Schneider und wirft einen abschätzenden Blick auf den Champagner und auf uns drei. Wir passen auf, ob Riesenfeld Interesse faßt; dann wären wir ihn für den Abend los. Aber Riesenfeld ist verkauft an Lisa. »Meinen Sie, daß man sie zum Tanzen auffordern kann?« fragt er Georg.

»Ich würde es Ihnen nicht raten«, erwidert Georg diplomatisch. »Aber wir werden sie vielleicht später noch irgendwie kennenlernen.«

Er sieht mich vorwurfsvoll an. Hätte ich im Büro nicht gesagt, daß wir nicht wüßten, wer Lisa sei, wäre die Sache in Ordnung. Aber wer konnte ahnen, daß Riesenfeld auf die romantische Tour gehen würde? Jetzt ist es zu spät, ihn aufzuklären. Romantiker haben keinen Humor.

»Tanzen Sie nicht?« fragt die Akrobatin mich.

»Schlecht. Ich habe keinen Sinn für Rhythmus.«

»Ich auch nicht. Lassen Sie es uns zusammen probieren.« Wir klemmen uns in die Masse auf der Tanzfläche und werden langsam vorwärts geschoben. »Drei Männer ohne Frauen im Nachtklub«, sagt Gerda. »Warum?«

»Warum nicht? Mein Freund Georg behauptet, wer Frauen in einen Nachtklub mitbringe, lade sie ein, ihm Hörner aufzusetzen.«

»Wer ist Ihr Freund Georg? Der mit der dicken Nase?«

»Der mit dem kahlen Kopf. Er ist Anhänger des Harem-Systems. Frauen soll man nicht vorzeigen, sagt er.«

»Natürlich… Und Sie?«

»Ich habe kein System. Ich bin wie Spreu im Winde.«

»Treten Sie mir nicht auf die Füße«, sagt Gerda. »Sie sind keine Spreu. Sie wiegen mindestens siebzig Kilo.«

Ich nehme mich zusammen. Wir sind gerade an Ernas Tisch vorbeigeschoben worden, und diesmal hat sie mich Gott sei Dank erkannt, obschon ihr Kopf an der Schulter des Schiebers mit dem Siegelring liegt und er ihre Taille umklammert. Der Teufel soll da auf Synkopen aufpassen! Ich lächle zu Gerda hinunter und ziehe sie enger an mich. Dabei beobachte ich Erna.

Gerda riecht nach Maiglöckchenparfüm. »Lassen Sie mich nur wieder los«, sagt sie. »Damit erreichen Sie nichts bei der Dame mit dem roten Haar. Und das wollen Sie doch, nicht wahr?«

»Nein«, lüge ich.

»Sie hätten sie gar nicht beachten sollen. Statt dessen haben Sie wie hypnotisiert zu ihr rübergestarrt und dann plötzlich dieses Theater mit mir arrangiert. Gott, sind Sie ein Anfänger!«

Ich versuche immer noch, das falsche Lächeln zu halten; ich möchte um alles nicht, daß Erna merkt, daß ich hier ebenfalls reingefallen bin. »Ich habe das nicht arrangiert«, sage ich lahm. »Ich habe nicht tanzen wollen.«

Gerda schiebt mich von sich weg. »Ein Kavalier sind Sie anscheinend auch noch! Hören wir auf. Meine Füße tun mir weh.«

Ich überlege, ob ich ihr erklären soll, daß ich das anders gemeint habe; aber wer weiß, wohin mich das dann wieder bringt! Lieber halte ich den Schnabel und gehe hocherhobenen Kopfes, aber beschämt hinter ihr her zum Tisch.

Dort hat der Alkohol inzwischen gewirkt. Georg und Riesenfeld duzen sich. Riesenfeld hat den Vornamen Alex. In spätestens einer Stunde wird er auch mich auffordern, ihn zu duzen. Morgen früh ist natürlich alles wieder vergessen.

Ich sitze ziemlich trübe da und warte darauf, daß Riesenfeld müde wird. Die Tanzenden gleiten dahin, von der Musik getragen, in einem trägen Fluß von Lärm, Körpernähe und Herdengefühl. Auch Erna kommt herausfordernd vorbei und ignoriert mich. Gerda stößt mich an.

»Das Haar ist gefärbt«, sagt sie, und ich habe das ekelhafte Gefühl, daß sie mich trösten will.

Ich nicke und merke, daß ich genug getrunken habe. Riesenfeld ruft endlich nach dem Kellner. Lisa ist gegangen; jetzt will auch er raus.

Es dauert eine Zeitlang, bis wir fertig sind. Riesenfeld bezahlt tatsächlich den Champagner; ich hatte erwartet, er würde uns mit den vier Flaschen, die er bestellt hat, sitzenlassen. Wir verabschieden uns von Willy, Renée de la Tour und Gerda Schneider. Es ist ohnehin Schluß; auch die Musik packt ein. Alles staut sich an den Ausgängen und der Garderobe.

Ich stehe auf einmal neben Erna. Ihr Kavalier rudert mit langen Armen an der Garderobe herum, um ihren Mantel zu holen. Erna mißt mich eisig. »Hier muß ich dich erwischen! Das hättest du wohl nicht erwartet!«

»Du mich erwischen?« sage ich verblüfft. »Ich dich!«

»Und mit was für Subjekten!« fährt sie fort, als hätte ich nicht geantwortet. »Mit Tingeltangelweibern! Rühr mich nicht an! Wer weiß, was du dir schon geholt hast!«

Ich habe keinen Versuch gemacht, sie anzurühren. »Ich bin hier geschäftlich«, sage ich. »Und du? Wie kommst du hierher?«

»Geschäftlich!« Sie lacht schneidend auf. »Geschäftlich! Wer ist denn gestorben?«

»Das Rückgrat des Staates, der kleine Sparer«, erwidere ich und denke, ich sei witzig gewesen. »Er wird täglich hier beerdigt, aber sein Grabdenkmal ist kein Kreuz – es ist ein Mausoleum, genannt die Börse.«

»Und so einem verbummelten Subjekt hat man vertraut!« erklärt Erna, als hätte ich wieder nichts gesagt. »Wir sind fertig miteinander, Herr Bodmer!«

Georg und Riesenfeld kämpfen an der Garderobe um ihre Hüte. Ich merke, daß ich zu Unrecht in der Verteidigung bin. »Hör zu«, fauche ich. »Wer hat mir heute nachmittag noch gesagt, er könne nicht ausgehen, er habe rasende Kopfschmerzen? Und wer schwoft hier herum mit einem dicken Schieber?«

Erna wird weiß um die Nase. »Du pöbelhafter Verseschmierer!« flüstert sie, als spritze sie Vitriol. »Du meinst wohl, weil du Gedichte von toten Leuten abschreiben kannst, wärest du was Besseres, wie? Lerne erst einmal genug Geld zu verdienen, damit du eine Dame standesgemäß ausführen kannst! Du mit deinen Ausflügen ins Grüne! Zu den seidenen Fahnen des Mai! Daß ich nicht schluchze vor Mitleid!«

Die seidenen Fahnen sind ein Zitat aus dem Gedicht, das ich ihr nachmittags geschickt habe. Ich taumele innerlich; äußerlich grinse ich. »Wir wollen einmal bei der Sache bleiben«, sage ich. »Wer geht hier mit zwei ehrbaren Geschäftsmännern nach Hause? Und wer mit einem Kavalier?«

Erna sieht mich groß an. »Soll ich etwa allein nachts auf die Straße gehen wie eine Barhure? Wofür hältst du mich? Glaubst du, ich habe Lust, mich von jedem Flegel anquatschen zu lassen? Was denkst du eigentlich?«

»Du hättest überhaupt nicht zu kommen brauchen!«

»So? Sieh mal an! Auch schon Befehle möchtest du geben, was? Ausgehverbot, aber du treibst dich herum! Sonst noch was? Soll ich dir Strümpfe stricken?« Sie lacht giftig.

»Der Herr trinkt Champagner, für mich aber war Selterswasser und Bier gut genug, oder ein billiger Wein ohne Jahrgang!«

»Ich habe den Champagner nicht bestellt! Das war Riesenfeld!«

»Natürlich! Immer unschuldig, du verkrachter Schulmeister! Was stehst du hier noch herum? Ich habe nichts mehr mit dir zu schaffen! Belästige mich nicht weiter!«

Ich kann vor Wut kaum sprechen. Georg kommt heran und gibt mir meinen Hut. Ernas Schieber erscheint ebenfalls. Beide ziehen ab. »Hast du das gehört?« frage ich Georg.

»Zum Teil. Wozu streitest du mit einer Frau?«

»Ich wollte nicht streiten.«

Georg lacht. Er wird nie ganz betrunken, selbst wenn er Kübel voll herunterschüttet. »Laß dich nie dazu bringen. Du bist immer verloren. Wozu willst du recht haben?«

»Ja«, sage ich. »Wozu? Weil ich ein Sohn deutscher Erde bin, wahrscheinlich. Hast du nie Argumente mit einer Frau?«

»Natürlich. Das hält mich aber nicht davon ab, anderen gute Ratschläge zu geben.«


Die kühle Luft wirkt wie ein weicher Hammer auf Riesenfeld. »Duzen wir uns«, sagt er zu mir. »Wir sind ja Brüder. Nutznießer des Todes.« Er lacht keckernd wie ein Fuchs. »Ich heiße Alex.«

»Rolf«, erwidere ich. Ich denke nicht daran, meinen ehrlichen Vornamen Ludwig für diese Saufbrüderschaften einer Nacht herzugeben. Rolf ist für Alex gut genug.

»Rolf?« sagt Riesenfeld. »Was für ein blöder Name! Hast du den immer?«

»Ich habe das Recht, ihn in Schaltjahren und nach dem Dienst zu tragen. Alex ist auch nichts Besonderes.«

Riesenfeld wankt etwas. »Macht nichts«, sagt er großzügig. »Kinder, ich habe mich lange nicht so wohlgefühlt! Gibt es bei euch noch einen Kaffee?«

»Natürlich«, sagt Georg. »Rolf ist ein erstklassiger Kaffee koch.«

Wir schwanken durch die Schatten der Marienkirche zur Hakenstraße. Vor uns geht storchenhaft ein einsamer Wanderer und biegt in unser Tor ein. Es ist der Feldwebel Knopf, der von seiner Inspektionsreise durch die Kneipen zurückkehrt. Wir erreichen ihn, während er gerade an dem schwarzen Obelisken neben der Tür sein Wasser läßt. »Herr Knopf«, sage ich,»das schickt sich nicht!«

»Sie können rühren«, murmelt Knopf, ohne sich umzudrehen.

»Herr Feldwebel«, wiederhole ich. »Das schickt sich nicht! Es ist eine Schweinerei! Warum tun Sie das nicht in Ihrer Wohnung?«

Er wendet flüchtig den Kopf. »Ich soll in meine gute Stube pissen? Sind Sie verrückt?«

»Nicht in Ihre gute Stube! Sie haben eine tadellose Toilette zu Hause. Benützen Sie die doch! Sie ist nur ungefähr zehn Meter von hier entfernt.«

»Quatsch!«

»Sie beschmutzen das Wahrzeichen unseres Hauses! Außerdem begehen Sie ein Sakrileg. Das hier ist ein Grabstein. Eine heilige Sache.«

»Das wird erst ein Grabstein auf dem Friedhof«, sagt Knopf und stelzt auf seine Haustür zu. »Guten Abend die Herren allerseits.«

Er macht eine halbe Verbeugung und stößt sich dabei den Schädel am Türpfosten. Brummend verschwindet er.

»Wer war das?« fragt Riesenfeld mich, während ich nach Kaffee suche.

»Das Gegenteil von Ihnen. Ein abstrakter Trinker. Trinkt ohne jede Phantasie. Braucht keine Hilfe von außen. Keine Wunschbilder.«

»Auch was!« Riesenfeld nimmt am Fenster Platz. »Ein Alkoholfaß also. Der Mensch lebt von Träumen. Wissen Sie das noch nicht?«

»Nein. Dafür bin ich noch zu jung.«

»Sie sind nicht zu jung. Sie sind nur ein Kriegsprodukt – emotionell unreif und bereits zu erfahren im Morden.«

»Merci«, sage ich. »Wie ist der Kaffee?«

Die Schwaden klären sich anscheinend. Wir sind schon wieder beim Sie angelangt. »Meinen Sie, daß die Dame drüben schon zu Hause ist?« fragt Riesenfeld Georg.

»Vermutlich. Es ist ja alles dunkel.«

»Das kann auch so sein, weil sie noch nicht da ist. Wollen wir nicht ein paar Minuten warten?«

»Natürlich.«

»Vielleicht können wir in der Zwischenzeit unsere Geschäfte erledigen«, sage ich. »Der Vertrag braucht ja nur noch unterschrieben zu werden. Ich hole inzwischen frischen Kaffee aus der Küche.«

Ich gehe hinaus und gebe Georg damit Zeit, Riesenfeld zu bearbeiten. So etwas geht besser ohne Zeugen. Ich setze mich auf die Treppenstufen. Aus der Werkstatt des Tischlers Wilke dringt ruhiges Schnarchen. Es muß immer noch Heinrich Kroll sein, denn Wilke wohnt auswärts. Der nationale Geschäftsmann wird einen netten Schreck kriegen, wenn er im Sarg aufwacht! Ich überlege, ob ich ihn wecken soll, aber ich bin zu müde, und es wird ja auch schon hell – da sollte der Schreck für einen so furchtlosen Krieger eher ein Stahlbad sein, das ihn kräftigt und ihm vorführt, was das Endergebnis eines frischfröhlichen Krieges ist. Ich sehe auf die Uhr und warte auf Georgs Signal und starre in den Garten. Lautlos hebt sich der Morgen aus den blühenden Bäumen wie aus einem bleichen Bett. Im erleuchteten Fenster des ersten Stocks gegenüber steht der Feldwebel Knopf im Nachthemd und nimmt einen letzten Schluck aus der Flasche. Die Katze streicht um meine Beine. Gott sei Dank, denke ich, der Sonntag ist zu Ende.

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