»Das süße Licht«, sagte Isabelle. »Warum wird es schwächer? Weil wir ermatten? Wir verlieren es jeden Abend. Wenn wir schlafen, ist die Welt fort. Wo sind wir dann? Kommt die Welt immer wieder, Rudolf?«
Wir stehen am Rande des Gartens und sehen durch das Gittertor in die Landschaft draußen. Der frühe Abend liegt auf den reifenden Feldern, die sich zu beiden Seiten der Kastanienallee bis zum Walde hinabziehen.
»Sie kommt immer wieder«, sage ich und füge vorsichtig hinzu:»Immer, Isabelle.«
»Und wir? Wir auch?«
Wir? denke ich. Wer weiß das? Jede Stunde gibt und nimmt und verändert. Aber ich sage es nicht. Ich will in kein Gespräch geraten, das plötzlich in einen Abgrund rutscht.
Von draußen kommen die Anstaltsinsassen zurück, die auf den Äckern gearbeitet haben. Sie kommen zurück wie müde Bauern, und auf ihren Schultern liegt das erste Abendrot.
»Wir auch«, sage ich. »Immer, Isabelle. Nichts, was da ist, kann verlorengehen. Nie.«
»Glaubst du das?«
»Es bleibt uns doch nichts anderes übrig, als es zu glauben.«
Sie dreht sich zu mir um. Sie ist außerordentlich schön an diesem frühen Abend mit dem ersten klaren Gold des Herbstes in der Luft.
»Sind wir sonst verloren?« flüstert sie.
Ich starre sie an. »Das weiß ich nicht«, sage ich schließlich. Verloren – was kann das alles heißen! So vieles!
»Sind wir sonst verloren, Rudolf?«
Ich schweige unschlüssig. »Ja«, sage ich dann. »Aber da erst beginnt das Leben, Isabelle.«
»Welches?«
»Unser eigenes. Da erst beginnt alles – der Mut, das große Mitleid, die Menschlichkeit, die Liebe und der tragische Regenbogen der Schönheit. Da, wo wir wissen, daß nichts bleibt.«
Ich sehe in ihr vom untergehenden Licht bestrahltes Gesicht. Einen Augenblick steht die Zeit still.
»Du und ich, wir bleiben auch nicht?« fragt sie.
»Nein, wir bleiben auch nicht«, erwidere ich und sehe an ihr vorbei in die Landschaft voll Blau und Rot und Ferne und Gold.
»Auch nicht, wenn wir uns lieben?«
»Auch nicht, wenn wir uns lieben«, sage ich und füge zögernd und vorsichtig hinzu:»Ich glaube, deshalb liebt man sich. Sonst könnte man sich vielleicht nicht lieben. Lieben ist etwas weitergeben zu wollen, das man nicht halten kann.«
»Was?«
Ich hebe die Schultern. »Dafür gibt es viele Namen. Unser Selbst vielleicht, um es zu retten. Oder unser Herz. Sagen wir: Unser Herz. Oder unsere Sehnsucht. Unser Herz.«
Die Leute von den Feldern sind herangekommen. Die Wärter öffnen die Tore. Plötzlich drängt sich seitlich von der Mauer, wo er versteckt hinter einem Baum gestanden haben muß, jemand rasch an uns vorbei, schiebt sich durch die Feldarbeiter und rennt hinaus. Einer der Wärter bemerkt ihn und läuft ziemlich gemächlich hinter ihm her; der zweite bleibt ruhig stehen und läßt die anderen Patienten weiter passieren. Dann schließt er das Tor ab. Unten sieht man den Ausbrecher laufen. Er ist viel schneller als der Wärter, der ihn verfolgt. »Glauben Sie, daß Ihr Kollege ihn in dem Tempo einholt?« frage ich den zweiten Wärter.
»Er wird schon mit ihm zurückkommen.«
»Es sieht nicht so aus.«
Der Wärter hebt die Schultern. »Es ist Guido Timpe. Er versucht jeden Monat mindestens einmal auszubrechen. Läuft immer bis zum Restaurant Forsthaus. Trinkt dort ein paar Biere. Wir finden ihn jedesmal da. Er läuft nie weiter und nie irgendwoanders hin. Just für die zwei, drei Biere. Er trinkt immer Dunkles.«
Er zwinkert mir zu. »Darum läuft mein Kollege nicht schneller. Er will ihn nur im Auge behalten, für den Fall eines Falles. Wir lassen Timpe immer soviel Zeit, daß er seine Biere verquetschen kann. Warum nicht? Nachher kommt er dann zurück wie ein Lamm.«
Isabelle hat nicht zugehört. »Wohin will er?« fragt sie jetzt.
»Er will Bier trinken«, sage ich. »Weiter nichts. Wer auch so ein Ziel haben könnte!«
Sie hört mich nicht. Sie sieht mich an. »Willst du auch weg?«
Ich schüttle den Kopf.
»Es gibt nichts, um wegzulaufen, Rudolf«, sagt sie. »Und nichts, um anzukommen. Alle Türen sind dieselben. Und dahinter -«
Sie stockt. »Was ist dahinter, Isabelle?« frage ich.
»Nichts. Es sind nur Türen. Es sind immer nur Türen, und nichts ist dahinter.«
Der Wärter schließt das Tor und zündet sich eine Pfeife an. Der würzige Geruch des billigen Knasters trifft mich und zaubert ein Bild hervor: ein einfaches Leben, ohne Probleme, mit einem braven Beruf, einer braven Frau, braven Kindern, einem braven Abdienen der Existenz und einem braven Tod – alles als selbstverständlich hingenommen, Tag, Feierabend und Nacht, ohne Frage, was dahinter sei. Eine scharfe Sehnsucht danach packt mich einen Augenblick, und etwas wie Neid. Dann sehe ich Isabelle. Sie steht am Tor, die Hände um die eisernen Stäbe des Gitters gelegt, den Kopf daran gepreßt, und blickt hinaus. Sie steht lange so. Das Licht wird immer voller und röter und goldener, die Wälder verlieren die blauen Schatten und werden schwarz, und der Himmel über uns ist apfelgrün und voll von rosa angestrahlten Segelbooten.
Endlich dreht sie sich um. Ihre Augen sehen in diesem Licht fast violett aus.
»Komm«, sagt sie und nimmt meinen Arm.
Wir gehen zurück. Sie lehnt sich an mich. »Du mußt mich nie verlassen.«
»Ich werde dich nie verlassen.«
»Nie«, sagt sie. »Nie ist so kurz.«
Der Weihrauch wirbelt aus den silbernen Kesseln der Meßdiener. Bodendiek dreht sich um, die Monstranz in seinen Händen. Die Schwestern knien in ihren schwarzen Trachten wie dunkle Häufchen Ergebung in den Bänken; die Köpfe sind gesenkt, die Hände klopfen an die verdeckten Brüste, die nie Brüste werden durften, die Kerzen brennen, und Gott ist in einer Hostie, von goldenen Strahlen umgeben, im Raum. Eine Frau steht auf, geht durch den Mittelgang nach vorn bis zur Kommunionbank und wirft sich dort auf den Boden. Die meisten Kranken starren regungslos auf das goldene Wunder. Isabelle ist nicht da. Sie hat sich geweigert, in die Kirche zu gehen. Früher ist sie gegangen; jetzt, seit einigen Tagen will sie nicht mehr. Sie hat es mir erklärt. Sie sagt, sie wolle den Blutigen nicht mehr sehen.
Zwei Schwestern heben die Kranke auf, die sich hingeworfen hat und mit den Händen den Boden schlägt. Ich spiele das Tantum ergo. Die weißen Gesichter der Irren heben sich mit einem Ruck der Orgel entgegen. Ich ziehe die Gamben und die Violinen. Die Schwestern singen.
Die weißen Spiralen des Weihrauches wirbeln. Bodendiek stellt die Monstranz zurück in das Tabernakel. Das Licht der Kerzen flackert über den Brokat seines Meßgewandes, auf das ein großes Kreuz gestickt ist, und weht aufwärts mit dem Rauch zu dem großen Kreuz, an dem blutüberströmt seit fast zweitausend Jahren der Heiland hängt. Ich spiele mechanisch weiter und denke an Isabelle und das, was sie gesagt hat, und dann an die Beschreibung der vorchristlichen Religionen, die ich gestern abend gelesen habe. Die Götter waren damals heiter in Griechenland, sie wandelten von Wolke zu Wolke, sie waren leicht schurkisch und immer treulos und wandelbar wie die Menschen, zu denen sie gehörten. Sie waren Verkörperungen und Übertreibungen des Lebens in seiner Fülle und Grausamkeit und Unbedenklichkeit und Schönheit. Isabelle hat recht: Der bleiche Mann über mir mit dem Bart und den blutigen Gliedern ist es nicht. Zweitausend Jahre, denke ich, zweitausend Jahre, und immer ist das Leben mit Lichtern, Brunstschreien, Tod und Verzückung um die Steinbauten gewirbelt, in denen die Abbilder des blassen Sterbenden aufgerichtet waren, düster, blutig, von Millionen von Bodendieks umgeben – und bleifarben ist der Schatten der Kirchen über den Ländern gewachsen und hat die Lebensfreude erdrosselt, er hat aus Eros, dem heiteren, eine heimliche, schmutzige, sündhafte Bettgeschichte gemacht und nichts vergeben, trotz aller Predigten über Liebe und Vergebung – denn wirklich vergeben heißt, den anderen zu bestätigen, wie er ist, nicht aber Buße zu verlangen und Gefolgschaft und Unterwerfung, bevor das Ego te absolvo ausgesprochen wird.
Isabelle hat draußen gewartet. Wernicke hat ihr erlaubt, daß sie abends im Garten sein darf, wenn jemand bei ihr ist. »Was hast du drinnen getan?« fragt sie feindlich. »Mitgeholfen, alles zuzudecken?«
»Ich habe Musik gemacht.«
»Musik deckt auch zu. Mehr als Worte.«
»Es gibt auch Musik, die aufreißt«, sage ich. »Musik von Trommeln und Trompeten. Sie hat viel Unglück in die Welt gebracht.«
Isabelle dreht sich um. »Und dein Herz? Ist es nicht auch eine Trommel?«
Ja, denke ich, eine langsame und leise, aber es wird trotzdem genug Lärm machen und genug Unglück bringen, und vielleicht werde auch ich darüber den süßen, anonymen Ruf des Lebens überhören, der denen geblieben ist, die kein pomphaftes Selbst dem Leben gegenübersetzen und keine Erklärungen fordern, als wären sie rechthaberische Gläubiger und nicht flüchtige Wanderer ohne Spur.
»Fühle meines«, sagt Isabelle und nimmt meine Hand und legt sie auf ihre dünne Bluse, unter die Brust. »Fühlst du es?«
»Ja, Isabelle.«
Ich ziehe meine Hand weg, aber es ist, als hätte ich sie nicht weggezogen. Wir gehen um eine kleine Fontäne herum, die im Abend plätschert, als sei sie vergessen worden. Isabelle taucht ihre Hände in das Becken und wirft das Wasser hoch. »Wo bleiben die Träume am Tag, Rudolf?« fragt sie.
Ich sehe ihr zu. »Vielleicht schlafen sie«, sage ich vorsichtig, denn ich weiß, wohin solche Fragen bei ihr führen können. Sie taucht ihre Arme in das Becken und läßt sie liegen. Sie schimmern silbern, mit kleinen Luftperlen besetzt, unter dem Wasser, als wären sie aus einem fremden Metall. »Wie können sie schlafen?« sagt sie. »Sie sind doch lebendiger Schlaf. Man sieht sie nur, wenn man schläft. Aber wo bleiben sie am Tage?«
»Vielleicht hängen sie wie Fledermäuse in großen unterirdischen Höhlen – oder wie junge Eulen in tiefen Baumlöchern und warten auf die Nacht.«
»Und wenn keine Nacht kommt?«
»Nacht kommt immer, Isabelle.«
»Bist du sicher?«
Ich sehe sie an. »Du fragst wie ein Kind«, sage ich.
»Wie fragen Kinder?«
»So wie du. Sie fragen immer weiter. Und sie kommen bald zu einem Punkt, wo die Erwachsenen keine Antwort mehr wissen und verlegen oder ärgerlich werden.«
»Warum werden sie ärgerlich?«
»Weil sie plötzlich merken, daß etwas mit ihnen entsetzlich falsch ist und weil sie nicht daran erinnert werden wollen.«
»Ist bei dir auch etwas falsch?«
»Beinahe alles, Isabelle.«
»Was ist falsch?«
»Das weiß ich nicht. Darin liegt es gerade. Wenn man es wüßte, wäre es schon nicht mehr so falsch. Man fühlt es nur.«
»Ach, Rudolf«, sagt Isabelle, und ihre Stimme ist plötzlich tief und weich. »Nichts ist falsch.«
»Nein?«
»Natürlich nicht. Falsch und Richtig weiß nur Gott. Wenn er aber Gott ist, gibt es kein Falsch und Richtig. Alles ist Gott. Falsch wäre es nur, wenn es außer ihm wäre. Wenn aber etwas außer oder gegen ihn sein könnte, wäre er nur ein beschränkter Gott. Und ein beschränkter Gott ist kein Gott. Also ist alles richtig, oder es gibt keinen Gott. So einfach ist das.«
Ich sehe sie überrascht an. Was sie sagt, klingt tatsächlich einfach und einleuchtend. »Dann gäbe es auch keinen Teufel und keine Hölle?« sage ich. »Oder wenn es sie gäbe, gäbe es keinen Gott.«
Isabelle nickt. »Natürlich nicht, Rudolf. Wir haben so viele Worte. Wer hat die nur alle erfunden?«
»Verwirrte Menschen«, erwidere ich.
Sie schüttelt den Kopf und zeigt auf die Kapelle. »Die dort! Und sie haben ihn darin gefangen«, flüstert sie. »Er kann nicht heraus. Er möchte es. Aber sie haben ihn ans Kreuz genagelt.«
»Wer?«
»Die Priester. Sie halten ihn fest.«
»Das waren andere Priester«, sage ich. »Vor zweitausend Jahren. Nicht diese.«
Sie lehnt sich an mich. »Es sind immer dieselben, Rudolf«, flüstert sie dicht vor mir,»weißt du das nicht? Er möchte hinaus; aber sie halten ihn gefangen. Er blutet und blutet und will vom Kreuz herunter. Sie aber lassen ihn nicht. Sie halten ihn fest in ihren Gefängnissen mit den hohen Türmen und geben ihm Weihrauch und Gebete und lassen ihn nicht hinaus. Weißt du, warum nicht?«
»Nein.«
Der Mond hängt jetzt blaß über den Wäldern im aschefarbenen Blau. »Weil er sehr reich ist«, flüsterte Isabelle.
»Er ist sehr, sehr reich. Sie aber wollen sein Vermögen behalten. Wenn er herauskäme, würde er es zurückbekommen, und dann wären sie alle plötzlich arm. Es ist wie mit jemand, den man hier oben einsperrt; andere verwalten dann sein Vermögen und tun damit, was sie wollen, und leben wie reiche Leute. So wie bei mir.«
Ich starre sie an. Ihr Gesicht ist angespannt, aber es verrät nichts. »Was meinst du damit?« frage ich.
Sie lacht. »Alles, Rudolf. Du weißt es doch auch! Man hat mich hierhergebracht, weil ich im Wege war. Sie wollen mein Vermögen behalten. Wenn ich herauskäme, müßten sie es mir zurückgeben. Es macht nichts; ich will es nicht haben.«
Ich starre sie immer noch an. »Wenn du es nicht haben willst, kannst du es ihnen doch erklären; dann wäre kein Grund mehr da, dich hierzuhalten.«
»Hier oder anderswo – das ist doch alles dasselbe. Warum dann nicht hier? Hier sind sie wenigstens nicht. Sie sind wie die Mükken. Wer will mit Mücken leben?« Sie beugt sich vor. »Deshalb verstelle ich mich«, flüstert sie.
»Du verstellst dich?«
»Natürlich! Weißt du das nicht? Man muß sich verstellen, sonst schlagen sie einen ans Kreuz. Aber sie sind dumm. Man kann sie täuschen.«
»Täuschst du auch Wernicke?«
»Wer ist das?«
»Der Arzt.«
»Ach der! Der will mich nur heiraten. Er ist wie die anderen. Es gibt so viele Gefangene, Rudolf, und die draußen haben Angst davor. Aber drüben der am Kreuz – vor dem haben sie die meiste Angst.«-»Wer?«
»Alle, die ihn benützen und von ihm leben. Es sind unzählige. Sie sagen, sie wären gut. Aber sie richten viel Böses an. Wer einfach böse ist, kann wenig tun. Man sieht es und nimmt sich vor ihm in acht. Aber die Guten – was die alles tun! Ach, sie sind blutig!«
»Das sind sie«, sage ich, selbst merkwürdig erregt durch die flüsternde Stimme im Dunkel. »Sie haben entsetzlich viel angerichtet. Wer selbstgerecht ist, ist unbarmherzig.«
»Geh nicht mehr hin, Rudolf«, flüstert Isabelle weiter. »Sie sollen ihn freilassen! Den am Kreuz. Er möchte auch einmal lachen und schlafen und tanzen.«
»Glaubst du?«
»Jeder möchte das, Rudolf. Sie sollen ihn freilassen. Aber er ist zu gefährlich für sie. Er ist nicht wie sie. Er ist der Gefährlichste von allen – er ist der Gütigste.«
»Halten sie ihn deshalb fest?«
Isabelle nickt. Ihr Atem streift mich. »Sie müßten ihn sonst wieder ans Kreuz schlagen.«
»Ja«, sage ich,»das glaube ich auch. Sie würden ihn wieder töten; dieselben, die ihn heute anbeten. Sie würden ihn töten, so wie man Unzählige in seinem Namen getötet hat. Im Namen der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe.«
Isabelle fröstelt. »Ich gehe nicht mehr hin«, sagt sie und deutet auf die Kapelle. »Sie sagen immer, man müsse leiden. Die schwarzen Schwestern. Warum, Rudolf?«
Ich antworte nicht.
»Wer macht, daß wir leiden müssen?« fragt sie und drängt sich gegen mich.
»Gott«, sage ich bitter. »Wenn es ihn gibt. Gott, der uns alle geschaffen hat.«
»Und wer bestraft Gott dafür?«
»Was?«
»Wer bestraft Gott dafür, daß er uns leiden macht? Hier bei den Menschen kommt man ins Gefängnis oder wird aufgehängt, wenn man das tut. Wer hängt Gott auf?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, sage ich. »Ich werde das einmal den Vikar Bodendiek fragen.«
Wir gehen durch die Allee zurück. Ein paar Glühwürmchen fliegen durch das Dunkel. Isabelle bleibt plötzlich stehen.
»Hast du das gehört?« fragt sie.
»Was?«
»Die Erde. Sie hat einen Sprung gemacht, wie ein Pferd. Als Kind hatte ich Angst, ich würde herunterfallen, wenn ich schliefe. Ich wollte festgebunden werden in meinem Bett. Kann man der Schwerkraft trauen?«
»Ja. Ebenso wie dem Tod.«
»Ich weiß es nicht. Bist du noch nie geflogen?«
»In einem Flugzeug?«
»Flugzeug«, sagt Isabelle mit leichter Verachtung. »Das kann jeder. Im Traum.«
»Ja. Aber kann das nicht auch jeder?«
»Nein.«
»Ich glaube, jeder Mensch träumt einmal, daß er fliegt. Es ist einer der häufigsten Träume, die es gibt.«
»Siehst du!« sagt Isabelle. »Und du traust der Schwerkraft. Wenn sie nun eines Tages aufhört? Was dann? Dann fliegen wir herum wie Seifenblasen! Wer ist dann Kaiser? Der, der am meisten Blei an die Füße gebunden hat, oder der mit den längsten Armen? Und wie kommt man von einem Baum herunter?«
»Das weiß ich nicht. Aber selbst Blei hülfe nicht. Es wäre dann auch leicht wie Luft.«
Sie ist plötzlich ganz spielerisch. Der Mond scheint in ihre Augen, als brenne hinter ihnen ein bleiches Feuer. Sie wirft das Haar zurück, das in dem kalten Licht aussieht, als hätte es keine Farbe.
»Du siehst aus wie eine Hexe«, sage ich. »Eine junge und gefährliche Hexe!«
Sie lacht. »Eine Hexe«, flüstert sie. »Hast du es endlich erkannt? Wie lange das gedauert hat!«
Mit einem Ruck reißt sie den blauen weiten Rock auf, der um ihre Hüften schwingt, läßt ihn fallen und steigt heraus. Sie trägt nichts als Schuhe und eine kurze weiße Bluse, die sich öffnet. Schmal und weiß steht sie in der Dunkelheit, mehr Knabe als Frau, mit fahlem Haar und fahlen Augen. »Komm«, flüstert sie.
Ich sehe mich um. Verdammt, denke ich, wenn Bodendiek jetzt käme! Oder Wernicke oder eine der Schwestern, und ich ärgere mich, daß ich es denke. Isabelle würde es nie denken. Sie steht vor mir wie ein Luftgeist, der einen Körper angenommen hat, bereit, wegzufliegen.
»Du mußt dich anziehen«, sage ich.
Sie lacht. »Muß ich das, Rudolf?« fragt sie spöttisch und hat keine Schwerkraft, ich aber habe alle Schwerkraft der Welt.
Langsam kommt sie näher. Sie greift nach meiner Krawatte und zerrt sie los. Ihre Lippen sind ohne Farbe, graublau im Mond, ihre Zähne sind kalkweiß, und selbst ihre Stimme hat ihre Farbe verloren. »Nimm das weg!« flüstert sie und reißt mir den Kragen und das Hemd auf. Ich fühle ihre Hände kühl auf meiner nackten Brust. Sie sind nicht weich; sie sind schmal und hart und greifen mich fest an. Ein Schauer läuft über meine Haut. Etwas, was ich nie in Isabelle vermutet habe, bricht plötzlich aus ihr heraus, ich spüre es wie einen heftigen Wind und einen Stoß, es kommt von weit her und hat sich in ihr zusammengedrängt, wie der sanfte Wind weiter Ebenen in einem Engpaß zu einem jähen Sturm. Ich versuche ihre Hände festzuhalten und sehe mich um. Sie stößt meine Hände beiseite. Sie lacht nicht mehr; in ihr ist auf einmal der tödliche Ernst der Kreatur, für die Liebe überflüssiges Beiwerk ist, die nur ein Ziel kennt und der es nicht zuviel erscheint, zu sterben, um es zu erreichen.
Ich kann sie nicht weghalten. Von irgendwo ist ihr eine Stärke zugeweht, gegen die ich nur Gewalt anwenden könnte, um sie abzuwehren. Um es zu vermeiden, ziehe ich sie an mich. Sie ist so hilfloser, aber sie ist jetzt näher bei mir, ihre Brüste drängen sich gegen meine Brust, ich fühle ihren Körper in meinen Armen und ich spüre, wie ich sie dichter an mich ziehe. Es geht nicht, denke ich, sie ist krank, es ist Vergewaltigung, aber ist nicht alles Vergewaltigung, immer? Ihre Augen sind dicht vor mir, leer und ohne Erkennen, starr und durchsichtig. »Angst«, flüstert sie. »Immer hast du Angst!«
»Ich habe keine Angst«, murmele ich.
»Wovor? Wovor hast du Angst?«
Ich antworte nicht. Es ist plötzlich keine Angst mehr da. Isabelles graublaue Lippen pressen sich gegen mein Gesicht, kühl, nichts an ihr ist heiß, ich aber fröstle von einer kalten Hitze, meine Haut zieht sich zusammen, nur mein Kopf glüht, ich spüre Isabelles Zähne, sie ist ein schmales, aufgerichtetes Tier, sie ist ein Schemen, ein Geist aus Mondlicht und Gier, eine Tote, eine lebende, auferstandene Tote, ihre Haut und ihre Lippen sind kalt, Grauen und eine verbotene Lust wirbeln durcheinander, ich reiße mich mit Gewalt los und stoße sie zurück, daß sie fällt -
Sie steht nicht auf. Sie kauert am Boden, eine weiße Eidechse, und zischt Flüche gegen mich, Beleidigungen, einen Strom von geflüsterten Fuhrmannsflüchen, Soldatenflüchen, Hurenflüchen, Flüchen, die ich nicht einmal alle kenne, Beleidigungen, die treffen wie Messer und Peitschenhiebe, Worte, die ich nie bei ihr vermutet hätte, Worte, auf die man nur mit den Fäusten antwortet.
»Sei ruhig«, sage ich.
Sie lacht. »Sei ruhig!« macht sie mich nach. »Das ist alles, was du weißt! Sei ruhigl Geh zum Teufel!« zischt sie plötzlich lauter. »Geh, du Jammerlappen, du Eunuch -«
»Halt den Mund«, sage ich aufgebracht. »Oder -«
»Was, oder? Versuch es doch!« Sie wölbt sich mir entgegen wie ein Bogen, auf dem Boden, die Hände rückwärts gestützt, in einer schamlosen Gebärde, den Mund geöffnet zu einer verächtlichen Grimasse.
Ich starre sie an. Sie sollte mich anwidern, aber sie widert mich nicht an. Sie hat selbst in dieser obszönen Stellung nichts mit Hurentum zu tun, trotz allem, was sie ausspeit und tut, es ist etwas Verzweifeltes und Wildes und Unschuldiges darin und in ihr, ich liebe sie, ich möchte sie hochnehmen und forttragen, aber ich weiß nicht wohin, ich hebe meine Hände, sie sind schwer, ich fühle mich trostlos und hilflos und kleinbürgerlich und provinziell.
»Scher dich weg!« flüstert Isabelle vom Boden her. »Geh! Geh! Und komm nie wieder! Wage nicht, wiederzukommen, du Greis, du Kirchendiener, du Plebejer, du Kastrat! Geh, du Tölpel, du Narr, du Krämerseele! Wage nicht wiederzukommen!«
Sie sieht mich an, auf den Knien jetzt, der Mund ist klein geworden, die Augen sind flach und schieferfarben und böse. Mit einem schwerelosen Satz springt sie auf, greift den weiten blauen Rock und geht davon, rasch und schwebend, sie tritt aus der Allee in das Mondlicht auf hohen Beinen, eine nackte Tänzerin, den blauen Rock wie eine Fahne schwenkend.
Ich will ihr nachlaufen, ihr zurufen, sich anzuziehen; aber ich bleibe stehen. Ich weiß nicht, was sie als nächstes tun wird – und mir fällt ein, daß es nicht das erstemal ist, daß jemand hier oben nackt an der Eingangstür erscheint. Besonders Frauen tun das oft.
Langsam gehe ich durch die Allee zurück. Ich ziehe mein Hemd zurecht und fühle mich schuldig, ich weiß nicht warum.
Spät höre ich Knopf kommen. Sein Schritt beweist, daß er ziemlich voll ist. Mir ist wahrhaftig nicht danach zumute, aber gerade deshalb begebe ich mich an das Regenrohr. Knopf bleibt in der Hoftür stehen und überblickt als alter Soldat zuerst einmal das Gelände. Alles ist still. Vorsichtig nähert er sich dem Obelisken. Ich habe nicht erwartet, daß der Feldwebel a. D. seine Gewohnheit schon nach einem einzigen Schreckschuß aufgeben würde. Er steht jetzt in Bereitschaftsstellung vor dem Grabstein und wartet wieder. Vorsichtig geht Knopf noch einmal umher. Darauf macht der gewiegte Taktiker ein Scheinmanöver; die Hände gehen herunter, aber es ist Bluff, er horcht nur. Dann, als wieder alles still bleibt, stellt er sich genießerisch hin, ein Lächeln des Triumphes um seinen Nietzscheschnurrbart, und läßt sich gehen.
»Knopf!« heule ich gedämpft durch die Dachröhre. »Du Schwein, bist du wieder da? Habe ich dich nicht gewarnt?«
Der Wechsel in Knopfs Gesicht ist nicht schlecht. Ich habe immer dem Ausdruck mißtraut, daß jemand vor Entsetzen die Augen aufreiße; ich dachte, man kniffe sie eher zu, um schärfer zu sehen; aber Knopf reißt sie tatsächlich auf wie ein erschrecktes Pferd bei einem schweren Granateinschlag. Er rollt sie sogar.
»Du bist nicht würdig, ein Feldwebel der Pioniere a. D. zu sein«, erklare ich hohl. »Hiermit degradiere ich dich! Ich degradiere dich zum Soldaten zweiter Klasse, du Pisser! Tritt ab!«
Ein heiseres Bellen entringt sich Knopfs Kehle. »Nein! Nein!« krächzt er und sucht die Stelle zu erkennen, von wo Gott spricht. Es ist die Ecke zwischen dem Tor und seiner Hauswand. Kein Fenster, ist dort, keine Öffnung, er begreift nicht, woher die Stimme kommt.
»Aus ist es mit dem langen Säbel, der Schirmmütze und den Litzen!« flüstere ich. »Aus mit der Extrauniform! Von jetzt an bist du Pionier zweiter Klasse, Knopf, du Saubesen!«
»Nein!« heult Knopf, ins Kerngehäuse getroffen. Eher kann man einem echten Teutonen einen Finger abschneiden, als ihm seinen Titel nehmen. »Nein! Nein!« flüstert er und hebt die Pfoten ins Mondlicht.
»Zieh dich anständig an«, kommandiere ich und denke plötzlich an all das, was Isabelle mir zugerufen hat, und fühle einen Stich im Magen, und das heulende Elend stürzt wie Hagel auf mich los.
Knopf hat gehorcht. »Nur nicht das!« krächzt er noch einmal, den Kopf weit zurückgelegt zu den mondbeschienenen Schäferwolken hinauf. »Nicht das, Herr!«
Ich sehe ihn dastehen wie das Mittelstück der Laokoongruppe, ringend mit den unsichtbaren Schlangen der Ehrlosigkeit und der Degradierung. Er steht so ähnlich da wie ich vor einer Stunde, fällt mir ein, während mein Magen wieder zu sieden beginnt. Unerwartetes Mitleid erfaßt mich; für Knopf und für mich. Ich werde menschlicher. »Also gut«, flüstere ich. »Du verdienst es nicht, aber ich will dir noch eine Chance geben. Du wirst nur zum Gefreiten degradiert, und auch das auf Probe. Wenn du bis Ende September pißt wie ein zivilisierter Mensch, wirst du zum Unteroffizier zurückbefördert; bis Ende Oktober zum Sergeanten; Ende November zum Vizefeldwebel; zu Weihnachten dann wieder zum etatsmäßigen Kompaniefeldwebel a. D., verstanden?«
»Jawohl, Herr – Herr -« Knopf sucht nach der richtigen Anrede. Ich fürchte, daß er zwischen Majestät und Gott schwankt, und unterbreche ihn rechtzeitig. »Das ist mein letztes Wort, Gefreiter Knopf! Und glaube nicht, du Schwein, daß du nach Weihnachten wieder anfangen kannst! Dann ist es kalt, und du kannst deine Spuren nicht verwischen. Sie frieren fest. Stell dich nur noch einmal an den Obelisken, und du wirst einen elektrischen Schlag und eine Prostata-Entzündung bekommen, daß du krumme Beine vor Schmerz kriegst. Und nun fort mit dir, du Misthaufen mit Tressen!«
Knopf verschwindet mit ungewöhnlicher Schnelle im Dunkel seiner Haustürhöhle. Ich höre leises Gelächter aus dem Büro. Lisa und Georg haben die Vorstellung beobachtet. »Misthaufen mit Tressen«, kichert Lisa heiser. Ein Stuhl fällt um, es rumpelt, und die Tür zu Georgs Meditationszimmer schließt sich. Ich habe einmal von Riesenfeld eine Flasche holländischen Genever geschenkt bekommen mit der Widmung: Für sehr schwierige Stunden. Ich hole sie jetzt heraus. Auf der viereckigen Flasche prangt das Etikett: Friesscher Genever van P. Bokma, Leeuwarden. Ich öffne sie und schenke mir ein großes Glas ein. Der Genever ist stark und würzig und beschimpft mich nicht.