XX

»Möchtest du etwas sehen, das fast so ans Herz greift wie ein Rembrandt?« fragt Georg. »Immer los.«

Er nimmt etwas aus seinem Taschentuch und läßt es auf den Tisch fallen, daß es klingt. Es dauert eine Weile, bis ich es erkenne. Gerührt schauen wir es an. Es ist ein goldenes Zwanzigmarkstück. Das letztemal, daß ich eines gesehen habe, war vor dem Kriege. »Das waren Zeiten!« sage ich. »Frieden herrschte, Sicherheit regierte, Majestätsbeleidigungen wurden noch mit Festungshaft gesühnt, der Stahlhelm war unbekannt, unsere Mütter trugen Korsetts und hohe Kragen an ihren Blusen mit eingenähten Fischbeinstäbchen, Zinsen wurden gezahlt, die Mark war ebenso unantastbar wie Gott, und vierteljährlich schnitt man geruhsam die Coupons von den Staatsanleihen ab und bekam sie in Gold ausbezahlt. Laß dich küssen, du gleißendes Symbol einer versunkenen Zeit!«

Ich wiege das Geldstück in der Hand. Es trägt das Bildnis Wilhelms des Zweiten, der jetzt in Holland Holz sägt und sich einen Spitzbart hat wachsen lassen. Auf dem Konterfei trägt er noch den stolz auf gezwirbelten Schnurrbart, der damals hieß: Es ist erreicht. Es war tatsächlich erreicht. »Woher hast du es?« frage ich.

»Von einer Witwe, die einen ganzen Kasten voll davon geerbt hat.«

»Guter Gott! Was ist es wert?«

»Vier Milliarden Papiermark. Ein kleines Haus. Oder ein Dutzend herrlicher Frauen. Eine Woche in der Roten Mühle. Acht Monate Pension für einen Schwerkriegsverletzten -«

»Genug -«

Heinrich Kroll tritt ein, die Fahrradspangen an den gestreiften Hosen. »Dies hier muß Ihr treues Untertanenherz entzücken«, sage ich und wirble den goldenen Vogel vor ihm durch die Luft. Er fängt ihn auf und starrt ihn mit wäßrigen Augen an. »Seine Majestät«, sagt er ergriffen. »Das waren noch Zeiten! Wir hatten noch unsere Armee!«

»Es waren anscheinend für jeden verschiedene Zeiten«, erwiderte ich.

Heinrich blickt mich strafend an. »Sie werden doch wohl zugeben, daß es damals bessere Zeiten waren als heute!«

»Möglich!«

»Nicht möglich! Bestimmt! Wir hatten Ordnung, wir hatten eine stabile Währung, wir hatten keine Arbeitslosen, aber dafür eine blühende Wirtschaft, und wir waren ein geachtetes Volk. Oder wollen Sie das auch nicht zugeben?«

»Ohne weiteres.«

»Na, also! Und was haben wir heute?«

»Unordnung, fünf Millionen Arbeitslose, eine Schwindelwirtschaft, und wir sind ein besiegtes Volk«, erwidere ich.

Heinrich ist verblüfft. So leicht hat er sich das nicht gedacht. »Na also«, wiederholt er. »Heute sitzen wir im Dreck, und damals saßen wir im Fett. Die Schlußfolgerung werden ja wohl auch Sie ziehen können, wie?«

»Ich bin nicht sicher. Was ist sie?«

»Das ist doch verdammt einfach! Daß wir wieder einen Kaiser und eine anständige nationale Regierung haben müssen!«

»Halt!« sage ich. »Sie haben etwas vergessen. Sie haben das wichtige Wort „weil“ vergessen. Das aber ist der Kern des Übels. Es ist der Grund dafür, daß heute Millionen wie Sie mit hocherhobenen Rüsseln wieder solchen Unsinn herumtrompeten. Das kleine Wort „weil“.«

»Was?« fragt Heinrich verständnislos.

»Weil!« wiederhole ich. »Das Wort: „weil“! Wir haben heute fünf Millionen Arbeitslose, eine Inflation, und wir sind besiegt worden, weil wir vorher Ihre geliebte nationale Regierung hatten! Weil diese Regierung in ihrem Größenwahn Krieg gemacht hat! Weil sie diesen Krieg verloren hat! Deshalb sitzen wir heute in der Scheiße! Weil wir Ihre geliebten Holzköpfe und Uniformpuppen als Regierung hatten! Und wir müssen sie nicht zurückhaben, damit es uns besser gehe, sondern wir müssen verhüten, daß sie wiederkommen, weil sie uns sonst noch einmal in Krieg und Scheiße jagen. Sie und Ihre Genossen sagen: Früher ging’s uns gut, heute geht’s uns schlecht – also wieder her mit der alten Regierung! In Wirklichkeit heißt es aber: Heute geht’s uns schlecht, weil wir früher die alte Regierung hatten – also zum Teufel mit ihr! Kapiert! Das Wörtchen: Weil! Das wird gern von Ihren Genossen vergessen! Weil!«

»Blödsinn!« poltert Heinrich aufgebracht. »Sie Kommunist!«

Georg bricht in ein wildes Gelächter aus. »Für Heinrich ist jeder ein Kommunist, der nicht stramm rechts ist.«

Heinrich wölbt die Brust zu einer geharnischten Antwort. Das Bild seines Kaisers hat ihn stark gemacht. In diesem Augenblick tritt Kurt Bach ein. »Herr Kroll«, fragt er,»soll der Engel rechts oder links vom Text: „Hier ruht Spenglermeister Quartz“ stehen?«

»Was?«

»Der Engel im Relief auf dem Grabstein Quartz.«

»Rechts natürlich«, sagt Georg. »Engel stehen immer rechts.«

Heinrich wird aus einem nationalen Propheten wieder ein Grabsteinverkäufer. »Ich komme mit Ihnen«, erklärt er mißmutig und legt das Goldstück zurück auf den Tisch. Kurt Bach sieht es und greift danach. »Das waren Zeiten«, sagt er schwärmerisch.

»Für Sie also auch«, erwidert Georg. »Was für Zeiten waren es denn für Sie?«

»Die Zeiten der freien Kunst! Brot kostete Pfennige, ein Schnaps einen Fünfer, das Leben war voller Ideale, und mit ein paar solcher Goldfüchse konnte man ins gelobte Land Italia reisen, ohne Furcht, daß sie bei der Ankunft nichts mehr wert seien.«

Bach küßt den Adler, legt ihn zurück und wird wieder zehn Jahre älter. Heinrich und er entschwinden. Heinrich ruft zum Abschied, düstere Drohung auf seinem verfetteten Gesicht:»Köpfe werden noch rollen!«

»Was war das?« frage ich Georg erstaunt. »Ist das nicht eine der vertrauten Phrasen Watzeks? Stehen wir etwa vor einer Verbrüderung der feindlichen Cousins?«

Georg sieht nachdenklich hinter Heinrich her. »Vielleicht«, sagt er. »Dann wird es gefährlich. Weißt du, was so hoffnungslos ist? Heinrich war 1918 ein rabiater Kriegsgegner. Inzwischen hat er alles vergessen, was ihn dazu machte, und der Krieg ist für ihn wieder ein frischfröhliches Abenteuer geworden.« Er steckt das Zwanzigmarkstück in die Westentasche. »Alles wird zum Abenteuer, was man überlebt. Das ist so zum Kotzen! Und je schrecklicher es war, um so abenteuerlicher wird es in der Erinnerung. Wirklich über den Krieg könnten nur die Toten urteilen; sie allein haben ihn ganz erlebt.«

Er sieht mich an. »Erlebt?« sage ich,»erstorben.«

»Sie und die, die das nicht vergessen«, erwidert er. »Aber das sind wenige. Unser verdammtes Gedächtnis ist ein Sieb. Es will überleben. Und überleben kann man nur durch Vergessen.«

Er setzt seinen Hut auf. »Komm«, sagt er. »Wir wollen sehen, was für Zeiten unser goldener Vogel in Eduard Knoblochs Gedächtnis hervorruft.«

»Isabelle!« sage ich tief erstaunt.

Ich sehe sie auf der Terrasse vor dem Pavillon für die Unheilbaren sitzen. Nichts ist mehr da von der zuckenden, gequälten Kreatur, die ich das letztemal gesehen habe. Ihre Augen sind klar, ihr Gesicht ist ruhig, und sie scheint mir schöner, als ich sie je vorher gekannt habe – aber das kann auch durch den Gegensatz zum letzten Mal kommen.

Es hat nachmittags geregnet, und der Garten blinkt von Feuchtigkeit und Sonne. Über der Stadt schwimmen Wolken vor einem reinen, mittelalterlichen Blau, und ganze Fensterfronten sind in Spiegelgalerien verwandelt. Isabelle trägt ein Abendkleid, unbekümmert um die Zeit, aus einem sehr weichen schwarzen Stoff, und ihre goldenen Schuhe. Am rechten Arm hängt eine Kette aus Smaragden – sie muß mehr wert sein als unsere gesamte Firma, einschließlich des Lagers, der Häuser und des Einkommens der nächsten fünf Jahre. Sie hat sie vorher noch nie getragen. Es ist ein Tag der Kostbarkeiten, denke ich. Zuerst der goldene Wilhelm II., und jetzt dieses! Aber die Kette rührt mich nicht.

»Hörst du sie?« fragt Isabelle. »Sie haben getrunken, tief und viel, und nun sind sie ruhig und satt und zufrieden. Sie summen tief, wie Millionen Bienen.«

»Wer?«

»Die Bäume und all die Büsche. Hast du sie gestern nicht schreien gehört, als es so trocken war?«

»Können sie schreien?«

»Natürlich. Kannst du das nicht hören?«

»Nein«, sage ich und sehe auf das Armband, das funkelt, als hätte es grüne Augen.

Isabelle lacht. »Ach, Rudolf, du hörst so wenig!« sagt sie zärtlich. »Deine Ohren sind zugewachsen wie Buchsbaumgebüsch. Und dann machst du auch so viel Lärm – deshalb hörst du nichts.«

»Ich mache Lärm? Wieso?«

»Nicht mit Worten. Aber sonst machst du einen furchtbaren Lärm, Rudolf. Oft bist du kaum zu ertragen. Du machst mehr Lärm als die Hortensien, wenn sie durstig sind, und das sind doch wahrhaftig mächtige Schreier.«

»Was macht denn Lärm bei mir?«

»Alles. Deine Wünsche. Dein Herz. Deine Unzufriedenheit. Deine Eitelkeit. Deine Unentschlossenheit -«

»Eitelkeit?« sage ich. »Ich bin nicht eitel.«

»Natürlich -«

»Ausgeschlossen!« erwidere ich und weiß, daß es nicht stimmt, was ich sage.

Isabelle küßt mich rasch. »Mach mich nicht müde, Rudolf! Du bist immer so genau mit Namen. Du heißt auch eigentlich nicht Rudolf, wie? Wie heißt du denn?«

»Ludwig«, sage ich überrascht. Es ist das erstemal, daß sie mich danach fragt.

»Ja, Ludwig. Bist du deines Namens niemals müde?«

»Das schon. Meiner selber auch.«

Sie nickt, als wäre das das Selbstverständlichste der Welt.

»Dann wechsle ihn doch. Warum willst du nicht Rudolf sein? Oder jemand anders. Reise doch weg. Geh in ein anderes Land. Jeder Name ist eines.«

»Ich heiße nun einmal Ludwig. Was ist da zu ändern? Jeder weiß es hier.«

Sie scheint mich nicht gehört zu haben. »Ich werde auch bald weggehen«, sagt sie. »Ich fühle es. Ich bin müde und meiner Müdigkeit müde. Es ist alles schon etwas leer und voll Abschied und Schwermut und Warten.«

Ich sehe sie an und spüre plötzlich eine jähe Angst. Was mag sie meinen?»Ändert sich nicht jeder immerfort?« frage ich.

Sie blickt zur Stadt hinüber. »Das meine ich nicht, Rudolf. Ich glaube, es gibt noch ein anderes Ändern. Ein größeres. Eines, das wie Sterben ist. Ich glaube, es ist Sterben.«

Sie schüttelt den Kopf, ohne mich anzusehen. »Es riecht überall danach«, flüstert sie. »Auch in den Bäumen und im Nebel. Es tropft nachts vom Himmel. Die Schatten sind voll davon. Und in den Gelenken ist die Müdigkeit. Sie hat sich hineingeschlichen. Ich gehe nicht mehr gern, Rudolf. Es war schön mit dir, auch wenn du mich nicht verstanden hast. Du warst doch wenigstens da. Sonst wäre ich ganz allein gewesen.«

Ich weiß nicht, was sie meint. Es ist ein sonderbarer Augenblick. Alles ist auf einmal sehr still, kein Blatt regt sich, nur Isabelles Hand mit den langen Fingern schwingt über den Rand des Korbsessels, und leise klirrt das Armband mit den grünen Steinen. Die untergehende Sonne gibt ihrem Gesicht eine Farbe von solcher Wärme, daß es der Gegensatz von jedem Gedanken an Sterben ist – aber trotzdem ist mir, als breite sich wirklich eine Kühle aus wie eine lautlose Furcht, als könnte es sein, daß Isabelle nicht mehr da wäre, wenn der Wind wieder beginnt – aber dann weht er plötzlich in den Kronen, er rauscht, der Spuk ist vorbei, und Isabelle richtet sich auf und lächelt. »Es gibt viele Wege, zu sterben«, sagt sie. »Armer Rudolf! Du kennst nur einen. Glücklicher Rudolf! Komm, laß uns ins Haus gehen.«

»Ich liebe dich sehr«, sage ich.

Sie lächelt stärker. »Nenne es, wie du willst. Was ist der Wind und was ist die Stille? So verschieden sind sie und doch beide dasselbe. Ich bin eine Weile auf den bunten Pferden des Karussells geritten und habe in den goldenen Gondeln mit blauem Samt gesessen, die sich nicht nur drehen, sondern auch noch auf und nieder schweben. Du liebst sie nicht, wie?«

»Nein. Ich habe früher lieber auf den lackierten Hirschen und Löwen gesessen. Aber mit dir würde ich auch in Gondeln fahren.«

Sie küßt mich. »Die Musik!« sagt sie leise. »Und das Licht der Karussells im Nebel! Wo ist unsere Jugend geblieben, Rudolf?«

»Ja, wo?« sage ich und spüre plötzlich Tränen hinter meinen Augen und begreife nicht, warum. »Haben wir eine gehabt?«

»Wer weiß das?«

Isabelle steht auf. Über uns im Laub raschelt es. Im glühenden Licht der späten Sonne sehe ich, daß ein Vogel mir auf das Jackett geschissen hat. Ungefähr dahin, wo das Herz ist. Isabelle sieht es und biegt sich vor Lachen. Ich tupfe mit meinem Taschentuch die Losung des sarkastischen Buchfinken fort. »Du bist meine Jugend«, sage ich. »Ich weiß es jetzt. Du bist alles, was dazugehört. Das eine und das andere und noch vieles mehr. Auch das, daß man erst weiß, was es war, wenn es einem entgleitet.«

Entgleitet sie mir denn? denke ich. Was rede ich daher? Hatte ich sie denn je? Und warum sollte sie entgleiten? Weil sie es sagt? Oder weil da plötzlich diese kühle, lautlose Angst ist? Sie hat schon so vieles gesagt, und ich habe schon so oft Angst gehabt. »Ich liebe dich, Isabelle«, sage ich. »Ich liebe dich mehr, als ich je gewußt habe. Es ist wie ein Wind, der sich erhebt und von dem man glaubt, er sei nur ein spielerisches Wehen, und auf einmal biegt sich das Herz darunter wie eine Weide im Sturm. Ich liebe dich, Herz meines Herzens, einzige Stille in all dem Aufruhr, ich liebe dich, die du hörst, ob die Blume dürstet und ob die Zeit müde ist wie ein Jagdhund am Abend, ich liebe dich, und es strömt aus mir heraus wie aus einem soeben aufgeschlossenen Tor, hinter dem ein unbekannter Garten sich öffnet, ich verstehe es noch nicht ganz und bin erstaunt darüber und schäme mich noch etwas meiner großen Worte, aber sie poltern heraus und hallen und fragen mich nicht, jemand redet aus mir, den ich nicht kenne, und ich weiß nicht, ob es ein viertklassiger Melodramatiker ist oder mein Herz, das keine Angst mehr hat -«

Isabelle ist mit einem Ruck stehengeblieben. Wir sind in derselben Allee wie damals, als sie nackt durch die Nacht zurückging; aber alles ist jetzt anders. Die Allee ist voll vom roten Licht des Abends, voll von ungelebter Jugend, von Schwermut und von einem Glück, das zwischen Schluchzen und Jubel schwankt. Es ist auch keine Allee von Bäumen mehr; es ist eine Allee aus unwirklichem Licht, in dem die Bäume wie dunkle Fächer sich zueinander neigen, um es zu halten, einem Licht, in dem wir stehen, als wögen wir fast nichts, durchdrungen von ihm wie Silvesterkarpfen vom Geiste des Rums, in dem sie baden und der sie durchdringt, bis sie beinahe zerfallen.

»Du liebst mich?« flüstert Isabelle.

»Ich liebe dich, und ich weiß, ich werde nie wieder einen Menschen so lieben wie dich, weil ich nie wieder so sein werde wie jetzt in diesem Augenblick, der vergeht, während ich von ihm spreche, und den ich nicht halten kann, selbst wenn ich mein Leben gäbe -«

Sie sieht mich mit großen, strahlenden Augen an. »Jetzt weißt du es endlich!« flüstert sie. »Jetzt hast du es endlich gefühlt – das Glück ohne Namen und die Trauer und den Traum und das doppelte Gesicht! Es ist der Regenbogen, Rudolf, und man kann über ihn gehen, aber wenn man zweifelt, stürzt man ab! Glaubst du es nun endlich?«

»Ja«, murmle ich und weiß, daß ich es glaube und vor einem Augenblick auch geglaubt habe und schon nicht mehr ganz glaube. Noch ist das Licht stark, aber an den Rändern wird es bereits grau, dunkle Flecken schieben sich langsam hervor, und der Aussatz der Gedanken bricht darunter wieder aus, nur verdeckt, aber nicht geheilt. Das Wunder ist an mir vorübergegangen, es hat mich berührt, aber nicht verändert, ich habe noch denselben Namen und weiß, daß ich ihn wohl bis ans Ende meiner Tage mit mir herumschleppen werde, ich bin kein Phönix, die Neugeburt ist nicht für mich, ich habe zu fliegen versucht, doch nun taumele ich wie ein geblendetes schwerfälliges Huhn wieder zur Erde, zwischen die Stacheldrähte zurück.

»Sei nicht traurig«, sagt Isabelle, die mich beobachtet hat.

»Ich kann nicht auf Regenbögen gehen, Isabelle«, sage ich. »Aber ich möchte es gerne. Wer kann es?«

Sie nähert ihr Gesicht meinem Ohr. »Niemand«, flüstert sie.

»Niemand? Du auch nicht?«

Sie schüttelt den Kopf. »Niemand«, wiederholt sie. »Aber es ist genug, wenn man Sehnsucht hat.«

Das Licht wird jetzt schnell grau. Irgendwann war das alles schon einmal so, denke ich, doch ich kann mich nicht erinnern, wann. Ich fühle Isabelle nahe bei mir und halte sie plötzlich in den Armen. Wir küssen uns wie Verfluchte und Verzweifelte, wie Menschen, die für immer auseinandergerissen werden. »Ich habe alles versäumt«, sage ich atemlos. »Ich liebe dich, Isabelle.«

»Still!« flüstert sie. »Spricht nicht -«

Der fahle Fleck am Ausgang der Allee beginnt zu glühen. Wir gehen auf ihn zu und bleiben am Tor des Parkes stehen. Die Sonne ist verschwunden, und die Felder sind ohne Farbe; dafür aber steht ein mächtiges Abendrot über dem Walde, und die Stadt wirkt, als brenne es in den Straßen.

Wir stehen eine Weile still. »Welch ein Hochmut«, sagt Isabelle dann plötzlich. »Zu glauben, daß ein Leben einen Anfang und ein Ende hat!«

Ich verstehe sie nicht gleich. Hinter uns bereitet sich der Garten bereits für die Nacht; aber vor uns, auf der anderen Seite des eisernen Gitters, flammt und brodelt es in einer wilden Alchimie. Ein Anfang und ein Ende? denke ich, und dann begreife ich, was sie meint; daß es Hochmut sei, ein kleines Dasein aus diesem Brodeln und Zischen herausschneiden und abgrenzen zu wollen und unser bißchen Bewußtsein zum Richter zu machen über seine Dauer, während es doch höchstens eine Flocke ist, die kurze Zeit darin schwimmt. Anfang und Ende, erfundene Worte eines erfundenen Begriffes Zeit und der Eitelkeit eines Amöben-Bewußtseins, das nicht untergehen will in einem größeren.

»Isabelle«, sage ich. »Du süßes und geliebtes Leben, ich glaube, ich habe endlich gefühlt, was Liebe ist! Es ist Leben, nichts als Leben, der höchste Griff der Welle nach dem Abendhimmel, nach den verblassenden Sternen und nach sich selbst – der Griff, der immer wieder vergeblich ist, der des Sterblichen nach dem Unsterblichen – aber manchmal kommt der Himmel der Welle entgegen, und sie begegnen sich für einen Augenblick, und dann ist es nicht mehr Piraterie des einen und Versagen des andern, nicht mehr Mangel und Überfluß und Verfälschung durch Poeten, es ist -«

Ich breche ab. »Ich weiß nicht, was ich rede«, sage ich dann. »Es strömt und strömt, und vielleicht ist Lüge dabei, aber dann ist es Lüge, weil Worte lügnerisch sind und wie Tassen, mit denen man Springbrunnen auffangen will – aber du wirst mich auch ohne Worte verstehen, es ist noch so neu für mich, daß ich es nicht ausdrücken kann; ich wußte nicht, daß auch mein Atem lieben kann und meine Nägel lieben können und sogar mein Tod lieben kann, und zum Teufel damit, wie lange es dauert und ob ich es halten kann oder nicht und ob ich es ausdrücken kann oder nicht -«

»Ich verstehe es«, sagt Isabelle.

»Du verstehst es?«

Sie nickt. »Ich hatte schon Sorge um dich, Rudolf.«

Warum sollte sie Sorge um mich haben, denke ich. Ich bin doch nicht krank. »Sorge?« sage ich. »Warum Sorge um mich?«

»Sorge«, wiederholt sie. »Aber jetzt habe ich keine mehr. Leb wohl, Rudolf.«

Ich sehe sie an und halte ihre Hände fest. »Warum willst du weg? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Sie schüttelt den Kopf und versucht, ihre Hände loszumachen. »Doch!« sage ich. »Es war falsch! Es war Hochmut, es waren Worte, es war Gerede -«

»Mach es doch nicht kaputt, Rudolf! Warum mußt du etwas, was du haben willst, immer gleich kaputtmachen, wenn du es hast?«

»Ja«, sage ich. »Warum?«

»Das Feuer ohne Rauch und Asche. Mach es nicht kaputt. Leb wohl, Rudolf.«

Was ist das? denke ich. Es ist wie auf dem Theater, aber es kann doch nicht sein! Ist das ein Abschied? Aber wir haben doch schon so oft Abschied genommen, jeden Abend! Ich halte Isabelle fest. »Wir bleiben zusammen«, sage ich.

Sie nickt und legt den Kopf an meine Schulter, und ich fühle plötzlich, daß sie weint. »Wozu weinst du?« frage ich. »Wir sind doch glücklich!«

»Ja«, sagt sie und küßt mich und macht sich los. »Lebe wohl, Rudolf.«

»Wozu sagst du Lebewohl? Dies ist doch kein Abschied! Ich komme morgen wieder.«

Sie sieht mich an. »Ach, Rudolf«, sagt sie, als könne sie mir wieder etwas nicht klarmachen. »Wie soll man denn sterben können, wenn man nicht Abschied nehmen kann?«

»Ja«, sage ich. »Wie? Ich verstehe das auch nicht. Weder das eine noch das andere.«

Wir stehen vor dem Pavillon, in dem sie wohnt. Niemand ist in der Halle. Auf einem der Korbsessel liegt ein sehr buntes Tuch.

»Komm«, sagt Isabelle plötzlich.

Ich zögere einen Augenblick, aber ich kann um nichts in der Welt jetzt wieder nein sagen und gehe mit ihr deshalb die Treppe hinauf. Sie geht, ohne sich umzusehen, in ihr Zimmer. Ich bleibe in der Tür stehen. Sie schleudert mit einer raschen Bewegung die leichten goldenen Schuhe von ihren Füßen und legt sich aufs Bett. »Komm!« sagt sie. »Rudolf!«

Ich setze mich zu ihr. Ich will sie nicht noch einmal enttäuschen, aber ich weiß auch nicht, was ich tun soll, und ich wüßte nicht, was ich sagen sollte, wenn eine Schwester oder Wernicke hereinkäme. »Komm«, sagt Isabelle.

Ich lege mich zurück, und sie legt sich in meinen Arm.

»Endlich«, murmelt sie. »Rudolf«, und schläft nach wenigen tiefen Atemzügen ein.

Es wird dunkel im Zimmer. Bleich steht das Fenster in der beginnenden Nacht. Ich höre Isabelle atmen und ab und zu Murmeln aus den Nachbarzimmern. Plötzlich wacht sie mit einem Ruck auf. Sie stößt mich von sich, und ich spüre, wie ihr Körper steif wird. Sie hält den Atem an. »Ich bin es«, sage ich. »Ich, Rudolf.«

»Wer?«

»Ich, Rudolf. Ich bin bei dir geblieben.«

»Du hast hier geschlafen?«

Ihre Stimme ist verändert. Sie ist hoch und atemlos. »Ich bin hiergeblieben«, sage ich.

»Geh!« flüstert sie. »Geh sofort!«

Ich weiß nicht, ob sie mich erkennt. »Wo ist das Licht?«

»Kein Licht! Kein Licht! Geh! Geh!«

Ich stehe auf und taste mich zur Tür. »Habe keine Angst, Isabelle«, sage ich.

Sie regt sich auf ihrem Bett, als versuche sie, die Decke über sich zu ziehen. »So geh doch!« flüstert sie mit ihrer hohen, veränderten Stimme. »Sie sieht dich sonst, Ralph! Rasch!«

Ich ziehe die Tür hinter mir zu und gehe die Treppe hinunter. Unten sitzt die Nachtschwester. Sie weiß, daß ich Erlaubnis habe, Isabelle zu besuchen. »Ist sie ruhig?« fragt sie.

Ich nicke und gehe durch den Garten dem Tor zu, durch das die Gesunden herein- und hinausgehen. Was war nun das wieder? denke ich. Ralph, wer mag das sein? Sie hat mich noch nie so genannt. Und was meinte sie damit, daß man mich nicht sehen sollte? Ich bin doch schon öfter abends in ihrem Zimmer gewesen.

Ich gehe zur Stadt hinunter. Liebe, denke ich, und meine hochtrabenden Redensarten fallen mir wieder ein. Ich fühle eine fast unerträgliche Sehnsucht und ein fernes Grauen und etwas wie Flucht und gehe schneller und schneller, der Stadt entgegen mit ihrem Licht, ihrer Wärme, ihrer Vulgarität, ihrem Elend, ihrer Alltäglichkeit und ihrer gesunden Abkehr von Geheimnissen und vom Chaos, was für einen Namen man ihm auch geben mag.


Nachts erwache ich von vielen Stimmen. Ich öffne das Fenster und sehe, daß der Feldwebel Knopf nach Hause gebracht wird. Das ist bisher noch nie geschehen; er ist bisher immer noch mit eigener Kraft zurückgekommen, wenn ihm der Schnaps auch aus den Augen lief. Er stöhnt stark. Rundum werden einige Fenster hell.

»Verfluchter Saufbold!« kreischt es aus dem einen. Es ist die Witwe Konersmann, die dort auf der Lauer liegt. Sie hat nichts zu tun und ist die Klatschtante der Straße. Ich habe sie in Verdacht, daß sie auch Georg und Lisa längst beobachtet.

»Halten Sie die Schnauze!« antwortet von der dunklen Straße ein anonymer Held.

Ich weiß nicht, ob er die Witwe Konersmann kennt. Auf jeden Fall ergießt sich nach einer Sekunde stummer Empörung ein solches Schimpfspülwasser über den Mann, über Knopf, über die Sitten der Stadt, des Landes und der Menschheit, daß die Straßte widerhallt. Endlich schweigt die Witwe. Ihre letzten Worte sind, daß sie Hindenburg, den Bischof, die Polizei und die Arbeitgeber des unbekannten Helden informieren werde. »Halten Sie die Schnauze, Sie ekelhafte Beißzange!« erwidert der Mann, der ungewöhnlich widerstandsfähig zu sein scheint, unter dem Schutz der Dunkelheit. »Herr Knopf ist schwer krank. Es wäre besser, Sie wären es.«

Die Witwe tobt sofort wieder los, mit doppelter Kraft, was keiner für möglich gehalten hätte. Sie versucht, mit einer elektrischen Taschenlampe den Missetäter vom Fenster aus zu erkennen; aber das Licht ist zu schwach.

»Ich weiß, wer Sie sind!« zetert sie. »Sie sind Heinrich Brüggemann! Zuchthaus werden Sie dafür bekommen, eine schutzlose Witwe zu beleidigen, Sie Mörder! Schon Ihre Mutter -«

Ich höre nicht weiter zu. Die Witwe hat ein gutes Publikum. Fast alle Fenster sind jetzt offen. Grunzen und Beifall tönen heraus. Ich gehe nach unten.

Knopf wird gerade hereingeschleppt. Er ist weiß, Wasser läuft ihm über das Gesicht, und der Nietzsche-Schnauzbart hängt feucht über die Lippen. Mit einem Schrei macht er sich plötzlich frei, torkelt ein paar Schritte vorwärts und springt unversehens auf den Obelisken zu. Er umklammert ihn mit beiden Armen und Beinen wie ein Frosch, preßt sich gegen den Granit und heult.

Ich sehe mich um. Hinter mir steht Georg in seinem purpurnen Pyjama, dahinter die alte Frau Kroll ohne Zähne, in einem blauen Schlafrock, mit Lockenwicklern im Haar, dahinter Heinrich, der zu meinem Erstaunen im Pyjama, ohne Stahlhelm und Orden auftaucht. Immerhin, der Pyjama ist in den preußischen Farben gestreift, schwarz und weiß.

»Was ist los?« fragt Georg. »Delirium tremens? Wieder mal?«

Knopf hat es schon ein paarmal gehabt. Er kennt weiße Elefanten, die aus der Wand kommen, und Luftschiffe, die durch Schlüssellöcher fahren. »Schlimmer«, sagt der Mann, der der Witwe Konersmann standgehalten hat. Es ist tatsächlich Heinrich Brüggemann, der Installateur.

»Die Leber und die Nieren. Er glaubt, sie wären geplatzt.«

»Warum schleppt ihr ihn dann hierher? Warum nicht zum Marienhospital?«

»Er will nicht ins Hospital.«

Die Familie Knopf erscheint. Voran Frau Knopf, hinter ihr die drei Töchter, alle vier zerzaust, verschlafen und erschreckt. Knopf heult unter einem neuen Anfall auf.

»Habt ihr einem Arzt telefoniert?« fragt Georg.

»Noch nicht. Wir hatten alle Hände voll zu tun, ihn hierherzubringen. Er wollte in den Fluß springen.«

Die vier weiblichen Knopfs bilden einen Klagechor um den Feldwebel. Heinrich ist ebenfalls zu ihm herangetreten und versucht, ihn als Mann, Kameraden, Soldaten und Deutschen zu beeinflussen, den Obelisken loszulassen und zu Bett zu gehen, um so mehr, als der Obelisk unter Knopfs Gewicht schwankt. Nicht nur Knopf sei in Gefahr durch den Obelisken, erklärt Heinrich, sondern die Firma müsse umgekehrt auch Knopf dafür verantwortlich machen, wenn dem Obelisken etwas passiere. Es sei wertvoller, hochpolierter S.-S.-Granit, der beim Fallen bestimmt beschädigt würde.

Knopf versteht ihn nicht; er wiehert mit aufgerissenen Augen wie ein Pferd, das Geister sieht. Ich höre Georg aus dem Büro nach einem Arzt telefonieren. In einem Abendkleid aus leicht zerknittertem weißen Satin betritt Lisa den Hof. Sie blüht vor Gesundheit und riecht stark nach Kümmel. »Herzliche Grüße von Gerda«, sagt sie zu mir. »Du sollst dich mal melden.«

In diesem Augenblick schießt ein Liebespaar im Galopp hinter den Kreuzen hervor und heraus. Im Regenmantel und Nachthemd erscheint Wilke; Kurt Bach, der zweite Freidenker, folgt in schwarzem Pyjama mit russischer Bluse und Gürtel. Knopf heult weiter.

Gottlob ist es nicht weit vom Hospital. Der Arzt kommt bald. Er wird in Eile aufgeklärt. Es ist unmöglich, Knopf von dem Obelisken zu lösen. Deshalb werden ihm von seinen Kameraden die Hosen so weit heruntergezogen, daß seine mageren Arschbacken frei sind. Der Arzt, der aus dem Kriege schwierigere Situationen gewöhnt ist, tupft Knopf mit einem Wattebausch ab, der in Alkohol getränkt ist, gibt Georg eine kleine Taschenlampe und jagt eine Spritze in Knopfs grell beleuchtetes Hinterteil. Knopf sieht sich halb um, läßt einen knatternden Furz fahren und gleitet am Obelisken herab. Der Arzt ist zurückgesprungen, als hätte Knopf ihn erschossen.

Die Begleiter Knopfs heben ihn auf. Er hält den Fuß des Obelisken noch mit den Händen fest; aber sein Widerstand ist gebrochen. Ich verstehe, daß er in seiner Angst auf den Obelisken losgestürmt ist; er hat hier schöne, sorglose Augenblicke ohne Nierenkoliken verbracht.

Man bringt ihn ins Haus. »Es war zu erwarten«, sagt Georg zu Brüggemann. »Wie kam es?«

Brüggemann schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Er hatte gerade eine Wette gegen einen Mann aus Münster gewonnen. Hatte einen Korn vom Spatenbräu und einen vom Restaurant Blume richtig geraten. Der Mann aus Münster hatte sie im Auto geholt. Ich war Vertrauensmann. Während nun der Mann aus Münster seine Brieftasche zückt, wird Knopf plötzlich schneeweiß und fängt an zu schwitzen. Gleich darauf liegt er schon auf der Erde und krümmt sich und kotzt und heult. Den Rest haben Sie ja gesehen. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Der Kerl aus Münster ist in der Aufregung durchgebrannt, ohne die Wette zu bezahlen. Und keiner kennt ihn, und wir haben uns auch in der Aufregung die Autonummer des Kerls nicht gemerkt.«

»Das ist natürlich grauenhaft«, sagt Georg.

»Wie man es nimmt. Schicksal möchte ich sagen.«

»Schicksal«, sage ich. »Wenn Sie etwas gegen Ihr Schicksal tun wollen, Herr Brüggemann, dann gehen Sie nicht über die Hakenstraße zurück. Die Witwe Konersmann kontrolliert dort den Verkehr mit einer starken Taschenlampe, die sie sich ausgeborgt hat, in der einen und einer Bierflasche als Waffe in der anderen Hand. Nicht wahr, Lisa?«

Lisa nickt lebhaft. »Es ist eine volle Bierflasche. Wenn sie an Ihrem Schädel zerspringt, haben Sie gleich etwas Kühlung.«

»Verdammt!« sagt Brüggemann. »Wie komme ich hier raus? Ist dies eine Sackgasse?«

»Zum Glück nein«, erwidere ich. »Sie können hinten herum durch die Gärten zur Bleibtreustraße entkommen. Ich rate Ihnen, bald aufzubrechen; es wird hell.«

Brüggemann entschwindet. Heinrich Kroll besichtigt den Obelisken auf Schäden und verschwindet ebenfalls.

»So ist der Mensch«, sagt Wilke etwas allgemein, nickt zu den Knopfschen Fenstern empor, zum Garten hinüber, durch den Brüggemann schleicht, und wandert die Treppe zu seiner Werkstatt wieder empor. Er scheint diese Nacht dort zu schlafen und nicht zu arbeiten.

»Haben Sie wieder eine spiritistische Blumen-Manifestation gehabt?« frage ich.

»Nein, aber ich habe Bücher darüber bestellt.«

Frau Kroll hat plötzlich bemerkt, daß sie ihre Zähne vergessen hat, und ist längst geflüchtet. Kurt Bach verschlingt Lisas nackte braune Schultern mit Kennerblicken, schiebt aber ab, als er keine Gegenliebe findet.

»Stirbt der Alte?« fragt Lisa.

»Wahrscheinlich«, erwidert Georg. »Es ist ein Wunder, daß er nicht schon lange tot ist.«

Der Arzt kommt aus dem Hause Knopf. »Was ist es?« fragt Georg.

»Die Leber. Er ist schon seit langem fällig. Ich glaube nicht, daß er es diesmal schafft. Alles kaputt. Ein, zwei Tage, dann wird es vorbei sein.«

Knopfs Frau erscheint. »Also keinen Tropfen Alkohol!« sagt der Arzt zu ihr. »Haben Sie sein Schlafzimmer kontrolliert?«

»Genau, Herr Doktor. Meine Töchter und ich. Wir haben noch zwei Flaschen von dem Teufelszeug gefunden. Hier!«

Sie holt die Flaschen, entkorkt sie und will sie auslaufen lassen.

»Halt«, sage ich. »Das ist nun nicht gerade nötig. Die Hauptsache ist, daß Knopf sie nicht kriegt, nicht wahr, Doktor?«

»Natürlich.«

Ein kräftiger Geruch nach gutem Korn verbreitet sich.

»Was soll ich denn damit im Hause machen?« klagt Frau Knopf. »Er findet sie überall. Er ist ein kolossaler Spürhund.«

»Die Sorge kann Ihnen abgenommen werden.«

Frau Knopf händigt dem Arzt und mir je eine Flasche aus. Der Arzt wirft mir einen Blick zu. »Was dem einen sein Verderben, ist dem andern seine Nachtigall«, sagt er und geht.

Frau Knopf schließt die Tür hinter sich. Nur noch Lisa, Georg und ich stehen draußen. »Der Arzt glaubt auch, daß er stirbt, was?« fragt Lisa.

Georg nickt. Sein purpurner Pyjama wirkt schwarz in der späten Nacht. Lisa fröstelt und bleibt stehen. »Servus«, sage ich und lasse sie allein.

Von oben sehe ich die Witwe Konersmann als Schatten vor ihrem Hause patrouillieren. Sie lauert immer noch auf Brüggemanu. Nach einer Weile höre ich, wie unten leise die Tür zugezogen wird. Ich starre in die Nacht und denke an Knopf und dann an Isabelle. Gerade als ich schläfrig werde, sehe ich die Witwe Konersmann die Straße kreuzen. Sie glaubt wahrscheinlich, daß Brüggemann sich versteckt habe, und leuchtet unsern Hof nach ihm ab. Vor mir am Fenster liegt immer noch das alte Regenrohr, mit dem ich Knopf einst erschreckt habe. Fast bereue ich es jetzt, aber dann erblicke ich den wandernden Lichtkreis auf dem Hof und kann nicht widerstehen. Vorsichtig beuge ich mich vor und hauche mit tiefer Stimme hinein:»Wer stört mich hier?« und füge einen Seufzer hinzu. Die Witwe Konersmann steht bocksteif. Dann zittert der Lichtkreis frenetisch über Hof und Denkmäler. »Gott sei auch deiner Seele gnädig -«, hauche ich. Ich hätte gern in Brüggemanns Tonart geredet, beherrsche mich aber – auf das, was ich bis jetzt gesagt habe, kann mich die Konersmann nicht verklagen, wenn sie rausfindet, was los ist.

Sie findet es nicht heraus. Sie schleicht an der Mauer entlang zur Straße und rast zu ihrer Haustür hinüber. Ich höre noch, daß sie einen Schluckauf bekommt, dann ist alles still.

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