Der Reisende Oskar Fuchs, genannt Tränen-Oskar, sitzt im Büro. »Was gibt es, Herr Fuchs?« frage ich. »Wie steht es mit der Grippe in den Dörfern?«
»Ziemlich harmlos. Die Bauern sind gut im Futter. In der Stadt ist es anders. Ich habe zwei Fälle, wo Hollmann und Klotz vor dem Abschluß stehen. Ein roter Granit, einseitig poliert, Hügelstein, zwei bossierte Sockel, ein Meter fünfzig hoch, zwei Millionen zweihunderttausend Mark – ein kleiner, einszehn hoch, eine Million dreihunderttausend Eier. Gute Preise. Wenn Sie hunderttausend weniger verlangen, haben Sie sie. Meine Provision ist zwanzig Prozent.«
»Fünfzehn«, erwidere ich automatisch.
»Zwanzig«, erklärt Tränen-Oskar. »Fünfzehn kriege ich bei Hollmann und Klotz auch. Wozu da der Verrat?«
Er lügt. Hollmann und Klotz, deren Reisender er ist, zahlen ihm zehn Prozent und Spesen. Die Spesen bekommt er ohnehin; er macht also bei uns ein Geschäft von zehn Prozent extra.
»Barzahlung?«
»Das müssen Sie selbst sehen. Die Leute sind gut situiert.«
»Herr Fuchs«, sage ich. »Warum kommen Sie nicht ganz zu uns? Wir zahlen besser als Hollmann und Klotz und können einen erstklassigen Reisenden brauchen.«
Fuchs zwinkert. »Es macht mir so mehr Spaß. Ich bin ein gefühlsmäßiger Mensch. Wenn ich mich über den alten Hollmann ärgere, schiebe ich Ihnen einen Abschluß zu, als Rache. Wenn ich ganz für Sie arbeitete, würde ich mich über Sie ärgern.«
»Da ist was dran«, sage ich.
»Das meine ich. Ich würde dann Sie an Hollmann und Klotz verraten. Reisen in Grabsteinen ist langweilig; man muß es etwas beleben.«
»Langweilig? Für Sie? Wo Sie doch jedesmal eine artistische Vorstellung geben?«
Fuchs lächelt wie Gaston Münch im Stadttheater, nachdem er den Karl-Heinz in »Alt-Heidelberg« gespielt hat.
»Man tut, was man kann«, erklärt er mit tobender Bescheidenheit.
»Sie sollen sich großartig entwickelt haben. Ohne Hilfsmittel. Rein intuitiv. Stimmt das?«
Oskar, der früher mit rohen Zwiebelscheiben gearbeitet hat, bevor er die Trauerhäuser betrat, behauptet jetzt, die Tränen frei wie ein großer Schauspieler erzeugen zu können. Das ist natürlich ein riesiger Fortschritt. Er braucht so nicht weinend das Haus zu betreten, wie bei der Zwiebeltechnik, wo dann, wenn das Geschäft länger dauert, die Tränen versiegen, weil er ja die Zwiebel nicht anwenden kann, solange die Trauernden dabeisitzen – im Gegenteil, er kann jetzt trockenen Auges hineingehen und während des Gespräches über den Abgeschiedenen in natürliche Tränen ausbrechen, was selbstverständlich von ganz anderer Wirkung ist. Es ist ein Unterschied wie zwischen echten und künstlichen Perlen. Oskar behauptet, so überzeugend zu sein, daß er sogar oft von den Hinterbliebenen getröstet und gelabt wird.
Georg Kroll kommt aus seiner Bude. Eine Fehlfarben-Havanna dampft unter seiner Nase, und er ist die Zufriedenheit selbst. Geradewegs geht er aufs Ziel los.
»Herr Fuchs«, sagt er. »Ist es wahr, daß Sie auf Befehl weinen können, oder ist das eine niederträchtige Schreckpropaganda unserer Konkurrenz?«
Statt einer Antwort starrt Oskar ihn an. »Nun?« fragt Georg. »Was ist? Fühlen Sie sich nicht gut?«
»Einen Augenblick! Ich muß erst in Stimmung kommen.« Oskar schließt die Augen. Als er die Lider wieder öffnet, wirken sie schon etwas wäßrig. Er starrt Georg weiter an, und nach einer Weile stehen ihm tatsächlich dicke Tränen in den blauen Augen. Noch eine Minute, und sie rollen ihm über die Wangen. Oskar zieht ein Taschentuch heraus und tupft sie auf. »Wie war das?« fragt er und zieht die Uhr. »Knappe zwei Minuten. Manchmal schaffe ich es in einer, wenn eine Leiche im Hause ist.«
»Großartig.«
Georg schenkt von dem Kundenkognak ein. »Sie sollten Schauspieler werden, Herr Fuchs.«
»Daran habe ich auch schon gedacht; aber es gibt zu wenige Rollen, in denen männliche Tränen verlangt werden. Othello natürlich, aber sonst -«
»Wie machen Sie es? Irgendein Trick?«
»Imagination«, erwidert Fuchs schlicht. »Starke, bildhafte Vorstellungskraft.«
»Was haben Sie sich denn jetzt vorgestellt?«
Oskar trinkt sein Glas aus. »Offen gestanden, Sie, Herr Kroll. Mit zersplitterten Beinen und Armen und einem Schwarm Ratten, der Ihnen langsam das Gesicht abfrißt, während Sie noch leben, wegen der gebrochenen Arme die Nager aber nicht abwehren können. Entschuldigen Sie, aber für eine so rasche Vorstellung brauchte ich ein sehr starkes Bild.«
Georg fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Es ist noch da. »Stellen Sie sich auch ähnliche Sachen von Hollmann und Klotz vor, wenn Sie für die arbeiten?« frage ich.
Fuchs schüttelt den Kopf. »Bei denen stelle ich mir vor, daß sie hundert Jahre alt werden und reich und gesund bleiben, bis sie an einem Herzschlag im Schlaf schmerzlos abfahren – dann strömen mir die Tränen nur so vor Wut.«
Georg zahlt ihm die Provisionen für die letzten beiden Verrätereien aus. »Ich habe neuerdings auch einen künstlichen Schluckauf entwickelt«, sagt Oskar. »Sehr wirksam. Beschleunigt den Abschluß. Die Leute fühlen sich schuldig, weil sie glauben, es sei eine Folge der Teilnahme.«
»Herr Fuchs, kommen Sie zu uns!« sage ich impulsiv. »Sie gehören in ein künstlerisch geleitetes Unternehmen, nicht zu kahlen Geldschindern.«
Tränen-Oskar lächelt gütig, schüttelt das Haupt und verabschiedet sich. »Ich kann nun mal nicht. Ohne etwas Verrat würde ich ja nichts sein als ein flennender Waschlappen. Der Verrat balanciert mich. Verstehen Sie?«
»Wir verstehen«, sagt Georg. »Von Bedauern zerrissen, aber wir respektieren Persönlichkeit über alles.«
Ich notiere die Adressen für die Hügelsteine auf ein Blatt und übergebe sie Heinrich Kroll, der im Hof seine Fahrradreifen aufpumpt. Er sieht die Zettel verächtlich an. Für ihn als alten Nibelungen ist Oskar ein gemeiner Lump, obschon er von ihm, ebenfalls als alter Nibelunge, nicht ungern profitiert. »Früher hatten wir so etwas nicht nötig«, erklärt er. »Gut, daß mein Vater das nicht mehr erlebt hat.«
»Ihr Vater wäre nach allem, was ich über diesen Pionier des Grabsteinwesens gehört habe, außer sich vor Freude gewesen, seinen Konkurrenten einen solchen Streich zu spielen«, erwidere ich. »Er war eine Kämpfernatur – nicht wie Sie auf dem Felde der Ehre, sondern in den Schützengräben rücksichtslosen Geschäftslebens. Kriegen wir übrigens bald die Restzahlung für das allseitig polierte Kreuzdenkmal, das Sie im April verkauft haben? Die zweihunderttausend, die noch fehlen? Wissen Sie, was die jetzt wert sind? Nicht einmal einen Sockel.«
Heinrich brummt etwas und steckt den Zettel ein. Ich gehe zurück, zufrieden, ihn etwas gedämpft zu haben. Vor dem Hause steht das Stück Dachröhre, das beim letzten Regen abgebrochen ist. Die Handwerker sind gerade fertig; sie haben das abgebrochene Stück erneuert. »Wie ist es mit der alten Röhre?« fragt der Meister. »Die können Sie doch nicht mehr brauchen. Sollen wir sie mitnehmen?«
»Klar«, sagt Georg.
Die Röhre steht an den Obelisken gelehnt, Knopfs Freiluft-Pissoir. Sie ist einige Meter lang und am Ende rechtwinklig gebogen. Ich habe plötzlich einen Einfall. »Lassen Sie sie hier stehen«, sage ich. »Wir brauchen sie noch.«
»Wofür?« fragt Georg.
»Für heute abend. Du wirst es sehen. Es wird eine interessante Vorstellung werden.«
Heinrich Kroll radelt davon. Georg und ich stehen vor der Tür und trinken ein Glas Bier, das Frau Kroll uns durch das Küchenfenster herausreicht. Es ist sehr heiß. Der Tischler Wilke schleicht vorbei. Er trägt ein paar Flaschen und wird in einem mit Hobelspänen ausgepolsterten Sarg seinen Mittagsschlaf halten. Schmetterlinge spielen um die Kreuzdenkmäler. Die bunte Katze der Familie Knopf ist trächtig. »Wie steht der Dollar?« frage ich. »Hast du telefoniert?«
»Fünfzehntausend Mark höher als heute morgen. Wenn es so weitergeht, können wir Riesenfelds Wechsel mit dem Wert eines kleinen Hügelsteins bezahlen.«
»Wunderbar. Schade, daß wir nichts davon behalten haben. Nimmt einem etwas vom nötigen Enthusiasmus, was?«
Georg lacht. »Auch vom Ernst des Geschäftes. Abgesehen von Heinrich natürlich. Was machst du heute abend?«
»Ich gehe nach oben; zu Wernicke. Da weiß man wenigstens nichts vom Ernst und von der Lächerlichkeit des Geschäftslebens. Dort oben geht es nur ums Dasein. Immer um das ganze Sein, um die volle Existenz, um das Leben und nichts als das Leben. Darunter gibt es nichts. Wenn man längere Zeit da lebte, würde einem unser läppisches Geschacher um Kleinigkeiten verrückt vorkommen.«
»Bravo«, erwidert Georg. »Für diesen Unsinn verdienst du ein zweites Glas eiskaltes Bier.« Er nimmt unsere Gläser und reicht sie ins Küchenfenster hinein. »Gnädige Frau, bitte noch einmal dasselbe.«
Frau Kroll streckt ihren grauen Kopf heraus. »Wollt ihr einen frischen Rollmops und eine Gurke dazu?«
»Unbedingt! Mit einem Stück Brot. Das kleine Dejeuner für jede Art von Weltschmerz«, erwidert Georg und reicht mir mein Glas. »Hast du welchen?«
»Ein anständiger Mensch in meinem Alter hat immer Weltschmerz«, erwidere ich fest. »Es ist das Recht der Jugend.«
»Ich dachte, man hätte dir die Jugend beim Militär gestohlen?«
»Stimmt. Ich bin immer noch auf der Suche nach ihr, finde sie aber nicht. Deshalb habe ich einen doppelten Weltschmerz. So wie ein amputierter Fuß doppelt schmerzt.«
Das Bier ist wunderbar kalt. Die Sonne brennt uns auf die Schädel, und auf einmal ist, trotz allen Weltschmerzes, wieder einer der Augenblicke da, wo man dem Dasein sehr dicht in die grüngoldenen Augen starrt. Ich trinke mein Bier andächtig aus. Alle meine Adern scheinen plötzlich ein Sonnenbad genommen zu haben. »Wir vergessen immer wieder, daß wir nur kurze Zeit diesen Planeten bewohnen«, sage ich. »Deshalb haben wir einen völlig irrigen Weltkomplex. Den von Menschen, die ewig leben. Hast du das schon gemerkt?«
»Und wie! Es ist der Kardinalfehler der Menschheit. An sich ganz vernünftige Leute lassen grauenhaften Verwandten auf diese Weise Millionen von Dollars zukommen, anstatt sie selbst zu verbrauchen.«
»Gut! Was würdest du tun, wenn du wüßtest, daß du morgen sterben müßtest?«
»Keine Ahnung.«
»Nein? Gut, ein Tag ist vielleicht eine zu kurze Zeit. Was würdest du tun, wenn du wüßtest, daß du in einer Woche dahin wärest?«
»Immer noch keine Ahnung.«
»Irgend was müßtest du doch tun! Wie wäre es, wenn du einen Monat Zeit hättest?«
»Ich würde wahrscheinlich so weiterleben wie jetzt«, sagt Georg. »Ich hätte sonst den ganzen Monat durch das elende Gefühl, mein Leben bisher falsch gelebt zu haben.«
»Du hättest einen Monat Zeit, es zu korrigieren.«
Georg schüttelt den Kopf. »Ich hätte einen Monat Zeit, es zu bereuen.«
»Du könntest unser Lager verkaufen an Hollmann und Klotz, nach Berlin fahren und einen Monat mit Schauspielern, Künstlern und eleganten Huren ein atemberaubendes Leben führen.«
»Der Zaster würde nicht für acht Tage reichen. Und die Damen würden nur Barmädchen sein. Außerdem lese ich lieber darüber. Phantasie enttäuscht nie. Aber wie ist es mit dir? Was würdest du machen, wenn du wüßtest, daß du in vier Wochen sterben würdest?«
»Ich?« sage ich betroffen.
»Ja, du.«
Ich blicke in die Runde. Da ist der Garten, grün und heiß, in allen Farben des Hochsommers, da segeln die Schwalben, da ist das endlose Blau des Himmels, und oben aus seinem Fenster glotzt der alte Knopf, der gerade aus seinem Rausch erwacht ist, in Hosenträgern und einem karierten Hemd auf uns herab. »Ich muß darüber nachdenken«, sage ich. »Sofort kann ich es nicht sagen. Es ist zuviel. Ich habe jetzt nur das Gefühl, daß ich explodieren würde, wenn ich es so wüßte, daß es mir als genug erschiene.«
»Denke nicht zu stark nach; sonst müssen wir dich zu Wernicke bringen. Aber nicht zum Orgelspielen.«
»Das ist es«, sage ich. »Wahrhaftig, das ist es! Wenn wir es ganz erkennen könnten, würden wir verrückt.«
»Noch ein Glas Bier?« fragt Frau Kroll durch das Küchenfenster. »Es ist auch Himbeerkompott da. Frisches.«
»Gerettet!« sage ich. »Sie haben mich soeben gerettet, gnädige Frau. Ich war wie ein Pfeil auf dem Wege zur Sonne und zu Wernicke. Gott sei Dank, alles ist noch da! Nichts ist verbrannt! Das süße Leben spielt noch mit Schmetterlingen und Fliegen um uns herum, es ist nicht in Asche zerstäubt, es ist da, es hat noch alle seine Gesetze, auch die, die wir ihm angelegt haben wie einem Vollblut ein Geschirr! Trotzdem, kein Himbeerkompott zu Bier, bitte! Dafür aber ein Stück fließenden Harzer Käse. Guten Morgen, Herr Knopf! Ein schöner Tag! Was halten Sie vom Leben?«
Knopf starrt mich an. Sein Gesicht ist grau, und unter seinen Augen hängen Säcke. Nach einer Weile winkt er verärgert ab und schließt sein Fenster. »Wolltest du nicht noch was von ihm?« fragt Georg.
»Ja, aber erst heute abend.«
Wir treten bei Eduard Knobloch ein. »Sieh da«, sage ich und bleibe stehen, als wäre ich gegen einen Baum gerannt. »So spielt das Leben scheinbar auch! Ich hätte es ahnen sollen!«
In der Weinabteilung sitzt Gerda an einem Tisch, auf dem ein Bukett Tigerlilien steht. Sie ist allein und hackt gerade auf ein Stück Rehrücken ein, das fast so groß ist wie der Tisch. »Was sagst du dazu?« frage ich Georg. »Riecht das nicht nach Verrat?«
»War etwas zu verraten?« fragt Georg zurück.
»Nein. Aber wie wäre es mit Vertrauensbruch?«
»War ein Vertrauen zu brechen?«
»Laß das, Sokrates!« erwidere ich. »Siehst du nicht, daß Eduards dicke Pfoten hier im Spiele sind?«
»Das sehe ich. Aber wer hat dich verraten? Eduard oder Gerda?«
»Gerda! Wer sonst? Der Mann hat nie etwas damit zu tun.«
»Die Frau auch nicht.«
»Wer denn?«
»Du. Wer sonst?«
»Gut«, sage ich. »Du hast leicht reden. Du wirst nicht betrogen. Du betrügst selbst.«
Georg nickt selbstgefällig. »Liebe ist eine Sache des Gefühls«, doziert er. »Keine der Moral. Gefühl aber kennt keinen Verrat. Es nimmt zu, schwindet oder wechselt – wo ist da Verrat? Es ist kein Kontrakt. Hast du Gerdas Ohren nicht mit deinem Schmerz um Erna vollgeheult?«
»Nur im Anfang. Sie war ja dabei, als der Krach in der Roten Mühle passierte.«
»Dann jammere jetzt nicht. Verzichte oder handle.«
Ein Tisch neben uns wird frei. Wir setzen uns. Der Kellner Freidank räumt ab. »Wo ist Herr Knobloch?« frage ich.
Freidank sieht sich um. »Ich weiß nicht – er war die ganze Zeit an dem Tisch mit der Dame drüben.«
»Einfach, was?« sage ich zu Georg. »Soweit wären wir. Ich bin ein natürliches Opfer der Inflation. Schon wieder. Erst Erna, jetzt Gerda. Bin ich ein geborener Hahnrei? Dir passiert so was nicht.«
»Kämpfe!« erwidert Georg. »Noch ist nichts verloren. Geh zu Gerda hinüber!«
»Womit soll ich kämpfen? Mit Grabsteinen? Eduard gibt ihr Rehrücken und widmet ihr Gedichte. Bei den Gedichten kennt sie den Unterschied in der Qualität nicht – beim Essen leider. Und ich Esel habe mir das selbst zuzuschreiben! Ich habe sie hierhergebracht und ihren Appetit geweckt. Buchstäblich!«
»Dann verzichte«, sagt Georg. »Wozu kämpfen? Um Gefühle kann man sowieso nicht kämpfen.«
»Nein? Weshalb rätst du mir dann vor einer Minute, ich solle es tun?«
»Weil heute Dienstag ist. Da kommt Eduard – in seinem Sonntagsgehrock und mit einer Rosenknospe im Knopfloch. Du bist erledigt.«
Eduard stutzt, als er uns sieht. Er schielt zu Gerda hinüber und begrüßt uns dann mit der Herablassung des Siegers.
»Herr Knobloch«, sagt Georg. »Ist Treue das Mark der Ehre, wie unser geliebter Feldmarschall es verkündet hat, oder nicht?«
»Es kommt darauf an«, erwidert Eduard vorsichtig. »Heute gibt es Königsberger Klops mit Tunke und Kartoffeln. Ein gutes Essen.«
»Darf der Soldat dem Kameraden in den Rücken fallen?« fragt Georg weiter. »Der Bruder dem Bruder? Der Poet dem Poeten?«
»Poeten greifen sich dauernd an. Sie leben davon.«
»Sie leben vom offenen Kampf; nicht vom Dolchstoß in den Magen«, erkläre ich.
Eduard schmunzelt breit. »Der Sieg dem Sieger, mein lieber Ludwig, catch as catch can. Jammere ich, wenn ihr mit Eßmarken kommt, die keine Nuß mehr wert sind?«
»Ja«, sage ich,»und wie!«
Eduard wird in diesem Augenblick beiseite geschoben. »Kinder, da seid ihr ja«, sagt Gerda herzlich. »Laßt uns zusammen essen! Ich habe gehofft, ihr würdet kommen!«
»Du sitzest in der Weinabteilung«, erwidere ich giftig. »Wir trinken Bier.«
»Ich trinke auch lieber Bier. Ich setze mich zu euch.«
»Erlaubst du, Eduard?« frage ich. »Catch as catch can?«
»Was hat Eduard da zu erlauben?« fragt Gerda. »Er freut sich doch, wenn ich mit seinen Freunden esse. Nicht wahr, Eduard?«
Die Schlange nennt ihn bereits beim Vornamen. Eduard stottert. »Natürlich, nichts dagegen, selbstverständlich, eine Freude -«
Er bietet ein schönes Bild, rot, wütend und verbissen lächelnd. »Eine hübsche Rosenknospe trägst du da«, sage ich. »Bist du auf Freiersfüßen? Oder ist das einfache Freude an der Natur?«
»Eduard hat ein sehr feines Gefühl für Schönheit«, erwidert Gerda.
»Das hat er«, bestätige ich. »Hattest du das gewöhnliche Mittagessen? Lieblose Königsberger Klopse in irgendeiner geschmacklosen deutschen Tunke?«
Gerda lacht. »Eduard, zeig, daß du ein Kavalier bist! Laß mich deine beiden Freunde zum Essen einladen! Sie behaupten dauernd, du wärest entsetzlich geizig. Laß uns ihnen das Gegenteil beweisen. Wir haben -«
»Königsberger Klops«, unterbricht Eduard sie. »Gut, laden wir sie zum Klops ein. Ich werde für einen extra guten sorgen.«
»Rehrücken«, sagt Gerda.
Eduard ähnelt einer defekten Dampfmaschine. »Das da sind keine Freunde«, erklärt er.
»Was?«
»Wir sind Blutsfreunde, wie Valentin«, sage ich. »Erinnerst du dich noch an unser letztes Gespräch im Dichterklub? Soll ich es laut wiederholen? In welcher Versform dichtest du jetzt?«
»Über was habt ihr gesprochen?« fragt Gerda.
»Über nichts«, erwidert Eduard rasch. »Die beiden hier sagen nie ein wahres Wort! Witzbolde, trostlose Witzbolde sind sie! Wissen nichts vom Ernst des Lebens.«
»Ich möchte wissen, wer außer Totengräbern und Sargtischlern mehr vom Ernst des Lebens weiß als wir«, sage ich.
»Ach ihr! Ihr wißt nur was von der Lächerlichkeit des Todes«, erklärt Gerda plötzlich aus heiterem Himmel. »Und deshalb versteht ihr nichts mehr vom Ernst des Lebens.«
Wir starren sie maßlos verblüfft an. Das ist bereits unverkennbar Eduards Stil! Ich fühle, daß ich auf verlorenem Boden kämpfe, gebe aber noch nicht auf.
»Von wem hast du das?« frage ich. »Du Sybille über den dunklen Teichen der Schwermut!«
Gerda lacht. »Für euch ist das Leben immer gleich beim Grabstein. So schnell geht das nicht für andere Menschen. Eduard zum Beispiel ist eine Nachtigall!«
Eduard blüht über seine fetten Backen. »Wie ist es also mit dem Rehrücken?« fragt Gerda ihn.
»Nun, schließlich, warum nicht?«
Eduard entschwindet. Ich sehe Gerda an. »Bravo!« sage ich. »Erstklassige Arbeit. Was sollen wir davon halten?«
»Mach nicht ein Gesicht wie ein Ehemann«, erwidert sie. »Freue dich einfach deines Lebens, fertig.«
»Was ist das Leben?«
»Das, was gerade passiert.«
»Bravo«, sagt Georg. »Und herzlichen Dank für die Einladung. Wir lieben Eduard wirklich sehr; er versteht uns nur nicht.«
»Liebst du ihn auch?« frage ich Gerda.
Sie lacht. »Wie kindisch er ist«, sagt sie zu Georg. »Können Sie ihm nicht ein bißchen die Augen darüber öffnen, daß nicht alles immer sein Eigentum ist? Besonders, wenn er selbst nichts dazu tut?«
»Ich versuche fortwährend, ihn aufzuklären«, erwidert Georg. »Er hat nur einen Haufen Hindernisse in sich, die er Ideale nennt. Wenn er erst einmal merkt, daß das euphemistischer Egoismus ist, wird er sich schon bessern.«
»Was ist euphemistischer Egoismus?«
»Jugendliche Wichtigtuerei.«
Gerda lacht derartig, daß der Tisch zittert. »Ich habe das nicht, ungern«, erklärt sie. »Aber ohne Abwechslung ermüdet es. Tatsachen sind nun einmal Tatsachen.«
Ich hüte mich zu fragen, ob Tatsachen wirklich Tatsachen seien. Gerda sitzt da, ehrlich und fest, und wartet mit aufgestemmtem Messer auf die zweite Portion Rehrücken. Ihr Gesicht ist runder als früher; sie hat schon zugenommen bei Eduards Kost und strahlt mich an und ist nicht im mindesten verlegen. Weshalb sollte sie auch? Was für Rechte habe ich tatsächlich schon an ihr? Und wer betrügt im Augenblick wen?»Es ist wahr«, sage ich. »Ich bin mit egoistischen Atavismen behangen wie ein Fels mit Moos. Mea culpa!«
»Recht, Schatz«, erwidert Gerda. »Genieße dein Leben und denke nur, wenn es nötig ist.«
»Wann ist es nötig?«
»Wenn du Geld verdienen mußt oder vorwärtskommen willst.«
»Bravo«, sagt Georg wieder. In diesem Augenblick erscheint der Rehrücken, und das Gespräch stockt. Eduard überwacht uns wie eine Bruthenne ihre Küken. Es ist das erstemal, daß er uns unser Essen gönnt. Er hat ein neues Lächeln, aus dem ich nicht klug werde. Es ist voll von feister Überlegenheit, und er steckt es Gerda ab und zu heimlich zu wie ein Verbrecher jemandem einen Kassiber im Gefängnis. Aber Gerda hat immer noch ihr altes, völlig offenes Lächeln, das sie unschuldig wie ein Kommunionkind mir zustrahlt, wenn Eduard wegsieht. Sie ist jünger als ich, aber ich habe das Gefühl, daß sie mindestens vierzig Jahre mehr Erfahrung hat. »Iß, Baby«, sagt sie.
Ich esse mit schlechtem Gewissen und starkem Mißtrauen, und der Rehbraten, eine Delikatesse ersten Ranges, schmeckt mir plötzlich nicht. »Noch ein Stückchen?« fragt Eduard mich. »Oder noch etwas Preiselbeersoße?«
Ich starre ihn an. Ich habe das Gefühl, als habe mein früherer Rekrutenunteroffizier mir vorgeschlagen, ihn zu küssen. Auch Georg ist alarmiert. Ich weiß, daß er nachher behaupten wird, der Grund für Eduards unglaubliche Freigebigkeit sei die Tatsache, daß Gerda mit ihm bereits geschlafen habe – aber das weiß ich dieses Mal besser. Rehrücken kriegt sie nur so lange, wie sie das noch nicht getan hat. Wenn er sie erst hat, gibt es nur noch Königsberger Klopse mit deutscher Tunke. Und ich habe keine Sorge, daß Gerda das nicht auch weiß.
Trotzdem beschließe ich, mit ihr nach dem Essen zusammen wegzugehen. Vertrauen ist zwar Vertrauen, aber Eduard hat zuviel verschiedene Liköre in der Bar.
Still und mit allen Sternen hängt die Nacht über der Stadt. Ich hocke am Fenster meines Zimmers und warte auf Knopf, für den ich die Regenröhre vorbereitet habe. Sie reicht gerade ins Fenster hinein und läuft von da über den Toreingang bis an das Knopfsche Haus. Dort macht das kurze Stück eine rechtwinklige Biegung zum Hof hin. Man kann aber die Röhre vom Hof aus nicht sehen.
Ich warte und lese die Zeitung. Der Dollar ist um weitere zehntausend Mark hinaufgeklettert. Gestern gab es nur einen Selbstmord, dafür aber zwei Streiks. Die Beamten haben nach langem Verhandeln endlich eine Lohnerhöhung erhalten, die inzwischen bereits so entwertet ist, daß sie jetzt kaum noch einen Liter Milch in der Woche dafür kaufen können. Nächste Woche wahrscheinlich nur noch eine Schachtel Streichhölzer. Die Arbeitslosenziffer ist um weitere hundertfünfzigtausend gestiegen. Unruhen mehren sich im ganzen Reich. Neue Rezepte für die Verwertung von Abfällen in der Küche werden angepriesen. Die Grippewelle steigt weiter. Die Erhöhung der Renten für die Alters- und Invalidenversicherung ist einem Komitee zum Studium überwiesen worden. Man erwartet in einigen Monaten einen Bericht darüber. Die Rentner und Invaliden versuchen sich in der Zwischenzeit durch Betteln oder durch Unterstützungen von Bekannten und Verwandten vor dem Verhungern zu schützen.
Draußen kommen leise Schritte heran. Ich luge vorsichtig aus dem Fenster. Es ist nicht Knopf; es ist ein Liebespaar, das auf Zehenspitzen durch den Hof in den Garten schleicht. Die Saison ist jetzt in vollem Gange, und die Not der Liebenden ist größer als je. Wilke hat recht: wohin sollen sie gehen, um ungestört zu sein? Wenn sie versuchen, in ihre möblierten Zimmer zu schleichen, liegt die Wirtin auf der Lauer, um sie im Namen der Moral und des Neides wie ein Engel mit dem Schwert auszutreiben – in öffentlichen Anlagen und Gärten werden sie von Polizisten angebrüllt und festgenommen – für Hotelzimmer haben sie kein Geld – wohin sollen sie also gehen? In unserem Hof sind sie ungestört. Die größeren Denkmäler bieten Schutz vor anderen Paaren; man wird nicht gesehen, und man kann sich an sie anlehnen und in ihrem Schatten flüstern und sich umarmen, und die großen Kreuzdenkmäler sind nach wie vor für die stürmisch Liebenden an feuchten Tagen da, wenn sie sich nicht am Boden lagern können; dann halten die Mädchen sich an ihnen fest und werden von ihren Bewerbern bedrängt, der Regen schlägt in ihre heißen Gesichter, der Nebel weht, ihr Atem fliegt stoßweise, und die Köpfe, deren Haar ihr Geliebter mit seinen Fäusten gepackt hat, sind hochgerissen wie die wiehernder Pferde. Die Schilder, die ich neulich angebracht habe, haben nichts genützt. Wer denkt schon an seine Zehen, wenn sein ganzes Dasein in Flammen steht?
Plötzlich höre ich Knopfs Schritte in der Gasse. Ich sehe auf die Uhr. Es ist halb drei; der Schleifer vieler Generationen unglücklicher Rekruten muß also schwer geladen haben. Ich drehe das Licht ab. Zielbewußt steuert Knopf sofort auf den schwarzen Obelisken zu. Ich nehme das Ende der Regenröhie, das in mein Fenster ragt, presse meinen Mund dicht an die Oeffnung und sage:»Knopf!«
Es klingt hohl am anderen Ende, im Rücken des Feldwebels, aus der Röhre, als käme es aus einem Grabe. Knopf blickt um sich; er weiß nicht, woher die Stimme kommt. »Knopf!« wiederhole ich. »Schwein! Schämst du dich nicht? Habe ich dich deshalb erschaffen, damit du säufst und Grabsteine anpißt, du Sau?«
Knopf fährt wieder herum. »Was?« lallt er. »Wer ist da?«
»Dreckfink!« sage ich, und es klingt geisterhaft und unheimlich. »Fragen stellst du auch noch? Hast du einen Vorgesetzten zu fragen? Steh stramm, wenn ich mit dir rede!«
Knopf starrt sein Haus an, von dem die Stimme kommt. Alle Fenster darin sind dunkel und geschlossen. Auch die Tür ist zu. Das Rohr auf der Mauer sieht er nicht. »Steh stramm, du pflichtvergessener Lump von einem Feldwebel!« sage ich. »Habe ich dir dafür Litzen am Kragen und einen langen Säbel verliehen, damit du Steine beschmutzest, die für den Gottesacker bestimmt sind?« Und schärfer, zischend, im Kommandoton:»Knochen zusammen, würdeloser Grabstein-Nässer!«
Das Kommando wirkt. Knopf steht stramm, die Hände an der Hosennaht. Der Mond spiegelt sich in seinen weit aufgerissenen Augen. »Knopf«, sage ich mit Gespensterstimme. »Du wirst zum Soldaten zweiter Klasse degradiert, wenn ich dich noch einmal erwische! Du Schandfleck auf der Ehre des deutschen Soldaten und des Vereins aktiver Feldwebel a. D.«
Knopf horcht, den Kopf etwas seitlich hochgereckt, wie ein mondsüchtiger Hund. »Der Kaiser?« flüstert er.
»Knöpfe deine Hose zu und verschwinde!« flüstere ich hohl zurück. »Und merke dir: Riskiere deine Sauerei noch einmal, und du wirst degradiert und kastriert! Kastriert auch! Und nun fort, du liederlicher Zivilist, marsch-marsch!«
Knopf stolpert benommen auf seine Haustür los. Gleich darauf bricht das Liebespaar wie zwei aufgescheuchte Rehe aus dem Garten und saust auf die Straße hinaus. Das hatte ich natürlich nicht gewollt.