Eine Frau in Trauerkleidung drückt sich durch das Tor und bleibt unschlüssig im Hofe stehen. Ich gehe hinaus. Eine Hügelsteinkundin, denke ich, und frage:»Möchten Sie unsere Ausstellung sehen?«
Sie nickt, sagt aber gleich darauf:»Nein, nein, das ist noch nicht nötig.«
»Sie können sich ruhig umsehen. Sie brauchen nichts zu kaufen. Wenn Sie wollen, lasse ich Sie auch allein.«
»Nein, nein! Es ist – ich wollte nur -«
Ich warte. Drängen hat in unserem Geschäft keinen Zweck. Nach einiger Zeit sagt die Frau:»Es ist für meinen Mann -«
Ich nicke und warte weiter. Dabei drehe ich mich gegen die Reihe der kleinen belgischen Hügelsteine. »Das hier sind sehr schöne Denkmäler«, sage ich schließlich.
»Ja, sicher, es ist nur -«
Sie stockt wieder und blickt mich fast flehentlich an. »Ich weiß nicht, ob es überhaupt erlaubt ist -« preßt sie schließlich hervor.
»Was? Einen Grabstein zu setzen? Wer kann das verbieten?«
»Das Grab ist nicht auf dem Kirchhof -«
Ich sehe sie überrascht an. »Der Pastor will nicht, daß mein Mann auf dem Kirchhof beerdigt wird«, sagt sie rasch und leise, mit abgewandtem Gesicht.
»Warum denn nicht?« frage ich erstaunt.
»Er hat – weil er Hand an sich gelegt hat«, stößt sie hervor. »Er hat sich das Leben genommen. Er hat es nicht mehr ausgehalten.«
Sie steht und starrt mich an. Sie ist noch erschrocken von dem, was sie gesagt hat. »Sie meinen, daß er deshalb nicht auf dem Kirchhof beerdigt werden darf?« frage ich.
»Ja. Nicht auf dem katholischen. Nicht in geweihter Erde.«
»Aber das ist doch Unsinn!« sage ich ärgerlich. »Er sollte in doppelt geweihter Erde begraben werden. Niemand nimmt sich ohne Not das Leben. Sind Sie ganz sicher, daß das stimmt?«
»Ja. Der Pastor hat es gesagt.«
»Pastoren reden viel, das ist ihr Geschäft. Wo sollte er denn sonst beerdigt werden?«
»Außerhalb des Friedhofs. Auf der anderen Seite der Mauer. Nicht auf der geweihten Seite. Oder im städtischen Friedhof. Aber das geht doch nicht! Da liegt doch alles durcheinander.«
»Der städtische Friedhof ist viel schöner als der katholische«, sage ich. »Und auf dem städtischen liegen auch Katholiken.«
Sie schüttelt den Kopf. »Das geht nicht. Er war fromm. Er muß -« Ihre Augen sind plötzlich voll Tränen. »Er hat es sicher nicht überlegt, daß er nicht in geweihter Erde liegen darf.«
»Er hat wahrscheinlich überhaupt nicht daran gedacht. Aber grämen Sie sich nicht wegen Ihres Pastors. Ich kenne Tausende von sehr frommen Katholiken, die nicht in geweihter Erde liegen.«
Sie wendet sich mir rasch zu. »Wo?«
»Auf den Schlachtfeldern in Rußland und Frankreich. Sie liegen da beieinander in Massengräbern, Katholiken, Juden und Protestanten, und ich glaube nicht, daß das Gott etwas ausmacht.«
»Das ist etwas anderes. Sie sind gefallen. Aber mein Mann -«
Sie weint jetzt offen. Tränen sind in unserm Geschäft etwas Selbstverständliches; aber diese sind anders als gewöhnlich. Dazu ist die Frau wie ein Bündelchen Stroh; man glaubt, der Wind könne sie wegwehen. »Wahrscheinlich hat er es im letzten Augenblick noch bereut«, sage ich, um etwas zu sagen. »Damit ist dann alles vergeben.«
Sie sieht mich an. Sie ist so hungrig für ein bißchen Trost!
»Meinen Sie das wirklich?«
»Bestimmt. Der Priester weiß das natürlich nicht. Das weiß nur Ihr Mann. Und der kann es nicht mehr sagen.«
»Der Pastor behauptet, die Todsünde -«
»Liebe Frau«, unterbreche ich sie. »Gott ist viel barmherziger als die Priester, das können Sie mir glauben.«
Ich weiß jetzt, was sie quält. Es ist nicht sosehr das ungeweihte Grab; es ist der Gedanke, daß ihr Mann als Selbstmörder für alle Ewigkeit in der Hölle brennen muß und daß er vielleicht gerettet werden und mit ein paar hunderttausend Jahren Fegefeuer davonkommen könnte, wenn er auf dem katholischen Friedhof beerdigt würde.
»Es war wegen des Geldes«, sagt sie. »Es war auf der Sparkasse für fünf Jahre mündelsicher angelegt, und er konnte es deshalb nicht abheben. Es war die Mitgift für meine Tochter aus erster Ehe. Er war der Vormund. Als er es dann vor zwei Wochen abholen konnte, war es nichts mehr wert, und der Bräutigam machte die Verlobung rückgängig. Er hatte erwartet, wir hätten Geld für eine gute Aussteuer. Vor zwei Jahren hätte es noch gereicht, aber jetzt ist es nichts mehr wert. Meine Tochter hat nur noch geweint. Das hat er nicht ausgehalten. Er glaubte, es wäre seine Schuld; er hätte besser aufpassen müssen. Aber es war doch mündelsicher festgelegt, wir konnten es nicht abheben. Die Zinsen waren so höher.«
»Wie hätte er denn besser aufpassen sollen? So etwas passiert heute unzähligen Menschen. Er war doch kein Bankier.«
»Nein, Buchhalter. Die Nachbarn -«
»Kümmern Sie sich doch nicht um das, was die Nachbarn sagen. Das ist immer bösartiger Klatsch. Und überlassen Sie alles andere nur Gott.«
Ich fühle, daß ich nicht sehr überzeugend bin; aber was soll man einer Frau in solchen Umständen schon sagen? Das, was ich wirklich denke, bestimmt nicht.
Sie trocknet ihre Augen. »Ich sollte Ihnen das gar nicht erzählen. Was geht es Sie an? Verzeihen Sie! Aber manchmal weiß man nicht, wohin -«
»Das macht nichts«, sage ich. »Wir sind das gewöhnt. Es kommen ja nur Leute hierher, die Angehörige verloren haben.«
»Ja – aber nicht so -«
»Doch«, erkläre ich. »Das passiert in dieser traurigen Zeit viel häufiger, als Sie denken. Sieben allein im letzten Monat. Es sind immer Menschen, die nicht mehr ein noch aus wissen. Anständige Menschen also. Die unanständigen kommen durch.«
Sie sieht mich an. »Glauben Sie, daß man einen Grabstein setzen darf, wenn er nicht in geweihter Erde liegt?«
»Wenn Sie die Erlaubnis für ein Grab haben, dürfen Sie es. Ganz bestimmt auf dem städtischen Friedhof. Wenn Sie wollen, können Sie schon einen Stein aussuchen, Sie brauchen ihn nur zu nehmen, wenn alles in Ordnung ist.«
Sie sieht sich um. Dann zeigt sie auf den drittkleinsten Hügelstein. »Was kostet so einer?«
Es ist immer dasselbe. Nie fragen die Armen sofort, was der kleinste kostet; es ist, als täten sie es nicht aus einer sonderbaren Höflichkeit vor dem Tode und dem Toten. Sie wollen nicht nach dem billigsten zuerst fragen; ob sie ihn dann später doch nehmen, ist eine andere Sache.
Ich kann ihr nicht helfen, aber das Stück Stein kostet hunderttausend Mark. Sie öffnet erschrocken die müden Augen. »Das können wir nicht bezahlen. Das ist ja viel mehr, als -«
Ich kann mir denken, daß es mehr ist als das, was von der Erbschaft übriggeblieben ist. »Nehmen Sie doch den kleinen hier«, sage ich. »Oder einfach eine Grabplatte, keinen Stein. Sehen Sie, hier ist eine – sie kostet dreißigtausend Mark und ist sehr schön. Sie wollen doch nur, daß man weiß, wo Ihr Mann liegt, und da ist eine Platte ebensogut wie ein Stein.«
Sie betrachtet die Sandsteinplatte. »Ja – aber -«
Sie hat wahrscheinlich kaum Geld für die nächste Miete, aber sie möchte trotzdem nicht das Billigste kaufen – als ob das dem armen Teufel jetzt nicht ganz egal wäre. Hätte sie statt dessen früher mehr Verständnis für ihn gehabt und weniger mit der Tochter gejammert, dann lebte er vielleicht noch. »Wir können die Inschrift vergolden«, sage ich. »Das sieht würdig und vornehm aus.«
»Kostet die Inschrift extra?«
»Nein. Sie ist im Preis inbegriffen.«
Es ist nicht wahr. Aber ich kann mir nicht helfen; sie ist so spatzenhaft in ihren schwarzen Kleidern. Wenn sie jetzt einen langen Bibelspruch will, bin ich in der Patsche; den auszuhauen würde mehr als die Platte kosten. Aber sie will nur den Namen und die Zahlen 1875-1923.
Sie zieht aus ihrer Tasche einen Haufen einstmals zerknitterter Scheine, die alle glattgestrichen und gebündelt worden sind. Ich hole tief Luft – Vorauszahlung! Das ist lange nicht mehr dagewesen. Ernsthaft zählt sie drei Päckchen Scheine ab. Sie behält fast nichts übrig. »Dreißigtausend. Wollen Sie es nachzählen?«
»Das brauche ich nicht. Es stimmt schon.«
Es muß stimmen. Sie hat es sicher oft genug gezählt. »Ich will Ihnen etwas sagen«, erkläre ich. »Wir geben Ihnen noch eine Grabeinfassung aus Zement dazu. Das sieht dann sehr ordentlich aus – abgegrenzt.«
Sie sieht mich ängstlich an. »Umsonst«, sage ich.
Der Schein eines kleinen, traurigen Lächelns huscht über ihr Gesicht.
»Das ist das erstemal, daß jemand freundlich zu mir ist, seit es passiert ist. Nicht einmal meine Tochter – sie sagt, die Schande -«
Sie wischt sich die Tränen ab. Ich bin sehr verlegen und komme mir vor wie der Schauspieler Gaston Münch als Graf Trast in der »Ehre« von Sudermann im Stadttheater. Um mir zu helfen, gieße ich mir, als sie gegangen ist, einen Schluck Korn ein. Dann erinnere ich mich, daß Georg immer noch nicht von seiner Besprechung mit Riesenfeld auf der Bank zurück ist, und ich werde mißtrauisch gegen mich selbst; vielleicht habe ich das mit der Frau nur getan, um Gott zu bestechen. Eine gute Tat gegen die andere – eine Grabeinfassung und eine Inschrift gegen ein Dreimonatsakzept Riesenfelds und eine fette Ladung Granit. Das frischt mich so auf, daß ich einen zweiten Schnaps trinke. Dann sehe ich draußen am Obelisken die Spuren des Feldwebels Knopf, hole einen Eimer Wasser, um sie wegzuschwemmen, und verfluche ihn laut. Knopf aber schläft in seiner Kammer den Schlaf des Gerechten.
»Nur sechs Wochen«, sage ich enttäuscht.
Georg lacht. »Ein Akzept auf sechs Wochen ist nicht zu verachten. Die Bank wollte nicht mehr geben. Wer weiß, wie hoch der Dollar dann schon steht! Dafür hat Riesenfeld versprochen, in vier Wochen wieder vorbeizukommen. Dann können wir einen neuen Abschluß machen.«
»Glaubst du das?«
Georg zuckt die Achseln. »Warum nicht? Vielleicht zieht Lisa ihn wieder her. Er schwärmte auf der Bank noch von ihr wie Petrarca von Laura.«
»Gut, daß er sie nicht bei Tage und aus der Nähe gesehen hat.«
»Das ist bei vielen Dingen gut.« Georg stutzt und sieht mich an. »Wieso bei Lisa? So schlecht sieht sie wahrhaftig nicht aus!«
»Sie hat morgens manchmal schon ganze nette Säcke unter den Augen. Und romantisch ist sie bestimmt nicht. Sie ist ein robuster Feger.«
»Romantisch!« Georg grinst verächtlich. »Was heißt das schon!
Es gibt viele Sorten von Romantik. Und Robustheit hat auch ihre Reize!«
Ich sehe ihn scharf an. Sollte er etwa selbst ein Auge auf Lisa geworfen haben? Er ist merkwürdig verschwiegen in seinen persönlichen Angelegenheiten. »Riesenfeld versteht unter Romantik bestimmt ein Abenteuer in der großen Welt«, sage ich. »Nicht eine Affäre mit der Frau eines Pferdemetzgers.«
Georg winkt ab. »Was ist der Unterschied? Die große Welt benimmt sich heute oft vulgärer als ein Pferdemetzger.«
Georg ist unser Fachmann für die große Welt. Er hält das Berliner Tageblatt und liest es hauptsächlich, um den Nachrichten über Kunst und Gesellschaft zu folgen. Er ist ausgezeichnet informiert. Keine Schauspielerin kann heiraten, ohne daß er es weiß; jede wichtige Scheidung in der Aristokratie ist mit Diamanten in sein Gedächtnis eingeritzt. Er verwechselt nichts, selbst nicht nach drei, vier Ehen; es ist, als führe er Buch darüber. Er kennt alle Theateraufführungen, liest die Kritiken, weiß über die Gesellschaft am Kurfürstendamm Bescheid, und nicht nur das: er verfolgt auch das internationale Leben, die großen Stars und die Königinnen der Gesellschaft – er liest Filmmagazine, und ein Bekannter in England schickt ihm manchmal den »Tatler« und ein paar andere elegante Zeitschriften. Das verklärt ihn dann für Tage. Er selbst ist nie in Berlin gewesen, und im Ausland nur als Soldat, im Kriege in Frankreich. Er haßt seinen Beruf, aber er mußte ihn nach dem Tode seines Vaters übernehmen; Heinrich war zu einfältig dafür. Die Zeitschriften und Bilder helfen ihm etwas über die Enttäuschungen hinweg; sie sind seine Schwäche und seine Erholung.
»Eine vulgäre Dame der großen Welt ist etwas für erlesene Kenner«, sage ich. »Nicht für Riesenfeld. Dieser gußeiserne Satan hat eine mimosenhafte Phantasie.«
»Riesenfeld!« Georg zieht eine geringschätzige Grimasse. Der Herrscher der Odenwaldwerke mit seiner oberflächlichen Lust auf französische Damen ist für ihn ein trostloser Emporkömmling. Was weiß dieser wildgewordene Kleinbürger schon über den deliziösen Skandal bei der Ehescheidung der Gräfin Homburg? Oder über die letzte Premiere der Elisabeth Bergner? Er kennt nicht einmal die Namen! Georg aber weiß den Gotha und das Künstler-Lexikon fast auswendig. »Wir müßten Lisa eigentlich einen Blumenstrauß schicken«, sagt er. »Sie hat uns geholfen, ohne daß sie es weiß.«
Ich sehe ihn wieder scharf an. »Das tu nur selber«, erwidere ich. »Sage mir lieber, ob Riesenfeld ein allseitig poliertes Kreuzdenkmal in die Bestellung hineingeschmissen hat.«
»Zwei. Das zweite verdanken wir Lisa. Ich habe ihm gesagt, wir würden es so aufstellen, daß sie es immer sehen könne. Ihm schien etwas daran zu liegen.«
»Wir können es hier im Büro ans Fenster stellen. Es wird morgens, wenn sie aufsteht, und wenn die Sonne es bescheint, einen starken Eindruck auf sie machen. Ich könnte Memento mori in Gold draufpinseln. Was gibt es heute bei Eduard?«
»Deutsches Beefsteak.«
»Gehacktes Fleisch also. Warum ist zerhacktes Fleisch deutsch?«
»Weil wir ein kriegerisches Volk sind und sogar im Frieden unsere Gesichter in Duellen zerhacken. Du riechst nach Schnaps. Warum? Doch nicht wegen Erna?«
»Nein. Weil wir alle sterben müssen. Mich erschüttert das manchmal noch, trotzdem ich es schon seit einiger Zeit weiß.«
»Das ist ehrenwert. Besonders in unserem Beruf. Weißt du, was ich möchte?«
»Natürlich. Du möchtest Matrose auf einem Walfischfänger sein; oder Koprahändler in Tahiti; oder Nordpolentdecker, Amazonasforscher, Einstein und Scheik Ibrahim mit einem Harem von Frauen zwanzig verschiedener Nationen, einschließlich der Zirkassierinnen, die so feurig sein sollen, daß man sie nur mit einer Asbestmaske umarmen kann.
»Das ist selbstverständlich. Aber außerdem möchte ich noch dumm sein; strahlend dumm. Das ist das größte Geschenk für unsere Zeit.«
»Dumm wie Parzival?«
»Weniger erlöserhaft. Gläubig, friedlich, gesund, bukolisch dumm.«
»Komm«, sage ich. »Du bist hungrig. Unser Fehler ist, daß wir weder wirklich dumm noch wirklich gescheit sind. Immer so dazwischen, wie Affen in den Ästen. Das macht müde und manchmal traurig. Der Mensch muß wissen, wohin er gehört.«
»Tatsächlich?«
»Nein«, erwidere ich. »Das macht ihn auch nur seßhaft und dick. Aber wie wäre es, wenn wir heute abend ins Konzert gingen, um für die Rote Mühle einen Ausgleich zu schaffen? Es wird Mozart gespielt.«
»Ich lege mich heute abend früh schlafen«, erklärt Georg. »Das ist mein Mozart. Geh allein hin. Stelle dich mutig und einsam dem Ansturm des Guten. Es ist nicht ohne Gefahr und richtet mehr Zerstörungen an als schlichte Bosheit.«
»Ja«, sage ich und denke an die spatzenhafte Frau vom Vormittag.
Es ist später Nachmittag. Ich lese die Familiennachrichten der Zeitungen und schneide die Todesanzeigen aus. Das gibt mir immer den Glauben an die Menschheit zurück – besonders nach Abenden, an denen wir unsere Lieferanten oder Agenten bewirten mußten. Wenn es nach den Todesanzeigen ginge, wäre der Mensch nämlich absolut vollkommen. Es gibt da nur perfekte Väter, makellose Ehemänner, vorbildliche Kinder, uneigennützige, sich aufopfernde Mütter, allerseits betrauerte Großeltern, Geschäftsleute, gegen die Franziskus von Assisi ein hemmungsloser Egoist gewesen sein muß, gütetriefende Generäle, menschliche Staatsanwälte, fast heilige Munitionsfabrikanten – kurz, die Erde scheint, wenn man den Todesanzeigen glaubt, von einer Horde Engel ohne Flügel bewohnt gewesen zu sein, von denen man nichts gewußt hat. Liebe, die im Leben wahrhaftig nur selten rein vorkommt, leuchtet im Tode von allen Seiten und ist das häufigste, was es gibt. Es wimmelt nur so von erstklassigen Tugenden, von treuer Sorge, von tiefer Frömmigkeit, von selbstloser Hingabe, und auch die Hinterbliebenen wissen, was sich gehört – sie sind von Kummer gebeugt, der Verlust ist unersetzlich, sie werden den Verstorbenen nie vergessen – es ist erhebend, das zu lesen, und man könnte stolz sein, zu einer Rasse zu gehören, die so noble Gefühle hat.
Ich schneide die Todesanzeige des Bäckermeisters Niebuhr aus. Er wird als gütiger, treubesorgter, geliebter Gatte und Vater geschildert. Ich selbst habe Frau Niebuhr mit aufgelösten Flechten aus dem Hause fliehen sehen, wenn der gütige Niebuhr mit seinem Hosenriemen hinter ihr her war und auf sie einschlug; und ich habe den Arm gesehen, den der treusorgende Vater seinem Sohne Roland gebrochen hat, als er ihn in einem Anfall von Jähzorn aus dem Fenster der Parterrewohnung warf. Es konnte der schmerzgebeugten Witwe gar nichts Besseres passieren, als daß dieser Wüterich endlich, vom Schlag getroffen, beim Backen der Morgenbrötchen und der Hefekuchen dahinsank; trotzdem aber glaubt sie das plötzlich nicht mehr. Alles, was Niebuhr angerichtet hat, ist durch den Tod weggewischt. Er ist ein Ideal geworden. Der Mensch, der immer ein erstaunliches Talent zur Selbsttäuschung und Lüge hat, läßt es bei Todesfällen besonders hell glänzen und nennt es Pietät. Das erstaunlichste aber ist, daß er das, was er dann behauptet, selbst bald so fest glaubt, als hätte er eine Ratte in einen Hut gesteckt und gleich darauf ein schneeweißes Kaninchen herausgezogen.
Frau Niebuhr hat diese magische Verwandlung durchgemacht, als man den backenden Lumpen, der sie täglich verhaute, die Treppe heraufschleppte. Anstatt auf die Knie zu fallen und Gott für die Befreiung zu danken, begann in ihr sofort die Verklärung durch den Tod. Weinend stürzte sie sich auf den Leichnam, und seitdem sind ihre Augen nicht trocken geworden. Ihrer Schwester, die sie an die vielen Prügel und an Rolands falsch geheilten Arm erinnerte, erklärte sie indigniert, das seien Kleinigkeiten, und die Hitze des Backofens sei schuld daran gewesen; Niebuhr, in seiner nie ermüdenden Sorge für die Familie, habe zuviel gearbeitet, und der Backofen habe bei ihm ab und zu wie ein Sonnenstich gewirkt. Damit wies sie ihrer Schwester die Tür und trauerte weiter. Sie ist sonst eine vernünftige, redliche und arbeitsame Frau, die weiß, was los ist, aber jetzt sieht sie Niebuhr auf einmal so, wie er niemals war, und glaubt es fest, und das ist es, was so bewundernswert daran ist. Der Mensch ist nämlich nicht nur ein ewiger Lügner, sondern auch ein ewiger Gläubiger; er glaubt an das Gute und Schöne und Vollkommene, selbst wenn es nicht vorhanden ist oder nur sehr rudimentär – und das ist der zweite Grund dafür, daß mich das Lesen der Todesanzeigen erbaut und zum Optimisten macht.
Ich lege die Anzeige Niebuhrs zu den sieben anderen, die ich herausgeschnitten habe. Montags und dienstags haben wir immer ein paar mehr als sonst. Das Wochenende tut das; es wird gefeiert, gegessen, getrunken, gestritten, sich aufgeregt – und das Herz, die Arterien und der Schädel halten es diesmal nicht mehr aus. Frau Niebuhrs Anzeige lege ich in das Fach für Heinrich Kroll. Es ist ein Fall für ihn. Er ist ein aufrechter Mann ohne Ironie und hat von der verklärenden Wirkung des Todes dieselbe Vorstellung wie sie, solange sie bei ihm einen Grabstein bestellt. Es wird ihm leichtfallen, von dem teuren, unvergeßlichen Dahingegangenen zu reden, zumal Niebuhr ein Stammtischbruder aus der Gastwirtschaft Blume war.
Meine Arbeit ist für heute beendet. Georg Kroll hat sich mit den neuen Nummern des Berliner Tageblattes und der »Eleganten Welt« in seine Koje neben dem Büro zurückgezogen. Ich könnte noch die Zeichnung eines Kriegerdenkmals mit bunter Kreide etwas weiter ausführen; aber dazu ist morgen auch noch Zeit. Ich schließe die Schreibmaschine und öffne das Fenster. Aus Lisas Wohnung tönt ein Grammophon. Sie erscheint, völlig angezogen diesmal, und schwenkt ein mächtiges Bukett roter Rosen aus dem Fenster. Dabei wirft sie mir eine Kußhand zu. Georg! denke ich. Also doch, dieser Schleicher! Ich deute auf sein Zimmer. Lisa lehnt sich aus dem Fenster und krächzt mit ihrer heiseren Stimme über die Straße:»Herzlichen Dank für die Blumen! Ihr Totenvögel seid doch Kavaliere!«
Sie zeigt ihr räuberisches Gebiß und schüttelt sich vor Lachen über ihren Witz. Dann holt sie einen Brief hervor. »Gnädigste«, krächzt sie. »Ein Bewunderer Ihrer Schönheit erlaubt sich, Ihnen diese Rosen zu Füßen zu legen.« Sie holt heulend Atem. »Und die Adresse! An die Circe der Hakenstraße 5. Was ist eine Circe?«
»Eine Frau, die Männer in Schweine verwandelt.«
Lisa bebt, sichtlich geschmeichelt. Das kleine alte Haus scheint mit zu beben. Das ist nicht Georg, denke ich. Er hat nicht völlig den Verstand verloren.
»Von wem ist der Brief?« frage ich.
»Alexander Riesenfeld«, krächzt Lisa. »Per Adresse Kroll & Söhne. Riesenfeld!« Sie schluchzt fast. »Ist das der Kleine, Miese, mit dem ihr in der Roten Mühle wart?«
»Er ist nicht klein und mies«, erwidere ich. »Er ist ein Sitzriese und sehr männlich. Außerdem ist er Billiardär!« Lisas Gesicht wird einen Augenblick nachdenklich. Dann winkt und grüßt sie noch einmal und verschwindet. Ich schließe das Fenster. Ohne Grund fällt mir plötzlich Erna ein. Ich beginne unbehaglich zu pfeifen und schlendere durch den Garten zum Schuppen hinüber, in dem der Bildhauer Kurt Bach arbeitet.
Er sitzt mit seiner Gitarre vor der Tür auf den Stufen. Hinter ihm schimmert der Sandsteinlöwe, den er für ein Kriegerdenkmal zurechthaut. Es ist die übliche sterbende Katze mit Zahnschmerzen.
»Kurt«, sage ich. »Wenn du auf der Stelle einen Wunsch erfüllt bekommen könntest, was würdest du dir wünschen?«
»Tausend Dollar«, erwidert er, ohne nachzudenken, und greift einen schmetternden Akkord auf seiner Gitarre.
»Pfui Teufel! Ich dachte, du wärest ein Idealist.«
»Ich bin ein Idealist. Deshalb wünsche ich mir ja tausend Dollar. Idealismus brauche ich mir nicht zu wünschen. Davon habe ich massenhaft selbst. Was mir fehlt, ist Geld.«
Dagegen ist nichts zu sagen. Es ist fehlerlose Logik. »Was würdest du mit dem Gelde machen?« frage ich, mit noch etwas Hoffnung.
»Ich würde mir einen Häuserblock kaufen und von den Mieten leben.«
»Schäm dich!« sage ich. »Das ist alles? Von den Mieten kannst du übrigens nicht leben, sie sind zu niedrig, und du darfst sie nicht steigern. Du könntest also nicht einmal die Reparaturen davon bezahlen und müßtest die Häuser bald wieder verkaufen.«
»Nicht die Häuser, die ich kaufen würde! Ich würde sie behalten, bis die Inflation vorbei ist. Dann bringen sie wieder richtige Mieten, und ich brauche nur zu kassieren.«
Bach greift einen neuen Akkord. »Häuser«, sagt er versonnen, als spräche er von Michelangelo. »Für hundert Dollar kannst du heute schon eines kaufen, das früher vierzigtausend Goldmark wert war. Was man da verdienen könnte! Warum habe ich keinen kinderlosen Onkel in Amerika?«
»Das ist jammervoll!« sage ich enttäuscht. »Du bist anscheinend über Nacht zu einem ekelhaften Materialisten herabgesunken. Hausbesitzer! Und wo bleibt deine unsterbliche Seele?«
»Hausbesitzer und Bildhauer.« Bach gibt eine Glissando-Passage zum besten. Über ihm hämmert der Tischler Wilke den Takt dazu. Er macht einen eiligen weißen Kindersarg zum Überstundentarif. »Dann brauche ich keine verdammten sterbenden Löwen und auffliegenden Adler mehr für euch zu machen! Keine Tiere! Nie wieder Tiere! Tiere soll man essen oder bewundern. Sonst nichts. Ich habe genug von Tieren. Besonders von heroischen.« Er beginnt den Jäger aus Kurpfalz zu spielen. Ich sehe, daß mit ihm heute abend kein anständiges Gespräch zu führen ist. Besonders nicht eines, bei dem man untreue Frauen vergißt. »Was ist der Sinn des Lebens?« frage ich noch im Gehen.
»Schlaf, Fraß und Beischlaf.«
Ich winke ab und wandere zurück. Unwillkürlich falle ich in Schritt mit dem Hämmern Wilkes; dann merke ich es und wechsle den Rhythmus.
Unter dem Torbogen steht Lisa. Sie hat die Rosen in der Hand. »Hier! Behalte das! Ich kann so was nicht brauchen.«
»Warum nicht? Hast du keinen Sinn für die Schönheit der Natur?«
»Gott sei Dank nicht. Ich bin keine Kuh. Riesenfeld!« Sie lacht mit ihrer Nachtklubstimme. »Sag dem Knaben, daß ich nicht jemand bin, dem man Blumen schenkt.«
»Was denn?«
»Schmuck«, erwidert Lisa. »Was sonst?«
»Keine Kleider?«
»Kleider erst, wenn man intimer ist.« Sie blitzt mich an. »Du siehst jämmerlich aus. Soll ich dich mal munter machen?«
»Danke«, erwidere ich. »Ich bin munter genug. Geh du nur allein zur Cocktailstunde in die Rote Mühle.«
»Ich meine nicht die Rote Mühle. Spielst du immer noch Orgel für die Idioten?«
»Ja«, sage ich überrascht. »Woher weißt du das?«
»Es spricht sich herum. Ich möchte mal mitgehen in die Klapsbude, weißt du.«
»Du kommst noch früh genug hin, ohne mich.«
»Na, wir werden mal sehen, wer von uns der erste ist«, erklärt Lisa lässig und legt die Blumen auf einen Hügelstein. »Hier, nimm das Gemüse! Ich kann es nicht im Hause haben. Mein Alter ist zu eifersüchtig.«
»Was?«
»Klar doch! Wie ein Rasiermesser! Und warum auch nicht?«
Ich weiß nicht, was an einem Rasiermesser eifersüchtig sein kann; aber das Bild überzeugt. »Wenn dein Mann eifersüchtig ist, wie kannst du dann abends dauernd verschwinden?« frage ich.
»Er schlachtet doch nachts. Das richte ich mir schon ein.«
»Und wenn er nicht schlachtet?«
»Dann habe ich eine Anstellung als Garderobiere in der Roten Mühle.«
»Tatsächlich?«
»Mann, bist du doof«, erwidert Lisa. »Wie mein Alter!«
»Und die Kleider und der Schmuck?«
»Alles billig und unecht.« Lisa grinst. »Glaubt jeder Ehemann glatt. Also hier, nimm das Grünzeug. Schick es an irgendein Milchkalb. Du siehst so aus, als ob du Blumen schicktest.«
»Da kennst du mich aber schlecht.«
Lisa wirft mir einen abgründigen Blick über ihre Schulter zu. Dann geht sie auf ihren schönen Beinen, die in schlampigen roten Pantoffeln stecken, über die Straße zurück. Einer der Pantoffeln ist mit einem Pompon geschmückt; beim andern ist er abgerissen.
Die Rosen leuchten durch die Dämmerung. Es ist ein erheblicher Strauß. Riesenfeld hat sich nicht lumpen lassen. Fünfzigtausend Mark, schätze ich, sehe mich vorsichtig um, nehme sie dann wie ein Dieb an mich und gehe auf mein Zimmer.
Oben steht der Abend in blauem Mantel am Fenster. Die Bude ist voll von Reflexen und Schatten, und plötzlich schlägt die Einsamkeit wie mit Keulen aus dem Hinterhalt auf mich ein. Ich weiß, daß es Unsinn ist, ich bin nicht einsamer als ein Ochse in einer Herde Ochsen, aber was soll ich machen? Einsamkeit hat nichts mit Mangel an Gesellschaft zu tun. Mir fällt plötzlich ein, daß ich gestern vielleicht doch zu hastig mit Erna gewesen sein könnte. Es wäre ja möglich gewesen, daß sich alles ganz harmlos aufgeklärt hätte. Sie war zudem eifersüchtig, das sprach aus jedem ihrer Worte. Und Eifersucht ist Liebe, das weiß jeder.
Ich starre aus dem Fenster und weiß, daß Eifersucht nicht Liebe ist. Aber was hat das damit zu tun? Die Dämmerung verdreht einem die Gedanken, und man soll mit Frauen nicht argumentieren, sagt Georg. Genau das aber habe ich getan! Voll Reue spüre ich den Duft der Rosen, der das Zimmer in den Venusberg aus dem Tannhäuser verwandelt. Ich merke, daß ich zerschmelze in All-Vergebung, All-Versöhnung und Hoffnung. Rasch schreibe ich ein paar Zeilen, klebe den Brief zu, ohne ihn noch einmal zu lesen, und gehe ins Büro, um dort das Seidenpapier zu holen, in dem die letzte Sendung von Porzellanengeln angekommen ist. Ich wickle die Rosen hinein und gehe auf die Suche nach Fritz Kroll, dem jüngsten Sproß der Firma. Er ist zwölf Jahre alt. »Fritz«, sage ich. »Willst du dir zwei Tausender verdienen?«
»Weiß schon«, erwidert Fritz. »Geben Sie her. Selbe Adresse?«»Ja.«
Er entschwindet mit den Rosen – der dritte klare Kopf heute abend. Alle wissen, was sie wollen, Kurt, Lisa, Fritz – nur ich habe keine Ahnung. Das mit Erna ist es auch nicht, das weiß ich im Moment, als ich Fritz nicht mehr zurückrufen kann. Aber was ist es? Wo sind die Altäre, wo die Götter und wo die Opfer? Ich beschließe, doch zum Mozart-Konzert zu gehen – auch wenn ich allein bin und die Musik es noch schlimmer macht.
Die Sterne stehen hoch am Himmel, als ich zurückkomme. Meine Schritte hallen durch die Gassen, und ich bin voll Erregung. Rasch öffne ich die Tür zum Büro, schalte das Licht an und bleibe stehen. Da liegen die Rosen, und da liegt auch mein Brief, ungeöffnet, und daneben ein Zettel mit einer Botschaft von Fritz. »Die Dame sagt, Sie sollten sich begraben lassen. Gruß, Fritz.«
Sich begraben lassen. Ein sinniger Scherz! Da stehe ich, blamiert bis auf die Knochen, voll Beschämung und Wut. Ich stecke den Zettel in den kalten Ofen. Dann setzte ich mich in meinen Stuhl und brüte vor mich hin. Meine Wut überwiegt die Beschämung, wie immer, wenn man wirklich beschämt ist, und weiß, daß man es sein sollte. Ich schreibe einen neuen Brief, nehme die Rosen und gehe zur Roten Mühle. »Geben Sie dieses doch bitte Fräulein Gerda Schneider«, sage ich zu dem Portier. »Der Akrobatin.«
Der reichbetreßte Mann sieht mich an, als hätte ich ihm einen unsittlichen Antrag gemacht. Dann deutet er mit dem Dauern hoheitsvoll über die Schulter. »Suchen Sie sich einen Pagen dafür!«
Ich finde einen Pagen und instruiere ihn. »Überreichen Sie den Strauß bei der Vorstellung.«
Er verspricht es. Hoffentlich ist Erna da und sieht es, denke ich. Dann wandere ich eine Zeitlang durch die Stadt, bis ich müde bin, und gehe nach Hause.
Ein melodisches Plätschern empfängt mich. Knopf steht gerade wieder vor dem Obelisken und läßt sich gehen. Ich schweige; ich will nicht mehr diskutieren. Ich nehme einen Eimer, fülle ihn mit Wasser und gieße ihn Knopf vor die Füße. Der Feldwebel glotzt darauf. »Überschwemmung«, murmelt er. »Wußte gar nicht, daß es geregnet hat.« Und wankt ins Haus.