XVI

So eine Überraschung!« sage ich. »Und das am frühen Sonntagmorgen!«

Ich habe geglaubt, einen Räuber in der Dämmerung herumrumoren zu hören; aber als ich herunterkomme, sitzt da, um fünf Uhr früh, Riesenfeld von den Odenwälder Granitwerken. »Sie müssen sich geirrt haben«, erkläre ich. »Heute ist der Tag des Herrn. Da arbeitet selbst die Börse nicht. Noch weniger wir schlichten Gottesleugner. Wo brennt es? Brauchen Sie Geld für die Rote Mühle?«

Riesenfeld schüttelt den Kopf. »Einfacher Freundschaftsbesuch. Habe einen Tag zwischen Löhne und Hannover. Bin gerade angekommen. Wozu jetzt noch ins Hotel gehen? Kaffee gibt es ja bei Ihnen auch. Was macht die scharmante Dame von drüben? Steht sie früh auf?«

»Aha!« sage ich. »Die Brunst hat Sie also hergetrieben! Gratuliere zu soviel Jugend. Aber Sie haben Pech. Sonntags ist der Ehemann zu Hause. Ein Athlet und Messerwerfer.«

»Ich bin Weltchampion im Messerwerfen«, erwidert Riesenfeld ungerührt. »Besonders, wenn ich zum Kaffee etwas Bauernspeck und einen Korn gehabt habe.«

»Kommen Sie mit nach oben. Meine Bude sieht zwar noch wüst aus, aber ich kann Ihnen dort Kaffee machen. Wenn Sie wollen, können Sie auch Klavier spielen, bis das Wasser kocht.«

Riesenfeld wehrt ab. »Ich bleibe hier. Die Mischung von Hochsommer, Morgenfrühe und Denkmälern gefällt mir. Macht hungrig und lebenslustig. Außerdem steht hier der Schnaps.«

»Ich habe viel besseren oben.«

»Mir genügt dieser.«

»Gut, Herr Riesenfeld, wie Sie wollen!«

»Was schreien Sie so?« fragt Riesenfeld. »Ich bin inzwischen nicht taub geworden.«

»Es ist die Freude, Sie zu sehen, Herr Riesenfeld«, erwidere ich noch lauter und lache scheppernd.

Ich kann ihm nicht gut erklären, daß ich hoffe, Georg mit meinem Geschrei zu wecken und ihn darüber zu orientieren, was los ist. Soviel ich weiß, ist der Schlächter Watzek gestern abend zu irgendeiner Tagung der Nationalsozialisten gefahren, und Lisa hat die Gelegenheit benutzt, herüberzukommen, um einmal durchzuschlafen im Arm ihres Geliebten. Riesenfeld sitzt, ohne daß er es weiß, als Wächter vor der Tür zum Schlafzimmer. Lisa kann nur noch durchs Fenster raus.

»Gut, dann hole ich den Kaffee herunter«, sage ich, laufe die Treppe hinauf, nehme die »Kritik der reinen Vernunft«, schlinge einen Bindfaden darum, lasse sie aus meinem Fenster heraus und pendele damit vor Georgs Fenster. Inzwischen schreibe ich mit Buntstift auf ein Blatt die Warnung:»Riesenfeld im Büro«, mache ein Loch in den Zettel und lasse ihn über den Bindfaden auf den Band Kant hinunterflattern. Kant klopft ein paarmal, dann sehe ich von oben Georgs kahlen Kopf. Er macht mir Zeichen. Wir vollführen eine kurze Pantomime. Ich mache ihm mit den Händen klar, daß ich Riesenfeld nicht loswerden kann. Rauswerfen kann ich ihn nicht; dazu ist er zu wichtig für unser tägliches Brot.

Ich ziehe die »Kritik der reinen Vernunft« wieder hoch und lasse meine Flasche Schnaps hinab. Ein schöner, gerundeter Arm greift danach, bevor Georg sie fassen kann, und zieht sie hinein. Wer weiß, wann Riesenfeld verschwindet? Die Liebenden sind inzwischen dem scharfen Morgenhunger nach durchwachter Nacht ausgesetzt. Ich lasse deshalb meine Butter, mein Brot und ein Stück Leberwurst hinunter. Der Bindfaden kommt, mit Lippenstift rot am Ende verschmiert, wieder hoch. Ich höre den seufzenden Laut, mit dem der Kork die Flasche freigibt. Romeo und Julia sind für den Augenblick gerettet.


Als ich Riesenfeld seinen Kaffee präsentiere, sehe ich Heinrich Kroll über den Hof kommen. Der nationale Geschäftsmann hat neben seinen übrigen verwerflichen Eigenschaften auch noch die, früh aufzustehen. Er nennt das: die Brust Gottes freier Natur darzubieten. Unter »Gott« versteht er selbstverständlich nicht ein gütiges Fabelwesen mit einem langen Bart, sondern einen preußischen Feldmarschall.

Bieder schüttelt er Riesenfeld die Hand. Riesenfeld ist nicht übermäßig erfreut. »Lassen Sie sich durch mich von nichts abhalten«, erklärt er. »Ich trinke hier nur meinen Kaffee und döse dann ein bißchen, bis es Zeit für mich wird.«

»Aber das wäre doch! Ein so seltener und lieber Gast!« Heinrich wendet sich mir zu. »Haben wir denn keine frischen Brötchen für Herrn Riesenfeld?«

»Da müssen Sie die Witwe des Bäckers Niebuhr oder Ihre Mutter fragen«, erwidere ich. »Anscheinend wird in der Republik sonntags nicht gebacken. Eine unerhörte Schlamperei! Im kaiserlichen Deutschland war das anders.«

Heinrich schießt mir einen bösen Blick zu. »Wo ist Georg?« fragt er kurz.

»Ich bin nicht der Hüter Ihres Bruders, Herr Kroll«, antworte ich bibelfest und laut, um Georg über die neue Gefahr zu informieren.

»Nein, aber Sie sind Angestellter meiner Firma! Ich ersuche Sie, entsprechend zu antworten.«

»Es ist Sonntag. Sonntags bin ich kein Angestellter. Ich bin heute nur freiwillig, aus überschäumender Liebe zu meinem Beruf und aus freundschaftlicher Verehrung für den Beherrscher des Odenwälder Granits, so früh heruntergekommen. Unrasiert, wie Sie vielleicht bemerken, Herr Kroll.«

»Da sehen Sie es«, sagt Heinrich bitter zu Riesenfeld. »Dadurch haben wir den Krieg verloren. Durch die Schlamperei der Intellektuellen und durch die Juden.«

»Und die Radfahrer«, ergänzt Riesenfeld.

»Wieso die Radfahrer?« fragt Heinrich erstaunt.

»Wieso die Juden?« fragt Riesenfeld zurück.

Heinrich stutzt. »Ach so«, sagt er dann lustlos. »Ein Witz. Ich werde Georg wecken.«

»Ich würde das nicht tun«, erkläre ich laut.

»Geben Sie mir gefälligst keine Ratschläge!«

Heinrich nähert sich der Tür. Ich halte ihn nicht ab. Georg müßte taub sein, wenn er inzwischen nicht abgeschlossen hätte. »Lassen Sie ihn schlafen«, sagt Riesenfeld. »Ich habe keine Lust auf große Unterhaltungen so früh.«

Heinrich hält inne. »Warum machen Sie nicht einen Spaziergang durch Gottes freie Natur mit Herrn Riesenfeld?« frage ich. »Wenn Sie dann zurückkommen, ist der Haushalt aufgewacht, Speck und Eier brodeln in der Pfanne, Brötchen sind extra für Sie gebacken worden, ein Bukett frisch gepflückter Gladiolen ziert die düsteren Paraphernalien des Todes, und Georg ist da, rasiert und nach Kölnisch Wasser duftend.«

»Gott soll mich schützen«, murmelt Riesenfeld. »Ich bleibe hier und schlafe.«

Ich zucke ratlos die Achseln. Ich kriege ihn nicht aus der Bude. »Meinetwegen«, sage ich. »Dann gehe ich inzwischen Gott loben.«

Riesenfeld gähnt. »Ich wußte nicht, daß die Religion hier in so hohem Ansehen steht. Sie werfen ja mit Gott herum wie mit Kieselsteinen.«

»Das ist das Elend! Wir sind alle zu intim mit ihm geworden. Gott war immer der Duzbruder aller Kaiser, Generäle und Politiker. Dabei sollten wir uns fürchten, seinen Namen zu nennen. Aber ich gehe nicht beten, nur Orgel spielen. Kommen Sie mit!«

Riesenfeld winkt ab. Ich kann jetzt nichts weiter mehr tun. Georg muß sich selber helfen. Ich kann nur noch gehen – vielleicht gehen die andern beiden dann auch. Um Heinrich habe ich keine Sorge; Riesenfeld wird ihn schon loswerden.


Die Stadt ist taufrisch. Ich habe noch über zwei Stunden Zeit bis zur Messe. Langsam gehe ich durch die Straßen. Es ist ein ungewohntes Erlebnis. Der Wind ist milde und so sanft, als wäre der Dollar gestern um zweihundertfünfzigtausend Mark gefallen und nicht gestiegen. Eine Zeitlang starre ich in den friedlichen Fluß; dann in das Schaufenster der Firma Bock und Söhne, die Senf produziert und ihn in Miniaturfäßchen ausstellt.

Ein Schlag auf die Schulter weckt mich auf. Hinter mir steht mit verquollenen Augen ein langer, dünner Mann. Es ist die Brunnenpest Herbert Scherz. Ich blicke ihn mißvergnügt an. »Guten Morgen oder guten Abend?« frage ich. »Sind Sie vor oder nach dem Schlaf?«

Herbert stößt geräuschvoll auf. Eine scharfe Wolke treibt mir fast die Tränen in die Augen. »Gut; also noch vor dem Schlaf«, sage ich. »Schämen Sie sich nicht? Was war der Grund? Scherz, Ernst, Ironie oder einfache Verzweiflung?«

»Ein Stiftungsfest«, sagt Herbert.

Ich mache ungern Witze mit Namen; aber Herbert tut man damit einen Gefallen. »Scherz beiseite!« sage ich.

»Stiftungsfest«, wiederholt Herbert selbstgefällig. »Mein Einstand als neues Mitglied in einem Verein. Mußte den Vorstand freihalten.« Er sieht mich eine Weile an und stößt dann triumphierend hervor:»Schützenverein Alte Kameraden! Verstehen Sie?«

Ich verstehe. Herbert Scherz ist ein Vereinssammler. Andere Leute sammeln Briefmarken oder Kriegsandenken – Herbert sammelt Vereine. Er ist bereits Mitglied in über einem Dutzend – nicht weil er soviel Unterhaltung braucht, sondern weil er ein leidenschaftlicher Anhänger des Todes und des dabei gezeigten Pomps ist. Er hat sich darauf kapriziert, einmal das pompöseste Begräbnis der Stadt haben zu wollen. Da er nicht genügend Geld dafür hinterlassen kann und niemand sonst es bezahlen würde, ist er auf die Idee gekommen, allen möglichen Vereinen beizutreten. Er weiß, daß Vereine beim Tode eines Mitglieds einen Kranz mit Schleife stiften, und das ist sein erstes Ziel. Außerdem aber geht immer auch eine Abordnung mit der Vereinsfahne hinter dem Sarge her, und darauf vertraut er ebenfalls. Er hat ausgerechnet, daß er jetzt schon durch seine Mitgliedschaft mit zwei Wagen Kränzen rechnen kann, und das ist noch lange nicht das Ende. Er ist knapp sechzig und hat noch eine schöne Zeit vor sich, anderen Vereinen beizutreten. Selbstverständlich ist er in Bodo Ledderhoses Gesangverein, ohne je eine Note gesungen zu haben. Eivist dort sympathisierendes, inaktives Mitglied, ebenso wie im Schachklub Springerheil, im Kegelklub Alle Neune und im Aquarienklub und Terrarienverein Pterophyllum scalare. In den Aquarienklub habe ich ihn hineingebracht, weil ich glaubte, er würde dafür im voraus sein Denkmal bei uns bestellen. Er hat es nicht getan. Jetzt also hat er es geschafft, auch in einen Schützenverein zu kommen.

»Waren Sie denn je Soldat?« frage ich.

»Wozu? Ich bin Mitglied, das genügt. Ein Hauptschlag, was? Wenn Schwarzkopf das erfährt, wird er sich krümmen vor Wut.«

Schwarzkopf ist Herberts Konkurrent. Er hat vor zwei Jahren von Herberts Leidenschaft erfahren und aus Witz erklärt, ihm Konkurrenz machen zu wollen. Scherz hatte das damals so ernst genommen, daß Schwarzkopf voll Vergnügen tatsächlich ein paar Vereinen beitrat, um Herberts Reaktion zu beobachten. Mit der Zeit aber geriet er in sein eigenes Netz, er fand Freude an dem Gedanken, und jetzt ist er selbst ein Sammler geworden – nicht ganz so offen wie Scherz, aber heimlich und von hinten herum, eine Schmutz-Konkurrenz, die Scherz viel Sorge macht.

»Schwarzkopf krümmt sich nicht so leicht«, sage ich, um Herbert zu reizen.

»Er muß! Es ist diesmal nicht nur der Kranz und die Vereinsfahne – es sind auch die Vereinsbrüder in Uniform -«

»Uniformen sind verboten«, sage ich milde. »Wir haben den Krieg verloren, Herr Scherz, haben Sie das übersehen? Sie hätten in einen Polizistenverein eintreten sollen; da sind Uniformen noch erlaubt.«

Ich sehe, daß Scherz die Polizistenidee im Geiste notiert, und werde nicht überrascht sein, wenn er in ein paar Monaten im Schupoklub »Zur treuen Handfessel« als stilles Mitglied erscheinen wird. Im Augenblick lehnt er erst einmal meine Zweifel ab. »Bis ich sterbe, ist Uniformtragen längst wieder erlaubt! Wo blieben sonst die vaterländischen Belange? Man kann uns nicht für immer versklaven!«

Ich sehe in das verschwollene Gesicht mit den geplatzten Äderchen. Sonderbar, wie verschieden die Ideen über Sklaverei sind! Ich finde, ich kam ihr am nächsten als Rekrut in Uniform. »Außerdem«, sage ich,»wird man beim Tode eines Zivilisten zweifellos nicht in Wichs mit Säbeln, Helm und Präservativ antreten. So was ist nur für aktive Militärhengste.«

»Für mich auch! Es ist mir diese Nacht ausdrücklich zugesagt worden! Vom Präsidenten persönlich!«

»Zugesagt! Was wird einem im Suff nicht alles zugesagt!«

Herbert scheint mich nicht gehört zu haben. »Nicht allein das«, flüstert er in dämonischem Triumph. »Dazu kommt noch das Größte: die Ehrensalve über dem Grab!«

Ich lache in sein übernächtigtes Gesicht. »Eine Salve? Womit? Mit Selters Wasserflaschen? Waffen sind auch verboten in unserem geliebten Vaterlande! Versailler Vertrag, Herr Scherz. Die Ehrensalve ist ein Wunschtraum, den Sie begraben können!«

Aber Herbert ist nicht zu erschüttern. Er schüttelt schlau den Kopf. »Haben Sie eine Ahnung! Wir haben längst wieder eine geheime Armee! Schwarze Reichswehr.« Er kichert. »Ich kriege meine Salve! In ein paar Jahren haben wir sowieso alles wieder. Allgemeine Wehrpflicht und Armee. Wie sollten wir sonst leben?«

Der Wind bringt einen würzigen Senfgeruch um die Ecke, und der Fluß wirft plötzlich Silber von unten über die Straße. Die Sonne ist aufgegangen. Scherz niest. »Schwarzkopf ist endgültig geschlagen«, sagt er selbstzufrieden.

»Der Präsident hat mir versprochen, daß er nie in den Verein reingelassen wird.«

»Er kann in einen Verein ehemaliger schwerer Artillerie eintreten«, erwidere ich. »Dann wird über seinem Grab mit Kanonen geschossen.«

Scherz zuckt einen Moment nervös mit dem rechten Auge. Dann winkt er ab. »Das sind Witze. Es gibt nur den einen Schützenverein in der Stadt. Nein, Schwarzkopf ist fertig. Ich komme morgen einmal bei Ihnen vorbei, Denkmäler ansehen. Irgendwann muß ich mich ja doch mal entscheiden.«

Er entscheidet sich schon, seit ich im Geschäft bin. Das hat ihm den Namen Brunnenpest eingetragen. Er ist eine ewige Frau Niebuhr und wandert von uns zu Hollmann und Klotz und von da weiter zu Steinmeyer und läßt sich überall alles zeigen und handelt für Stunden und kauft trotzdem nichts. Wir sind solche Typen gewöhnt; es gibt immer wieder Leute, meistens Frauen, die eine sonderbare Lust dabei empfinden, zu Lebzeiten ihren Sarg, ihr Sterbehemd, ihre Grabstätte und ihr Denkmal zu bestellen – aber Herbert hat es darin zur Weltmeisterschaft gebracht. Seine Grabstelle hat er endlich vor sechs Monaten gekauft. Sie ist sandig, hochgelegen, trocken und hat eine schöne Aussicht. Herbert wird langsamer und etwas ordentlicher darin verwesen als in den niedriger gelegenen, feuchten Teilen des Friedhofs, und er ist stolz darauf. Jeden Sonntagnachmittag verbringt er dort mit einer Thermosflasche Kaffee, einem Klappsessel und einem Paket Streuselkuchen genießerische Stunden und beobachtet, wie der Efeu wächst. Den Denkmalsauftrag aber läßt er immer noch vor den Mäulern der Grabsteinfirmen pendeln wie ein Reiter die Karotte vor der Schnauze seines Esels. Wir galoppieren, aber wir erwischen sie nie. Herbert kann sich nicht entscheiden. Er hat immer Angst, irgendeine fabelhafte Neuerung zu verpassen, wie elektrische Klingeln zum Sarg, Telefon oder so was.

Ich sehe ihn voll Abneigung an. Er hat mir die Kanonen rasch heimgezahlt. »Haben Sie irgend etwas Neues hereingekriegt?« fragt er herablassend.

»Nichts, was Sie interessieren könnte – abgesehen von – aber das ist ja bereits so gut wie verkauft«, erwidere ich mit der plötzlichen Hellsicht der Rache und des jäh aufflammenden Geschäftssinnes.

Herbert beißt an. »Was?«

»Nichts für Sie. Etwas ganz Großartiges. Und auch so gut wie verkauft.«-»Was?«

»Ein Mausoleum. Ein sehr bedeutendes Kunstobjekt. Schwarzkopf ist äußerst interessiert -«

Scherz lacht. »Haben Sie keinen älteren Verkaufstrick auf Lager?«

»Nein. Nicht bei einem solchen Stück. Es ist eine Art Post-mortem-Klubhaus. Schwarzkopf denkt daran, am Todestage jährlich eine kleine intime Feier darin testamentarisch festzulegen. Das ist dann, als hätte er jedes Jahr eine neue Beerdigung. Der Raum des Mausoleums ist stimmungsvoll dafür, mit Bänken und bunten Scheiben. Man kann auch kleine Erfrischungen nach jeder Feier reichen. Schwer zu übertreffen, was? Eine ewige Gedenkfeier, während kein Mensch die alten Gräber mehr ansieht!«

Scherz lacht weiter, aber gedankenvoller. Ich lasse ihn lachen. Die Sonne wirft gewichtsloses, bleiches Silber vom Fluß zwischen uns. Scherz hört auf. »So, ein solches Mausoleum haben Sie?« sagt er, bereits mit der leichten Sorge des echten Sammlers, der fürchtet, ihm könnte eine große Gelegenheit entgehen.

»Vergessen Sie es! Es ist so gut wie verkauft an Schwarzkopf. Sehen wir lieber die Enten auf dem Fluß an! Was für Farben!«

»Ich mag keine Enten. Schmecken zu muffig. Na, ich komme mal, mir Ihr Mausoleum anzuschauen.«

»Beeilen Sie sich nicht. Sehen Sie es sich lieber an, wie es in natürlicher Umgebung wirkt – wenn Schwarzkopf es aufgestellt hat.«

Scherz lacht wieder, aber ziemlich hohl jetzt. Ich lache auch. Keiner glaubt dem anderen; aber jeder hat einen Haken geschluckt. Er Schwarzkopf, und ich, daß ich ihn vielleicht diesmal doch erwischen werde.

Ich gehe weiter. Aus dem Altstädter Hof kommt der Geruch von Tabak und abgestandenem Bier. Ich wandere durch das Tor in den Hinterhof der Kneipe. Dort bietet sich ein Bild des Friedens. Die Schnapsleichen vom Samstagabend liegen da in der frühen Sonne. Fliegen summen in den röchelnden Atemzügen der Kirsch-, Steinhäger- und Korntrinker herum, als wären es aromatische Passatwinde von den Gewürzinseln; Spinnen steigen aus dem Laub des wilden Weins auf ihren Seilen über den Gesichtern auf und ab wie Trapez-Akrobaten, und im Schnurrbart eines Zigeuners turnt ein Käfer, als wäre es ein Bambushain. Da ist es, denke ich, wenigstens im Schlaf, das verlorene Paradies, die große Verbrüderung!

Ich blicke zu Gerdas Fenster hinauf. Das Fenster steht offen.

»Hilfe!« sagt plötzlich eine der Gestalten auf dem Boden. Sie sagt es ruhig, leise und resigniert – sie schreit nicht, und gerade das trifft mich wie der Ätherschlag eines Strahlenwesens. Es ist ein gewichtsloser Schlag auf die Brust, der durch die Brust geht wie Röntgenlicht, der aber dann den Atem trifft, daß er sich staut. Hilfe! denke ich. Was rufen wir anders, hörbar, unhörbar, immerfort?


Die Messe ist vorbei. Die Oberin übergibt mir mein Honorar. Es lohnt sich nicht, es einzustecken; aber ich kann es nicht zurückweisen, das würde sie kränken. »Ich habe Ihnen eine Flasche Wein zum Frühstück geschickt«, sagt sie. »Wir haben nichts anderes, um es Ihnen zu geben. Aber wir beten für Sie.«

»Danke«, erwidere ich. »Aber wie kommen Sie an diese ausgezeichneten Weine? Die kosten doch auch Geld.«

Die Oberin lächelt über ihr zerknittertes Elfenbeingesicht, das die blutlose Haut hat, die Klosterinsassen, Zuchthäusler, Kranke und Bergwerksarbeiter haben. »Wir bekommen sie geschenkt. Es gibt einen frommen Weinhändler in der Stadt. Seine Frau war lange hier. Er schickt uns seitdem jedes Jahr ein paar Kisten.«

Ich frage nicht, warum er sie schickt. Ich erinnere mich daran, daß der Streiter Gottes, Bodendiek, auch nach der Messe sein Frühstück ißt, und ich gehe rasch los, um noch etwas zu retten.

Die Flasche ist natürlich schon halb leer. Auch Wernicke ist da; aber er trinkt nur Kaffee. »Die Flasche, aus der Sie sich soeben so freigebig einschenken, Hochwürden«, sage ich zu Bodendiek,»ist von der Oberin für mich privat als Gehaltszulage heraufgeschickt worden.«

»Das weiß ich«, erwidert der Vikar. »Aber sind Sie nicht der Apostel der Toleranz, Sie munterer Atheist? Gönnen Sie Ihren Freunden also nur ruhig einen Tropfen. Eine ganze Flasche zum Frühstück wäre für Sie höchst ungesund.«

Ich antworte nicht. Der Kirchenmann hält das für Schwäche und holt sofort zur Attacke aus. »Was macht die Lebensangst?« fragt er und nimmt einen herzhaften Schluck.

»Was?«

»Die Lebensangst, die Ihnen aus allen Knochen dampft, wie -«

»Wie Ektoplasma«, wirft Wernicke hilfreich ein.

»Wie Schweiß«, sagt Bodendiek, der dem Arzt nicht traut.

»Wenn ich Lebensangst hätte, wäre ich gläubiger Katholik«, erkläre ich und ziehe die Flasche an mich.

»Unsinn! Wenn Sie gläubiger Katholik wären, hätten Sie keine Lebensangst.«

»Das ist kirchenväterliche Haarspalterei.«

Bodendiek lacht. »Was wissen denn Sie schon von der exquisiten Geistigkeit unserer Kirchenväter, Sie junger Barbar?«

»Genug, um aufzuhören bei dem jahrelangen Streit, den die Väter darüber hatten, ob Adam und Eva einen Nabel gehabt hätten oder nicht.«

Wernicke grinst. Bodendiek macht ein angewidertes Gesicht. »Billigste Unwissenheit und platter Materialismus, traut verbündet wie immer«, sagt er in die Richtung von Wernicke und mir.

»Sie sollten nicht mit der Wissenschaft auf einem so hohen Roß sitzen«, erwidere ich. »Was würden Sie machen, wenn Sie einen hochentzündeten Blinddarm hätten, und weit und breit wäre nur ein einziger, erstklassiger, aber atheistischer Arzt zur Hilfe da? Beten oder sich von einem Heiden operieren lassen?«

»Beides, Sie Anfänger in der Dialektik – es würde dem heidnischen Arzt eine Gelegenheit geben, sich Verdienst vor Gott zu erwerben.«

»Sie sollten sich überhaupt nicht von einem Arzt behandeln lassen«, sage ich. »Wenn es Gottes Wille wäre, so müßten Sie eben sterben, aber nicht versuchen, das zu korrigieren.«

Bodendiek winkt ab. »Jetzt kommt bald die Sache mit dem freien Willen und der Allmacht Gottes. Findige Untersekundaner glauben damit die gesamte Kirchenlehre zu widerlegen.« Er erhebt sich wohlwollend. Sein Schädel leuchtet von Gesundheit. Wernicke und ich sehen schmächtig gegen diesen Glaubensprotz aus. »Gegesegnete Mahlzeit!« sagt er. »Ich muß noch zu meinen anderen Pfarrkindern.«

Niemand antwortet auf das Wort »andere«. Er rauscht ab. »Haben Sie schon beobachtet, daß Priester und Generäle meistens steinalt werden?« frage ich Wernicke.

»Der Zahn des Zweifels und der Sorge nagt nicht an ihnen. Sie sind viel in frischer Luft, sind auf Lebenszeit angestellt und brauchen nicht zu denken. Der eine hat den Katechismus, der andere das Exerzierreglement. Außerdem genießen beide größtes Ansehen. Der eine ist hoffähig bei Gott, der andere beim Kaiser.«

Wernicke zündet sich eine Zigarette an. »Haben Sie auch bemerkt, wie vorteilhaft der Vikar kämpft?« frage ich.

»Wir müssen seinen Glauben respektieren – er unsern Unglauben nicht.«

Wernicke bläst den Rauch in meine Richtung. »Er macht Sie ärgerlich – Sie ihn nicht.«

»Das ist es!« sage ich. »Das macht mich ja so ärgerlich!«

»Er weiß es. Das macht ihn so sicher.«

Ich schenke mir den Rest des Weines ein. Kaum anderthalb Glas – das andere hat der Streiter Gottes getrunken – einen Forster Jesuitengarten 1915 – Wein, den man nur abends mit einer Frau trinken sollte. »Und Sie?« frage ich.

»Mich geht das alles nichts an«, sagt Wernicke. »Ich bin eine Art Verkehrspolizist des Seelenlebens. Ich versuche es an dieser Kreuzung hier etwas zu dirigieren – aber ich bin nicht für den Verkehr verantwortlich.«

»Ich fühle mich immerfort für alles in der Welt verantwortlich. Bin ich eigentlich ein Psychopath?«

Wernicke bricht in ein beleidigendes Gelächter aus. »Das möchten Sie wohl! So einfach ist das nicht! Sie sind völlig uninteressant. Ein ganz normaler Durchschnittsadoleszent!«

Ich komme auf die Große Straße. Langsam schiebt sich ein Demonstrationszug vom Markt her heran. Wie Möwen vor einer dunklen Wolke flattern hastig noch eine Anzahl hellgekleideter Sonntagsausflügler mit Kindern, Eßpaketen, Fahrrädern und buntem Krimskrams vor ihm her – dann ist er da und versperrt die Straße.

Es ist ein Zug von Kriegskrüppeln, die gegen ihre niedrigen Renten protestieren. Voran fährt auf einem kleinen Rollwagen der Stumpf eines Körpers mit einem Kopf. Arme und Beine fehlen. Es ist nicht mehr möglich, zu sehen, ob der Stumpf früher ein großer oder ein kleiner Mann gewesen ist. Selbst an den Schultern kann man es nicht mehr abschätzen, da die Arme so hoch amputiert worden sind, daß kein Platz für Prothesen mehr da war. Der Kopf ist rund, der Mann hat lebhafte braune Augen und trägt einen Schnurrbart. Jemand muß jeden Tag auf ihn achtgeben – er ist rasiert, das Haar ist geschnitten und der Schnurrbart gestutzt. Der kleine Wagen, der eigentlich nur ein Brett mit Rollen ist, wird von einem Einarmigen gezogen. Der Amputierte sitzt sehr gerade und aufmerksam darauf. Ihm folgen die Wagen mit den Beinamputierten; je drei nebeneinander. Es sind Wagen mit großen Gummirädern, die mit den Händen vorwärtsbewegt werden. Die Lederschürzen, die die Stellen zudecken, wo Beine sein müßten, und die gewöhnlich geschlossen sind, sind heute offen. Man sieht die Stümpfe. Die Hosen sind sorgfältig darumgefaltet.

Als nächste kommen Amputierte mit Krücken. Es sind die sonderbar schiefen Silhouetten, die man so oft gesehen hat – die geraden Krücken und dazwischen der etwas schräghängende Körper. Dann folgen Blinde und Einäugige. Man hört die weißen Stäbe auf das Pflaster tappen und sieht an den Armen die gelben Binden mit den drei Punkten. Die Augenlosen sind dadurch so bezeichnet, wie man die geschlossenen Einfahrten von Einbahnstraßen oder Sackgassen markiert – mit den drei schwarzen runden Bällen des verbotenen Verkehrs. Viele der Verletzten tragen Schilder mit Aufschriften. Auch die Blinden tragen welche, wenn sie sie auch nie mehr lesen können. »Ist das der Dank des Vaterlandes?« steht auf einem. »Wir verhungern«, auf einem anderen.

Dem Mann auf dem kleinen Wagen hat man einen Stock mit einem Zettel vorn in seine Jacke gesteckt. Darauf steht:»Meine Monatsrente ist eine Goldmark wert.« Zwischen zwei anderen Wagen flattert eine weiße Fahne:»Unsere Kinder haben keine Milch, kein Fleisch, keine Butter. Haben wir dafür gekämpft?«

Es sind die traurigsten Opfer der Inflation. Ihre Renten sind so entwertet, daß sie kaum noch etwas damit anfangen können. Ab und zu werden ihre Bezüge von der Regierung erhöht – viel zu spät, denn am Tage der Erhöhung sind sie schon wieder um ein Vielfaches zu niedrig. Der Dollar ist zu wild geworden; er springt jetzt nicht mehr um Tausende und Zehntausende, sondern um Hunderttausende täglich. Vorgestern stand er auf einer Million zweihunderttausend – gestern auf einer Million vierhunderttausend. Morgen erwartet man ihn auf zwei Millionen – und am Ende des Monats auf zehn. Die Arbeiter bekommen jetzt zweimal am Tage Geld – morgens und nachmittags -, und jedesmal eine halbe Stunde Pause, damit sie losrennen und einkaufen können; denn wenn sie bis nachmittags damit warten, haben sie schon soviel verloren, daß ihre Kinder nicht halb mehr satt werden. Satt – nicht gut genährt. Satt mit allem, was man in den Magen stopfen kann – nicht mit dem, was der Körper braucht.

Der Zug ist viel langsamer als alle anderen Demonstrationszüge. Hinter ihm stauen sich die Autos der Sonntagsausflügler. Es ist ein sonderbarer Kontrast – die graue, fast anonyme Masse der schweigend sich dahinschleppenden Kriegsopfer, und dahinter die zurückgestauten Autos der Kriegsgewinnler, murrend, fauchend, ungeduldig, dicht auf den Fersen der Kriegerwitwen, die mit ihren Kindern den Schluß des Zuges bilden, dünn, verhungert, verhärmt und ängstlich. In den Autos prangen die Farben des Sommers, Leinen, Seide, volle Wangen, runde Arme und Gesichter, die verlegen sind, weil sie in diese unangenehme Situation geraten sind. Die Fußgänger auf den Trottoirs sind besser dran; sie schauen einfach weg und zerren ihre Kinder mit, die stehenbleiben und die Verstümmelten erklärt haben wollen. Wer kann, verschwindet durch die Seitenstraßen.

Die Sonne steht hoch, es ist heiß, und die Verwundeten fangen an zu schwitzen. Es ist der ungesunde käsige Schweiß der Blutarmen, der ihnen über die Gesichter rinnt. Hinter ihnen plärrt plötzlich eine Hupe. Jemand hat es nicht ausgehalten; er glaubt, er müsse einige Minuten sparen, und versucht deshalb, halb auf dem Trottoir vorbeizufahren. Alle Verwundeten drehen sich um. Keiner sagt etwas, aber sie ziehen sich auseinander und sperren die Straße. Das Auto müßte sie überfahren, wenn es passieren wollte. Ein junger Mann in einem hellen Anzug, mit einem Strohhut, sitzt mit einem Mädchen darin. Er macht ein paar albernverlegene Gesten und zündet sich eine Zigarette an. Jeder der Verletzten, der an ihm vorbeikommt, sieht ihn an. Nicht aus Vorwurf – er sieht nach der Zigarette, deren würziger Duft über die Straße treibt. Es ist eine sehr gute Zigarette, und keiner der Verwundeten kann sich oft erlauben, überhaupt noch zu rauchen. Deshalb schnuppern sie wenigstens, soviel sie können.

Ich folge dem Zug bis zur Marienkirche. Dort stehen zwei Nationalsozialisten in Uniform mit einem großen Schild:»Kommt zu uns, Kameraden! Adolf Hitler wird Euch helfen!« Der Zug zieht um die Kirche herum.


Wir sitzen in der Roten Mühle. Eine Flasche Champagner steht vor uns. Sie kostet zwei Millionen Mark – soviel wie ein Beinamputierter mit Familie in zwei Monaten an Rente erhält. Riesenfeld hat sie bestellt.

Er sitzt so, daß er die Tanzfläche voll übersehen kann.

»Ich wußte es von Anfang an«, erklärt er mir. »Wollte nur mal sehen, wie ihr mich anschwindeln würdet. Aristokratinnen wohnen nicht gegenüber von kleinen Grabsteingeschäften und nicht in solchen Häusern!«

»Das ist ein erstaunlicher Trugschluß für einen Weltmann wie Sie«, erwidere ich. »Sie sollten wissen, daß Aristokraten fast nur noch so wohnen. Die Inflation hat dafür gesorgt. Es ist aus mit den Palästen, Herr Riesenfeld. Und wenn jemand noch einen hat, vermietet er Zimmer darin. Das ererbte Geld ist dahingeschwunden. Königliche Hoheiten wohnen in möblierten Zimmern, säbelrasselnde Obersten sind zähneknirschend Versicherungsagenten geworden, Gräfinnen -«

»Genug!« unterbricht mich Riesenfeld. »Mir kommen die Tränen! Weitere Aufklärungen sind unnötig. Aber die Sache mit Frau Watzek habe ich immer gewußt. Es hat mich nur amüsiert, euch bei euren plumpen Schwindelversuchen zuzusehen.«

Er schaut hinter Lisa her, die mit Georg einen Foxtrott tanzt. Ich vermeide es, den Odenwald-Casanova daran zu erinnern, daß er Lisa als Französin mit dem Gang eines vollschlanken Panthers klassifiziert hat – es würde den sofortigen Abbruch unserer Beziehungen bedeuten, und wir brauchen dringend Granit.

»Übrigens tut das dem Ganzen keinen Abbruch«, erklärt Riesenfeld versöhnlich. »Ist im Gegenteil noch höher anzusetzen! Diese Rasse, ganz aus dem Volke! Sehen Sie nur, wie sie tanzt! Wie ein – ein -«

»Ein vollschlanker Panther«, half ich aus.

Riesenfeld schielt mich an. »Manchmal verstehen Sie ein bißchen von Frauen«, knurrt er.

»Gelernt – von Ihnen!«

Er prostet mir zu, ahnungslos geschmeichelt. »Ich möchte gern eines von Ihnen wissen«, sage ich. »Ich habe das Gefühl, daß Sie zu Hause im Odenwald ein erstklassiger, ruhiger Bürger und Familienvater sind – Sie haben uns ja vorhin die Fotos Ihrer drei Kinder und Ihres rosenumblühten Hauses gezeigt, zu dessen Mauern Sie aus Prinzip kein Stück Granit verwendet haben, was ich, als verkrachter Poet, Ihnen hoch anrechne -, warum verwandeln Sie sich dann draußen in einen solchen König der Nachtklubs?«

»Um zu Hause mit um so mehr Genuß Bürger und Familienvater zu sein«, erwidert Riesenfeld prompt.

»Das ist ein guter Grund. Aber warum erst der Umweg?«

Riesenfeld grinst. »Es ist mein Dämon. Die doppelte Natur des Menschen. Nie davon gehört, was?«

»Ich nicht? Ich bin eines der Musterbeispiele dafür.«

Riesenfeld lacht beleidigend, ungefähr wie Wernicke morgens. »Sie?«

»Es gibt so etwas auch auf einer etwas geistigeren Ebene«, erkläre ich.

Riesenfeld nimmt einen Schluck und seufzt. »Wirklichkeit und Phantasie! Die ewige Jagd, der ewige Zwiespalt! Oder -« fügt er, sich wiederfindend, mit Ironie hinzu»- in Ihrem Falle, als dem eines Poeten, natürlich Sehnsucht und Erfüllung, Gott und Fleisch, Kosmos und Lokus -«

Zum Glück setzen die Trompeten wieder ein. Georg kommt mit Lisa von der Tanzfläche zurück. Lisa ist eine Vision in aprikosenfarbenem Crêpe de Chine. Riesenfeld hat, nachdem er über ihren plebejischen Hintergrund aufgeklärt worden ist, als Sühne verlangt, daß wir alle als seine Gäste mit ihm zur Roten Mühle gehen müssen. Er verbeugt sich jetzt vor Lisa. »Einen Tango, gnädige Frau. Würden Sie -«

Lisa ist einen Kopf größer als Riesenfeld, und wir erwarten eine interessante Vorstellung. Aber zu unserm Erstaunen erweist sich der Granitkaiser als hervorragender Tangomeister. Er beherrscht nicht nur den argentinischen, sondern auch den brasilianischen und anscheinend auch noch ein paar andere Varianten. Wie ein Kunstschlittschuhläufer pirouettiert er mit der fassungslosen Lisa auf dem Parkett umher. »Wie fühlst du dich?« frage ich Georg. »Nimm es nicht zu schwer. Mammon gegen Gefühl! Ich habe vor ein paar Tagen auch eine Anzahl Lehren darüber bekommen. Sogar von dir, pikanterweise. Wie ist Lisa heute morgen aus deiner Bude entwichen?«

»Es war schwer. Riesenfeld wollte das Büro als Beobachtungsposten übernehmen. Er wollte ihr Fenster beobachten. Ich dachte, ich könnte ihn verscheuchen, wenn ich ihm enthüllte, wer Lisa ist. Es nützte nichts. Er trug es wie ein Mann. Es gelang mir schließlich, ihn für ein paar Minuten in die Küche zum Kaffee zu schleppen. Das war der Moment für Lisa. Als Riesenfeld wieder ins Büro auf Ausguck ging, lächelte sie huldvoll aus ihrem eigenen Fenster.«

»In dem Kimono mit den Störchen?«

»In einem mit Windmühlen.«

Ich sehe ihn an. Er nickt. »Eingetauscht gegen einen kleinen Hügelstein. Es war notwendig. Immerhin, Riesenfeld, unter Verbeugungen, rief ihr über dis Straße die Einladung für heute abend hinüber.«

»Das hätte er nicht gewagt, als sie noch „de la Tour“ hieß.«

»Er tat es mit Respekt. Lisa akzeptierte. Sie dachte, es würde uns geschäftlich helfen.«

»Und das glaubst du?«

»Ja«, erwidert Georg fröhlich.

Riesenfeld und Lisa kommen von der Tanzfläche zurück. Riesenfeld schwitzt. Lisa ist kühl wie eine Klosterlilie. Zu meinem ungeheuren Erstaunen sehe ich plötzlich im Hintergrund der Bar zwischen den Luftballons eine neue Gestalt erscheinen. Es ist Otto Bambuss. Er steht etwas verloren im Gewühl und paßt ungefähr so hierher, wie Bodendiek passen würde. Dann taucht neben ihm der rote Schädel Willys auf, und ich höre von irgendwoher die Kommandostimme Renée de la Tours:»Bodmer, Sie können rühren!«

Ich erwache. »Otto«, sage ich zu Bambuss,»was hat denn dich hierher verschlagen?«

»Ich«, antwortet Willy. »Ich will etwas für die deutsche Literatur tun. Otto muß bald in sein Dorf zurück. Da hat er dann Zeit, Gedichte über die sündige Welt zu drechseln. Vorläufig aber soll er sie noch sehen.«

Otto lächelt sanft. Seine kurzsichtigen Augen zwinkern. Leichter Schweiß steht auf seiner Stirn. Willy läßt sich mit Renée und ihm am Nebentisch nieder. Zwischen Lisa und Renée hat ein rasantes, sekundenkurzes Blickgefecht stattgefunden. Beide wenden sich ungeschlagen, üppig und lächelnd wieder ihren Tischen zu.

Otto lehnt sich zu mir herüber. »Ich habe den Zyklus „Die Tigerin“ fertig«, flüstert er. »Gestern nacht beendet. Bin bereits bei einer neuen Serie: „Das scharlachne Weib“. Werde es vielleicht auch „Das große Tier der Apokalypse“ nennen und zu freien Rhythmen übergehen. Es ist großartig. Der Geist ist über mich gekommen!«

»Gut! Aber was erwartest du dann noch hier?«

»Alles«, erwidert Otto glückstrahlend. »Ich erwarte immer alles, das ist das Schöne, wenn man noch nichts kennt. Übrigens, du kennst doch eine Dame vom Zirkus!«

»Damen, die ich kenne, sind nicht für Anfänger da, um damit zu trainieren«, sage ich. »Du scheinst wirklich noch nichts zu wissen, du naives Kamel, sonst wärest du nicht so dummdreist! Merke dir deshalb Gesetz Nummer eins: Laß die Finger von den Damen anderer Leute – du hast nicht den nötigen Körperbau dazu.«

Otto hüstelt. »Aha«, sagt er dann. »Bürgerliche Vorurteile! Ich spreche doch nicht von Ehefrauen.«

»Ich auch nicht, du Riesenroß. Bei Ehefrauen sind die Regeln nicht so streng. Warum soll ich denn mit aller Gewalt eine Dame vom Zirkus kennen? Ich habe dir doch schon einmal gesagt, daß sie Billettverkäuferin in einem Flohzirkus war.«

»Willy hat mir erzählt, das wäre nicht wahr. Sie sei beim Zirkus Akrobatin.«

»So, Willy!« Ich sehe den roten Schädel wie einen Kürbis auf dem Meer der Tanzfläche schwanken. »Hör zu, Otto«, sage ich. »Es ist ganz anders. Willys Dame ist vom Zirkus. Die mit dem blauen Hut. Und sie liebt die Literatur. Also da ist die Chance! Immer feste drauf los!«

Bambuss sieht mich mißtrauisch an. »Ich spreche aufrichtig mit dir, du vertrottelter Idealist!« sage ich.

Riesenfeld ist schon wieder mit Lisa unterwegs. »Was ist los mit uns, Georg?« frage ich. »Dort drüben sucht dir ein Geschäftsfreund deine Dame auszuspannen, und hier habe ich gerade eine Anfrage gehabt, im Interesse der deutschen Dichtkunst Gerda auszuleihen. Sind wir solche Schafe, oder sind unsere Damen so begehrenswert?«

»Beides. Außerdem ist die Frau eines anderen immer fünfmal begehrenswerter als eine, die zu haben ist. Ein altes Sittengesetz. Lisa wird aber in wenigen Minuten an schweren Kopfschmerzen erkranken, hinausgehen, um in der Garderobe Aspirin zu holen, und dann einen Kellner herschicken mit der Nachricht, sie hätte nach Hause gehen müssen, wir sollten uns weiter amüsieren.«

»Ein Schlag für Riesenfeld. Er wird uns morgen nichts mehr verkaufen.«

»Er wird uns mehr verkaufen. Du solltest das wissen. Gerade deshalb. Wo ist Gerda?«

»Ihr Engagement beginnt erst in drei Tagen. Ich hoffe, sie ist im Altstädter Hof. Aber ich fürchte, sie sitzt in der Walhalla Eduards. Sie nennt das ein Abendessen sparen. Ich kann wenig dagegen machen. Sie hat so erstklassige Gründe, daß ich dreißig Jahre älter werden muß, um antworten zu können. Paß du lieber auf Lisa auf. Vielleicht kriegt sie keine Kopfschmerzen, um uns wieder weiter im Geschäft zu helfen.«

Otto Bambuss lehnt sich wieder zu mir herüber. Seine Augen sind wie die eines erschreckten Herings hinter den Brillengläsern. »„Manege“ wäre ein guter Titel für einen Band Zirkusgedichte, was? Mit Abbildungen von Toulouse-Lautrec.«

»Warum nicht von Rembrandt, Dürer und Michelangelo?«

»Gibt es von denen Zirkuszeichnungen?« fragt Otto ernsthaft.

Ich gebe ihn auf. »Trink, mein Junge«, sage ich väterlich. »Und freue dich deines kurzen Lebens, denn irgendwann wirst du mal ermordet. Aus Eifersucht, du Mondkalb!«

Er prostet mir geschmeichelt zu und sieht dann nachdenklich zu Renée hinüber, die einen sehr kleinen eisvogelblauen Hut auf ihren blonden Löckchen schaukelt und aussieht wie eine Dompteuse am Sonntag.

Lisa und Riesenfeld kommen zurück. »Ich weiß nicht, was los ist«, sagt Lisa. »Ich habe plötzlich solche Kopfschmerzen. Ich gehe mal ein Aspirin nehmen -«

Bevor Riesenfeld aufspringen kann, ist sie schon vom Tisch weg. Georg sieht mich entsetzlich selbstgefällig an und greift nach einer Zigarre.

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