Der späte Sommer hängt schwül über der Stadt, der Dollar ist um weitere zweihunderttausend Mark gestiegen, der Hunger hat sich gemehrt, die Preise haben sich erhöht, und das Ganze ist sehr einfach: Die Preise steigen schneller als die Löhne – also versinkt der Teil des Volkes, der von Löhnen, Gehältern, Einkommen, Renten lebt, mehr und mehr in hoffnungsloser Armut, und der andere erstickt in Ungewissem Reichtum. Die Regierung sieht zu. Sie wird durch die Inflation ihre Schulden los; daß sie gleichzeitig das Volk verliert, sieht niemand.
Das Mausoleum für Frau Niebuhr ist fertig. Es ist scheußlich, eine Steinbude mit farbigem Glas, Bronzeketten und Kieswegen, obschon keine der Bildhauerarbeiten gemacht worden ist, die ich ihr geschildert habe; aber jetzt will sie es plötzlich nicht abnehmen. Sie steht im Hof, einen bunten Sonnenschirm in der Hand, einen Strohhut mit lackierten Kirschen auf dem Kopf und eine Kette von falschen Perlen um den Hals. Neben ihr steht ein Individuum in einem etwas zu engen karierten Anzug, das Gamaschen über den Schuhen trägt. Der Blitz hat eingeschlagen, die Trauer ist vorbei, Frau Niebuhr hat sich verlobt. Niebuhr ist ihr mit einem Schlage gleichgültig geworden. Das Individuum heißt Ralph Lehmann und nennt sich Industrieberater. Für den eleganten Vornamen und den Beruf ist der Anzug ziemlich stark abgetragen. Die Krawatte ist neu; ebenso die orangefarbenen Strümpfe – wahrscheinlich sind es die ersten Geschenke der glücklichen Braut.
Der Kampf wogt hin und her. Frau Niebuhr behauptet anfangs, das Mausoleum überhaupt nicht bestellt zu haben. »Haben Sie etwas Schriftliches?« fragt sie triumphierend.
Wir haben nichts Schriftliches. Georg erklärt milde, das sei nicht nötig in unserem Beruf. Beim Tode sei Treu und Glauben noch gültig. Wir hätten außerdem ein Dutzend Zeugen. Frau Niebuhr habe unsere Steinmetzen, unseren Bildhauer und uns selbst verrückt genug gemacht mit all ihren Ansprüchen. Außerdem habe sie ja eine Anzahlung geleistet.
»Das ist es ja gerade«, erklärt Frau Niebuhr mit schöner Logik. »Die Anzahlung wollen wir zurückhaben.«
»Sie haben das Mausoleum also bestellt?«
»Ich habe es nicht bestellt. Ich habe es nur anbezahlt.«
»Was sagen Sie zu dieser Erklärung, Herr Lehmann?« frage ich. »In Ihrer Eigenschaft als Industrieberater.«
»Das gibt’s«, erwidert Ralph als Kavalier und will uns den Unterschied erklären. Georg unterbricht ihn. Er erklärt, daß über die Vorauszahlung auch nichts Schriftliches vorliege. »Was?« Ralph wendet sich an Frau Niebuhr. »Emilie! Du hast keine Quittung?«
»Ich weiß nicht«, stottert Frau Niebuhr. »Wer kann denn wissen, daß die hier auf einmal behaupten, ich hätte nichts bezahlt! Solche Betrüger!«
»So eine Dämlichkeit!«
Emilie verkleinert sich. Ralph starrt sie wütend an. Er ist plötzlich kein Kavalier mehr. Lieber Gott, denke ich, vorher hatte sie einen Walfisch – jetzt hat sie einen Hai gefangen.
»Niemand behauptet, Sie hätten nichts bezahlt«, sagt Georg. »Wir haben nur gesagt, es liege ebensowenig etwas Schriftliches darüber vor wie über die Bestellung.«
Ralph erholt sich. »Na also.«
»Im übrigen«, erklärt Georg,»sind wir bereit, das Denkmal zurückzunehmen, wenn Sie es nicht haben wollen.«
»Na also«, wiederholt Ralph. Frau Niebuhr nickt eifrig. Ich starre Georg an. Das Mausoleum wird ein zweiter Ladenhüter werden; ein Bruder des Obelisken.
»Und die Anzahlung?« fragt Ralph.
»Die Anzahlung verfällt natürlich«, sage ich. »Das ist immer so.«
»Was?« Ralph zieht die Weste herunter und strafft sich. Ich sehe, daß auch seine Hosen zu kurz und zu eng sind. »Das wäre ja gelacht!« sagt er. »So wird bei uns nicht geschossen.«
»Bei uns auch nicht. Gewöhnlich haben wir Kunden, die abnehmen, was sie bestellen.«
»Wir haben ja gar nichts bestellt«, mischt sich Emilie mit neuem Mut ein. Die Kirschen auf ihrem Hut wippen. »Außerdem war der Preis viel zu hoch.«
»Ruhe, Emilie!« schnauzt Ralph. Sie duckt sich, erschreckt und selig über so viel Männlichkeit. »Es gibt noch Gerichte«, fügt Ralph drohend hinzu.
»Das hoffen wir.«
»Führen Sie Ihre Bäckerei auch nach Ihrer Ehe weiter?« fragt Georg Emilie.
Die ist so erschrocken, daß sie wortlos ihren Verlobten anblickt.
»Klar«, erwidert Ralph. »Neben unseren Industriegeschäften natürlich. Warum?«
»Die Brötchen und der Kuchen waren immer besonders gut.«
»Danke«, sagt Emilie geziert. »Und wie ist es mit der Anzahlung?«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, erklärt Georg und läßt plötzlich seinen Charme spielen. »Liefern Sie uns einen Monat lang jeden Morgen zwölf Brötchen und jeden Nachmittag sechs Stücke Obstkuchen gratis – dann zahlen wir Ihnen am Ende des Monats die Anzahlung zurück, und Sie brauchen das Mausoleum nicht zu nehmen.«
»Gemacht«, sagt Frau Niebuhr sofort.
»Ruhe, Emilie!« Ralph knufft sie in die Rippen. »Das möchten Sie wohl«, sagt er giftig zu Georg. »In einem Monat zurückzahlen! Und was ist dann das Geld noch wert?«
»Nehmen Sie das Denkmal«, erwidere ich. »Uns soll es recht sein.«
Der Kampf dauert noch eine Viertelstunde. Dann schließen wir einen Vergleich. Wir zahlen die Hälfte der Anzahlung sofort zurück. Den Rest in zwei Wochen. Die Lieferung in Naturalien bleibt bestehen. Ralph kann nichts gegen uns machen. Die Inflation ist für einmal auf unserer Seite. Zahlen sind Zahlen vor Gericht, immer noch, ganz gleich, was sie bedeuten. Wollte er auf Rückzahlung klagen, so würde Emilie ihr Geld vielleicht in einem Jahr zugesprochen bekommen – immer noch dieselbe, dann völlig wertlose Summe. Ich verstehe Georg jetzt – wir kommen gut bei dem Geschäft weg. Die Anzahlung gilt nur noch ein Bruchteil von dem, was sie wert war, als wir sie erhielten.
»Was machen wir aber mit dem Mausoleum?« frage ich ihn, nachdem die Verlobten fort sind. »Wollen wir es als Privatkapelle benutzen?«
»Wir ändern das Dach etwas. Kurt Bach kann einen trauernden Löwen draufsetzen oder einen marschierenden Soldaten – zur Not auch einen Engel oder die weinende Germania -, zwei der Fenster nehmen wir raus und ersetzen sie durch Marmorplatten, auf die Namen eingemeißelt werden können – und damit ist das Mausoleum -«
Er hält inne. »Ein kleineres Kriegerdenkmal«, ergänze ich. »Aber Kurt Bach kann keine frei stehenden Engel modellieren – auch keine Soldaten und keine Germania. Er kann sie höchstens im Relief. Wir müssen bei unserem alten Löwen bleiben. Dafür ist aber das Dach zu schmal. Ein Adler wäre besser.«
»Wozu? Der Löwe kann eine Pfote über das Postament herunterhängen lassen. Dann geht es.«
»Wie wäre es mit einem Bronzelöwen? Die Metallwarenfabriken liefern Bronzetiere in allen Größen.«
»Eine Kanone«, sagt Georg sinnend. »Eine zerschossene Kanone wäre mal was Neues.«
»Nur für ein Dorf, in dem nichts anderes als Artilleristen gefallen sind.«
»Hör zu«, sagt Georg. »Laß deine Phantasie spielen. Mach ein paar Zeichnungen, möglichst groß und am besten farbig. Wir werden dann sehen!«
»Wie wäre es, wenn wir den Obelisken in das Arrangement hineinarbeiten könnten? Dann schlügen wir zwei Fliegen mit einer Klappe.«
Georg lacht. »Wenn du das fertigbringst, bestelle ich für dich als Bonus eine ganze Kiste Reinhardtshauser 1921. Ein Wein zum Träumen.«
»Es wäre besser, wenn du ihn in einzelnen Flaschen auf Vorschuß liefertest. Die Inspiration kommt dann leichter.«
»Gut, fangen wir mit einer an. Gehen wir zu Eduard.«
Eduard bewölkt sich wie üblich, als er uns sieht. »Freuen Sie sich, Herr Knobloch«, sagt Georg und zieht eine Handvoll Geldscheine aus der Tasche. »Bares Geld lacht Sie heute an!«
Eduard entwölkt sich. »Tatsächlich? Na ja, es mußte ja endlich einmal kommen. Einen Fensterplatz?«
In der Weinabteilung sitzt schon wieder Gerda. »Bist du hier Dauergast?« frage ich sauer.
Sie lacht unbefangen. »Ich bin hier geschäftlich.«
»Geschäftlich?«
»Geschäftlich, Herr Untersuchungsrichter«, wiederholt Gerda.
»Dürfen wir Sie dieses Mal zum Essen einladen?« fragt Geoerg und gibt mir einen Stoß mit dem Ellbogen, mich nicht wie ein Maultier zu benehmen.
Gerda sieht uns an. »Noch einmal kommen wir sicher nicht damit durch, daß ich euch einlade, was?«
»Bestimmt nicht«, sage ich, kann mich aber nicht enthalten, hinzuzufügen:»Eduard würde lieber die Verlobung auflösen.«
Sie lacht und äußerst sich nicht dazu. Sie trägt ein sehr hübsches Kleid aus tabakfarbener Rohseide. Was für ein Esel bin ich gewesen! denke ich. Da sitzt ja das Leben selbst, und ich habe es in meinem konfusen Größenwahn nicht kapiert!
Eduard erscheint und bewölkt sich wieder, als er uns mit Gerda sieht. Ich merke, wie er kalkuliert. Er glaubt, daß wir gelogen haben und erneut schmarotzen wollen. »Wir haben Fräulein Schneider zum Essen eingeladen«, sagt Georg. »Wir feiern Ludwigs Konfirmation. Er reift langsam zum Manne heran. Nimmt nicht mehr an, daß die Welt nur seinetwegen existiere.«
Georg hat mehr Autorität als ich. Eduard erhellt sich wieder. »Es gibt köstliche Hühnchen!« Er spitzt den Mund, als wollte er pfeifen.
»Bring ruhig das normale Mittagessen«, sage ich. »Bei dir ist immer alles vorzüglich. Und dazu eine Flasche Schloß Reinhardtshausener 1921!«
Gerda blickt auf. »Wein am Mittag? Habt ihr in der Lotterie gewonnen? Warum kommt ihr dann nie mehr in die Rote Mühle?«
»Wir haben nur ein kleines Los gewonnen«, erwidere ich. »Trittst du denn da immer noch auf?«
»Das weißt du nicht? Schäme dich! Eduard weiß es. Ich habe allerdings vierzehn Tage ausgesetzt. Aber am Ersten fange ich ein neues Engagement an.«
»Dann kommen wir«, erklärt Georg. »Und wenn wir ein Mausoleum beleihen müssen!«
»Deine Freundin war gestern abend auch da«, sagt Gerda zu mir.
»Erna? Das ist nicht meine Freundin. Mit wem war sie da?«
Gerda lacht. »Was geht es dich an, wenn sie nicht mehr deine Freundin ist?«
»Sehr viel«, erwidere ich. »Es dauert lange, bis man ausgezuckt hat, auch wenn es nur noch mechanisch ist, wie bei Froschbeinen und dem galvanischen Strom. Erst wenn man ganz getrennt ist, wird man wirklich interessiert an allem, was den anderen angeht. Eines der Paradoxe der Liebe.«
»Du denkst zu viel. Das ist immer schädlich.«
»Er denkt nicht richtig«, sagt Georg. »Sein Intellekt ist eine Bremse für seine Emotionen – anstatt ein Vorspann zu sein.«
»Kinder, seid ihr alle klug!« erklärt Gerda. »Kommt ihr dabei zwischendurch auch zu etwas Spaß im Leben?«
Georg und ich sehen uns an. Georg lacht. Ich bin betroffen. »Denken ist unser Spaß«, sage ich und weiß, daß ich lüge.
»Ihr armen Würmer! Dann eßt wenigstens ordentlich.«
Der Reinhardtshausener hilft uns wieder heraus. Eduard öffnet ihn selbst und verkostet ihn. Er markiert den Weinkenner, der probiert, ob der Wein korkig sei. Dazu gießt er sich ein mittleres Glas voll ein. »Exzellent!« sagt er mit französischem Auslaut und gurgelt und schlägt mit den Augenlidern.
»Echte Weinkenner brauchen zum Probieren nur ein paar Tropfen«, sage ich.
»Ich nicht. Nicht bei so einem Wein. Ich möchte euch doch nur das Beste servieren!«
Wir erwidern nichts; wir haben unseren Trumpf in Reserve. Wir werden das Essen für Gerda und uns mit den unerschöpflichen Marken bezahlen.
Eduard schenkt ein. »Wollt ihr mich nicht auch zu einem Gläschen einladen?« fragt er frech.
»Nachher«, erwidere ich. »Wir trinken mehr als eine Flasche. Beim Essen aber störst du, weil du einem wie ein Bernhardiner die Bissen in den Mund zählst.«
»Nur, wenn ihr als Parasiten mit euren Marken ankamt.« Eduard tänzelt um Gerda herum wie ein Mittelschullehrer, der Walzer übt.
Gerda unterdrückt einen Lachanfall. Ich habe sie unter dem Tisch angestoßen, und sie hat sofort begriffen, was wir für Eduard in Reserve haben.
»Knobloch!« brüllt plötzlich eine markige Kommandostimme.
Eduard fährt hoch, als hätte er einen Tritt in den Hintern bekommen. Hinter ihm steht diesmal, unschuldig lächelnd, Renée de la Tour selbst. Er unterdrückt einen Fluch. »Daß ich auch immer wieder darauf reinfalle!«
»Ägere dich nicht«, sage ich. »Das ist dein treudeutsches Blut. Das edelste Vermächtnis deiner gehorsamen Vorfahren.«
Die Damen begrüßen sich wie lächelnde Kriminalpolizisten.
»Welch hübsches Kleid, Gerda«, gurrt Renée. »Schade, daß ich so etwas nicht tragen kann! Ich bin zu dünn dazu.«
»Das macht nichts«, erwidert Gerda. »Ich fand die vorjährige Mode auch eleganter. Besonders die entzückenden Eidechsenschuhe, die du trägst. Ich liebe sie jedes Jahr mehr.«
Ich sehe unter den Tisch. Renée trägt tatsächlich Schuhe aus Eidechsenleder. Wie Gerda das im Sitzen sehen konnte, gehört zu den ewigen Rätseln der Frau. Es ist unverständlich, daß diese Gaben des Geschlechts nie besser praktisch ausgenützt worden sind – zur Beobachtung des Feindes in Fesselballons bei der Artillerie oder für ähnliche kulturelle Zwecke.
Willy unterbricht das Geplänkel. Er ist eine Vision in Hellgrau. Anzug, Hemd, Krawatte, Strümpfe, Wildlederhandschuhe – und darüber, wie ein Ausbruch des Vesuvs, die roten Haare. »Wein!« sagt er. »Die Totengräber zechen! Sie versaufen den Schmerz einer Familie! Bin ich eingeladen?«
»Wir haben unseren Wein nicht an der Börse verdient, du Parasit am Volksvermögen«, erwidere ich. »Trotzdem wollen wir ihn gerne mit Mademoiselle de la Tour teilen. Jeder Mensch, der Eduard erschrecken kann, ist uns willkommen.«
Das erweckt einen Heiterkeitsausbruch bei Gerda. Sie stößt mich erneut unter dem Tisch an. Ich fühle, daß ihr Knie an meinem liegen bleibt. Wärme steigt mir in den Nacken. Wir sitzen plötzlich da wie Verschwörer.
»Ihr werdet Eduard bestimmt heute auch noch erschrecken«, sagt Gerda. »Wenn er mit der Rechnung kommt. Ich fühle es. Ich habe das Zweite Gesicht.«
Alles, was sie sagt, hat wie durch einen Zauberschlag einen neuen Klang. Was ist los? denke ich. Steigt mir die Liebe schaudernd in die Schilddrüse, oder ist es eher die alte Freude, einem anderen etwas abspenstig zu machen? Der Speisesaal ist auf einmal nicht mehr eine nach Essen riechende Bude – er ist etwas, das mit ungeheurer Geschwindigkeit wie eine Schaukel durch das Universum fliegt. Ich sehe aus dem Fenster und bin erstaunt, daß die Städtische Sparkasse noch immer an derselben Stelle steht. Sie sollte, auch ohne Gerdas Knie, ohnehin längst verschwunden sein; weggewaschen von der Inflation. Aber Stein und Beton überdauern einen Haufen Menschenwerk und Menschen.
»Ein großartiger Wein«, sage ich. »Wie der erst in fünf Jahren sein wird!«
»Älter«, erklärt Willy, der nichts von Wein versteht. »Noch zwei Flaschen, Eduard!«
»Warum zwei? Laß uns eine nach der anderen trinken.«
»Gut! Trinkt ihr eure! Mir, Eduard, so schnell wie möglich eine Flasche Champagner!«
Eduard schießt davon wie ein geölter Blitz. »Was ist los, Willy?« fragt Renée. »Glaubst du, du kommst um den Pelzmantel herum, wenn du mich betrunken machst?«
»Du bekommst den Pelzmantel! Dieses jetzt hier hat einen höheren Zweck. Erzieherisch! Siehst du ihn nicht, Ludwig?«
»Nein. Ich trinke lieber Wein als Champagner.«
»Du siehst ihn wirklich nicht? Drüben, drei Tische hinter der Säule? Den borstigen Schweinskopf, die tückischen Hyänenaugen und die vorstehende Hühnerbrust? Den Mörder unserer Jugend?«
Ich suche nach dieser zoologischen Merkwürdigkeit und entdecke sie gleich darauf. Es ist der Direktor unseres Gymnasiums, älter und ruppiger geworden, aber er ist es. Vor sieben Jahren noch hat er Willy erklärt, er würde am Galgen enden, und mir, lebenslängliches Zuchthaus sei mir sicher. Er hat uns auch bemerkt. Die roten Augen blinzeln zu uns herüber, und ich weiß jetzt, warum Willy den Sekt bestellt hat.
»Laß den Pfropfen knallen, so laut es geht, Eduard!« befiehlt Willy.
»Das ist nicht vornehm.«
»Man trinkt Sekt nicht, um vornehm zu sein; man trinkt ihn, um sich wichtig zu machen.«
Willy nimmt Eduard die Flasche aus der Hand und schüttelt sie. Der Pfropfen knallt wie ein Pistolenschuß. Im Lokal entsteht einen Augenblick Schweigen. Der borstige Schweinskopf reckt sich. Willy steht in voller Größe am Tisch, die Flasche in der Rechten, und schenkt Glas auf Glas ein. Der Sekt schäumt, Willys Haar leuchtet, und sein Gesicht strahlt. Er starrt auf Schimmel, unseren Direktor, und Schimmel starrt wie hypnotisiert zurück.
»Es funktioniert«, flüstert Willy. »Ich dachte schon, er würde uns ignorieren.«
»Er ist ein leidenschaftlicher Schulmann«, antworte ich.
»Er kann uns nicht ignorieren. Für ihn bleiben wir Schüler, auch wenn wir sechzig sind. Sieh nur, wie seine Nase arbeitet!«
»Benehmt euch nicht wie Zwölfjährige«, sagt Renée.
»Warum nicht?« fragt Willy. »Älter werden können wir immer noch.«
Renée hebt resigniert die Hände mit dem Amethystring.
»Und so was hat das Vaterland verteidigt!«
»Hat geglaubt, das Vaterland zu verteidigen«, sage ich. »Bis es herausfand, daß es nur den Teil des Vaterlandes verteidigte, der gern zum Teufel gehen konnte – darunter den nationalistischen Schweinskopf da drüben.«
Renée lacht. »Ihr habt das Land der Dichter und Denker verteidigt, vergeßt das nicht.«
»Das Land der Dichter und Denker braucht nie verteidigt zu werden – höchstens gegen den Schweinskopf drüben und seinesgleichen, die Dichter und Denker ins Gefängnis sperren, solange sie leben, und mit ihnen, wenn sie tot sind, Reklame für sich machen.«
Gerda reckt den Kopf. »Heute wird scharf geschossen, was?«
Sie stößt mich wieder unter dem Tisch an. Ich klettere vom Rednerpult herunter und sitze sofort aufs neue in der Schaukel, die über die Erde hinwegfliegt. Der Speisesaal ist ein Teil des Kosmos, und selbst Eduard, der den Sekt säuft wie Wasser, um die Zeche zu erhöhen, hat einen staubigen Heiligenschein um seinen Kopf.
»Kommst du nachher mit?« flüstert Gerda.
Ich nicke.
»Er kommt!« wispert Willy entzückt. »Ich wußte es!«
Das Warzenschwein hat es nicht ausgehalten. Es hat sich hochgewuchtet und nähert sich zwinkernd unserem Tisch. »Hohmeyer, nicht wahr?« sagt es.
Willy sitzt jetzt. Er steht nicht auf. »Bitte?« fragt er.
Schimmel ist bereits irritiert. »Sie sind doch der frühere Schüler Hohmeyer!«
Willy stellt die Flasche vorsichtig hin. »Verzeihen Sie, Baronin«, sagt er zu Renée. »Ich glaube, der Mann dort meint mich.« Er wendet sich zu Schimmel. »Womit kann ich Ihnen dienen? Was möchten Sie, mein guter Mann?« Schimmel ist einen Augenblick perplex. Er hat wohl selbst nicht genau gewußt, was er sagen wollte. Schlichte, überquellende Empörung hat den biederen Schulfuchs an unseren Tisch geschwemmt.
»Ein Glas Champagner?« fragte Willy zuvorkommend. »Auch mal kosten, wie die andere Hälfte lebt?«
»Was fällt Ihnen ein? Ich bin kein Wüstling!«
»Schade«, erklärt Willy. »Aber was wollen Sie wirklich hier? Sie stören, sehen Sie das nicht?«
Schimmel schießt einen Wutblick auf ihn ab. »Ist es absolut nötig«, krächzt er,»daß ehemalige Schüler meines Gymnasiums am hellichten Tage Orgien feiern?«
»Orgien?« Willy sieht ihn erstaunt an. »Entschuldigen Sie nochmals, Baronin«, sagt er dann zu Renée. »Dieser manierenlose Mann – ein Herr Schimmel übrigens, jetzt erkenne ich ihn«- stellt er graziös vor -»die Baronin de la Tour«- Renée neigt huldvoll das Lockenhaupt -»glaubt, wir feiern eine Orgie, weil wir an Ihrem Geburtstag ein Glas Sekt trinken -«
Schimmel ist, soweit es bei ihm möglich ist, etwas verwirrt. »Geburtstag?« knarrt er. »Nun ja – immerhin, dies ist eine kleine Stadt – als ehemalige Schüler könnten Sie -«
Es sieht aus, als wolle er uns eine widerwillige Absolution erteilen. Die Baronin de la Tour hat auf den alten Kastenanbeter ihre Wirkung nicht verfehlt. Willy greift eilig ein. »Als ehemaliger Schüler von Ihnen sollten wir schon morgens einen Schnaps oder zwei zum Kaffee nehmen«, erklärt er,»damit wir endlich einmal wissen, was das Wort Freude bedeutet. Das stand nämlich nie in Ihrem Lehrplan, Sie Jugendmörder! Sie alter Pflichtenbock haben uns unser Dasein so versaut, daß wir glaubten, die Preußen wären eine Befreiung, Sie trostloser Feldwebel des deutschen Aufsatzes! Nur durch Sie sind wir zu Wüstlingen geworden! Sie allein tragen die Verantwortung für alles! Und nun schieben Sie ab, Sie Unteroffizier der Langeweile!«
»Das ist doch -« Schimmel stottert. Er ist jetzt tomatenrot.
»Gehen Sie nach Hause und nehmen Sie endlich einmal ein Bad, Sie Schweißfuß des Lebens!«
Schimmel ringt nach Atem. »Die Polizei!« würgt er hervor. »Flegelige Beleidigungen – ich werde Ihnen schon -«
»Sie werden gar nichts«, erklärt Willy. »Sie glauben immer noch, wir wären Ihre Sklaven für Lebenszeit. Alles, was Sie tun werden, ist, die Verantwortung beim Jüngsten Gericht dafür zu übernehmen, daß Sie zahllosen Generationen von jungen Menschen einen Haß auf Gott und alles Gute und Schöne beigebracht haben! Ich möchte bei der Auferstehung der Toten nicht in Ihren Knochen stecken, Schimmel! Die Fußtritte, die Sie allein von unserer Klasse bekommen werden! Und dann natürlich das Pech und Feuer der Hölle hinterher! Sie können das ja so gut beschreiben!«
Schimmel erstickt. »Sie werden von mir hören!« stößt er hervor und wendet wie eine Korvette im Sturm.
»Schimmel!« brüllt eine markige Kommandostimme hinter ihm her.
Renée wirkt, wie immer. Schimmel wird herumgerissen vom trauten Kommandolaut. »Was? Wie bitte? Wer -?« Seine Augen suchen die nächsten Tische ab. »Sind Sie verwandt mit dem Selbstmörder Schimmel?« zwitschert Renée.
»Selbstmörder? Was soll denn das? Wer hat mich gerufen?«
»Ihr Gewissen, Schimmel«, sage ich.
»Das ist doch -!«
Ich erwarte weißen Schaum auf Schimmels Lippen. Es ist ein Genuß, diesen Meister unzähliger Anklagen endlich einmal sprachlos zu sehen. Willy trinkt ihm zu. »Auf Ihr Wohl, Sie brave Kathederhyäne! Und gehen Sie nicht mehr zu fremden Leuten an den Tisch, sie zu zensieren. Besonders nicht, wenn Damen dabei sind.«
Schimmel entschwindet mit einem sonderbar klackenden Laut – als wäre nicht Champagner, sondern ein Selterswasserverschluß in ihm geplatzt. »Ich wußte, daß er es nicht lassen würde«, sagt Willy selig.
»Du warst erstklassig«, sage ich. »Wieso kam der Geist so gewaltig über dich?«
Willy grinst. »Diese Rede habe ich schon mindestens hundertmal gehalten! Leider immer allein, ohne Schimmel. Deshalb weiß ich sie auswendig. Prost, Kinder!«
»Ich kann nicht!« Eduard schüttelt sich. »Schweißfuß des Lebens! Das ist ein zu grauenhaftes Bild! Der Sekt schmeckt plötzlich wie eingeschlafene Füße.«
»Das tat er vorher auch schon«, sage ich geistesgegenwärtig.
»Was für Kinder ihr seid!« erklärt Renée kopfschüttelnd.
»Wir wollen es bleiben. Altwerden ist einfach.« Willy grinst. »Eduard, die Rechnung!«
Eduard bringt die Rechnung. Eine für Willy, eine für uns.
Gerdas Gesicht wird gespannt. Sie erwartet eine zweite Explosion heute. Georg und ich ziehen schweigend unsere Marken heraus und legen sie auf den Tisch. Aber Eduard explodiert nicht – er lächelt. »Macht nichts«, sagt er. »Bei so einem Weinkonsum!«
Wir sitzen enttäuscht da. Die Damen erheben sich und schütteln sich leicht, wie Hühner, die aus einer Sandgrube kommen. Willy klopft Eduard auf die Schulter.
»Sie sind ein Kavalier! Andere Wirte hätten gejammert, daß wir ihnen einen Gast vertrieben hätten.«
»Ich nicht.« Eduard lächelt. »Der Rohrstockschwinger hat hier noch nie eine anständige Zeche gemacht. Läßt sich nur einladen.«
»Komm«, flüstert Gerda mir zu.
Das tabakfarbene Kleid liegt irgendwo. Die braunen Wildlederschuhe stehen unter dem Stuhl. Einer ist umgefallen. Das Fenster steht offen. Weinlaub hängt herein. Von unten, aus dem Altstätter Hof, kommen gedämpft die Töne des elektrischen Klaviers. Es spielt den Walzer »Die Schlittschuhläufer«. Die Musik wird ab und zu von einem dumpfen Fall unterbrochen; das sind die Ringkämpferinnen, die trainieren.
Neben dem Bett stehen zwei eiskalte Flaschen Bier. Ich öffne sie und gebe eine Gerda. »Woher bist du so braun?« frage ich.
»Von der Sonne. Sie scheint schon seit Monaten. Hast du das nicht gemerkt?«
»Doch. Aber im Büro kann man nicht braun werden.« Gerda lacht. »Wenn man im Nachtklub arbeitet, ist es einfacher. Man hat tagsüber frei. Wo warst du all die Zeit?«
»Irgendwo«, sage ich, und mir fällt ein, daß Isabelle mich auch immer so fragt. »Ich dachte, du wärest mit Eduard.«
»Ist das ein Grund, wegzubleiben?«
»Ist es keiner?«
»Nein, du Dummkopf«, sagt Gerda. »Das sind zwei verschiedene Dinge.«
»Das ist mir zu schwierig«, erwidere ich.
Gerda antwortet nicht. Sie streckt sich und nimmt einen Schluck Bier. Ich sehe mich um. »Es ist schön hier«, sage ich. »Als wären wir im Oberstock einer Südseekneipe. Und du bist braun wie eine Eingeborene.«
»Bist du dann der weiße Händler mit Kattun, Glasperlen, Bibeln und Schnaps?«
»Richtig«, erwidere ich überrascht. »Genau das habe ich immer geträumt, als ich sechzehn Jahre alt war.«
»Nachher nicht mehr?«
»Nachher nicht mehr.«
Ich liege ruhig und entspannt neben ihr. Blau steht der späte Nachmittag im Fenster zwischen den Dachfirsten. Ich denke an nichts, ich will nichts, und ich hüte mich, irgend etwas zu fragen. Der Friede der gestillten Haut ist da, das Leben ist einfach, die Zeit steht still, und wir sind in der Nähe irgendeines Gottes und trinken kaltes, würziges Bier.
Gerda gibt mir ihr Glas zurück. »Glaubst du, daß Renée ihren Pelzmantel kriegt?« fragt sie träge.
»Warum nicht? Willy ist jetzt Billionär.«
»Ich hätte sie fragen sollen, was für einen sie haben will. Wahrscheinlich Bisam oder Biber.«
»Fuchs«, sage ich interesselos. »Oder Leopard meinetwegen.«
»Leopard ist zu dünn für den Winter. Seal macht zu alt. Und Silberfuchs macht dick. Der Traum ist natürlich Nerz.«
»So?«
»Ja. Der ist fürs Leben. Aber mächtig teuer. Sündhaft teuer.«
Ich stelle meine Flasche zu Boden. Das Gespräch beginnt etwas unbequem zu werden. »Das geht über meinen Horizont«, sage ich. »Ich kann nicht einmal einen Kaninchenkragen bezahlen.«
»Du?« erwidert Gerda überrascht. »Wer spricht denn von dir?«
»Ich. Jeder Mann mit etwas Zartgefühl bezieht in einer Situation wie der unseren das Gespräch auf sich. Und ich habe bedeutend zuviel Zartgefühl für ein Leben in unserer Zeit.«
Gerda lacht. »Hast du das, mein Kleiner? Aber ich rede wirklich nicht von dir.«
»Von wem denn?«
»Von Eduard. Von wem sonst?«
Ich richte mich auf. »Du denkst daran, dir von Eduard einen Pelzmantel schenken zu lassen?«
»Natürlich, Schäfchen. Wenn ich ihn nur soweit kriegen könnte! Aber vielleicht, wenn Renée einen kriegt – Männer sind so -«
»Und das erzählst du mir hier, während wir noch zusammen im Bett liegen?«
»Warum nicht? Ich habe dann immer besonders gute Gedanken.«
Ich erwidere nichts. Ich bin verblüfft. Gerda dreht ihren Kopf zu mir herüber. »Bist du etwa beleidigt?«
»Ich bin zumindest verdutzt.«
»Warum? Du solltest nur beleidigt sein, wenn ich einen Mantel von dir haben wollte.«
»Soll ich stolz drauf sein, wenn du ihn von Eduard haben willst?«
»Natürlich! Das zeigt dir doch, daß du kein Freier bist.«
Ich kenne den Ausdruck nicht. »Was sind Freier?« frage ich.
»Leute mit Geld. Leute, die einem helfen können. Eduard.«
»Ist Willy ein Freier?«
Gerda lacht. »Ein halber. Für Renée.«
Ich schweige und komme mir ziemlich dumm vor. »Habe ich nicht recht?« fragt Gerda.
»Recht? Was hat Recht damit zu tun?«
Gerda lacht wieder. »Ich glaube, du bist wirklich eingeschnappt. Was für ein Kind du noch bist!«
»Darin möchte ich auch ganz gerne eins bleiben«, sage ich. »Sonst -«
»Sonst?« fragt Gerda.
»Sonst -« Ich überlege. Mir ist nicht ganz klar, was ich meine, aber ich versuche es trotzdem. »Sonst käme ich mir wie ein halber Zuhälter vor.«
Gerda lacht jetzt schallend. »Dazu fehlt dir aber noch vieles mein Kleiner.«
»Ich hoffe, das bleibt auch so.«
Gerda wendet mir ihr Gesicht zu. Ihr beschlagenes Glas steht zwischen ihren Brüsten. Sie hält es mit einer Hand fest und genießt die Kälte auf ihrer Brust. »Mein armer Kleiner«, sagt sie immer noch lachend, mit fatalem, halb mütterlichem Mitleid. »Du wirst noch oft betrogen werden!«
Verflucht, denke ich, wo ist der Friede des tropischen Eilands geblieben? Ich komme mir auf einmal vor, als wäre ich nackt und würde von Affen mit stacheligen Kakteen beworfen. Wer hört schon gerne, daß er ein zukünftiger Hahnrei ist?»Das werden wir sehen«, sage ich.
»Meinst du, es sei so einfach, ein Zuhälter zu sein?«
»Das weiß ich nicht. Aber es ist sicher nichts besonders Ehrenhaftes darin.«
Gerda explodiert mit einem kurzen, scharfen Zischen.
»Ehre«, japst sie. »Was noch? Sind wir beim Militär? Wir sprechen von Frauen. Mein armer Kleiner, Ehre ist da sehr langweilig.«
Sie nimmt wieder einen Schluck Bier. Ich sehe zu, wie es durch ihre gewölbte Kehle rinnt. Wenn sie mich noch einmal armer Kleiner nennt, werde ich ihr wortlos meine Flasche über den Kopf gießen, um ihr zu beweisen, daß ich auch wie ein Zuhälter handeln kann – oder wenigstens so, wie ich mir vorstelle, daß er handeln würde.
»Ein schönes Gespräch«, sage ich. »Gerade jetzt.«
Ich scheine versteckte humoristische Eigenschaften zu haben. Gerda lacht wieder. »Ein Gespräch ist wie das andere«, sagt sie. »Wenn man so nebeneinander liegt, ist es doch egal, wovon man spricht. Oder gibt es da auch Gesetze, mein -«
Ich greife nach der Bierflasche und warte auf den armen Kleinen; aber Gerda hat einen sechsten Sinn – sie nimmt einen neuen Schluck und schweigt.
»Wir brauchten vielleicht nicht gerade von Pelzmänteln, Zuhältern und Hahnreis zu reden«, sage ich. »Es gibt in solchen Augenblicken doch auch noch andere Themen.«
»Klar«, stimmt Gerda zu. »Aber wir reden doch auch gar nicht davon.«-»Wovon?«
»Von Pelzmänteln, Zuhältern und Hahnreis.«
»Nein? Wovon reden wir denn?«
Gerda beginnt wieder zu lachen. »Von der Liebe, mein Süßer. So, wie vernünftige Menschen davon reden. Was möchtest du denn? Gedichte aufsagen?«
Ich greife, schwer getroffen, nach der Bierflasche. Bevor ich sie heben kann, hat Gerda mich geküßt. Es ist ein nasser Bierkuß, aber ein so strahlend gesunder, daß die Tropeninsel einen Augenblick wieder da ist. Eingeborene trinken ja auch Bier.
»Weißt du, das habe ich gern an dir«, erklärt Gerda. »Daß du ein so vorurteilsvolles Schaf bist! Wo hast du nur all diesen Unsinn gelernt? Du gehst an die Liebe heran wie ein bewaffneter Korpsstudent, der glaubt, es ginge zum Duell anstatt zum Tanz.« Sie schüttelt sich vor Lachen. »Du Knalldeutscher!« sagt sie zärtlich.
»Ist das wieder eine Beleidigung?« frage ich.
»Nein, eine Feststellung. Nur Idioten glauben, daß eine Nation besser sei als die andere.«
»Bist du keine Knalldeutsche?«
»Ich habe eine tschechische Mutter; das erleichtert mein Los etwas.«
Ich sehe das nackte, unbekümmerte Geschöpf neben mir an und habe plötzlich das Verlangen, zumindest eine oder zwei tschechische Großmütter zu haben. »Schatz«, sagt Gerda. »Liebe kennt keine Würde. Aber ich fürchte, du kannst nicht einmal pissen ohne Weltanschauung.«
Ich greife nach einer Zigarette. Wie kann eine Frau so etwas sagen? denke ich. Gerda hat mich beobachtet. »Wie kann eine Frau so etwas sagen, was?« sagt sie.
Ich hebe die Schultern. Sie dehnt sich und blinzelt mir zu. Dann schließt sie langsam ein Auge. Ich komme mir vor dem starren, geöffneten anderen auf einmal wie ein Provinzschulmeister vor. Sie hat recht – wozu muß man immer alles mit Prinzipien aufblasen? Warum es nicht nehmen, wie es ist? Was geht mich Eduard an? Was ein Wort? Was ein Nerzmantel? Und wer betrügt wen? Eduard mich, oder ich ihn, oder Gerda uns beide, oder wir beide Gerda, oder keiner keinen? Gerda allein ist natürlich, wir aber sind Wichtigtuer und Nachschwätzer abgestandener Phrasen. »Du glaubst, daß ich als Zuhälter hoffnungslos wäre?« frage ich.
Sie nickt. »Frauen werden nicht deinetwegen mit einem anderen schlafen und dir das Geld dafür bringen. Aber mach dir nichts daraus; die Hauptsache ist, daß sie mit dir schlafen.«
Ich will es vorsichtig dabei bewenden lassen, frage aber doch:»Und Eduard?«
»Was geht dich Eduard an? Ich habe dir das doch gerade erklärt.«
»Was?«
»Daß er ein Freier ist. Ein Mann mit Geld. Du hast keins. Ich aber brauche welches. Verstanden?«
»Nein.«
»Das brauchst du auch nicht, Schäfchen. Und beruhige dich – noch ist nichts los, und es wird auch noch lange nichts los sein. Ich sage es dir schon zur Zeit. Und nun mach kein Drama draus. Das Leben ist anders, als du denkst. Merk dir nur eins: Recht hat immer der, der mit der Frau im Bett liegt. Weißt du, was ich jetzt möchte?«
»Was?«
»Noch eine Stunde schlafen – und dann ein Hammelragout mit Knoblauch für uns kochen, mit viel Knoblauch -«
»Kannst du das hier?«
Gerda zeigt auf einen alten Gasherd, der auf der Kommode steht. »Ich koche dir darauf ein Diner für sechs Personen, wenn’s sein muß. Tschechisch! Du wirst staunen! Dazu holen wir uns Bier vom Faß aus der Kneipe unten. Geht das mit deiner Illusion über die Liebe zusammen? Oder zerbricht der Gedanke an Knoblauch etwas Wertvolles in dir?«
»Nichts«, erwidere ich und fühle mich korrumpiert, aber auch so leicht wie lange nicht.