II

Wir treten aus der Tür. Die heftige Sonne des späten Aprils stürzt auf uns herunter, als würde ein riesiges goldenes Becken mit Licht und Wind ausgeschüttet. Wir bleiben stehen. Der Garten steht in grünen Flammen, das Frühjahr rauscht im jungen Laub der Pappel wie eine Harfe, und der erste Flieder blüht.

»Inflation!« sage ich. »Da hast du auch eine – die wildeste von allen. Es scheint, daß selbst die Natur weiß, daß nur noch in Zehntausenden und Millionen gerechnet wird. Sieh dir an, was die Tulpen da machen! Und das Weiß drüben und das Rot und überall das Gelb! Und wie das riecht!«

Georg nickt, schnuppert und nimmt einen Zug aus der Brasil; Natur ist für ihn doppelt schön, wenn er dabei eine Zigarre rauchen kann.

Wir fühlen die Sonne auf unseren Gesichtern und blicken auf die Pracht. Der Garten hinter dem Hause ist gleichzeitig der Ausstellungsplatz für unsere Denkmäler. Da stehen sie, angeführt wie eine Kompanie von einem dünnen Leutnant, von dem Obelisken Otto, der gleich neben der Tür seinen Posten hat. Er ist das Stück, das ich Heinrich geraten habe zu verkaufen, das älteste Denkmal der Firma, ihr Wahrzeichen und eine Monstrosität an Geschmacklosigkeit. Hinter ihm kommen zuerst die billigen kleinen Hügelsteine aus Sandstein und gegossenem Zement, die Grabsteine für die Armen, die brav und anständig gelebt und geschuftet haben und dadurch natürlich zu nichts gekommen sind. Dann folgen die größeren, schon mit Sockeln, aber immer noch billig, für die, die schon etwas Besseres sein möchten, wenigstens im Tode, da es im Leben nicht möglich war. Wir verkaufen mehr davon als von den ganz einfachen, und man weiß nicht, ob man diesen verspäteten Ehrgeiz der Hinterbliebenen rührend oder absurd finden soll. Das nächste sind die Hügelsteine aus Sandstein mit eingelassenen Platten aus Marmor, grauem Syenit oder schwarzem schwedischem Granit. Sie sind bereits zu teuer für den Mann, der von seiner Hände Arbeit gelebt hat. Kleine Kaufleute, Werkmeister, Handwerker, die einen eigenen Betrieb gehabt haben, sind die Kunden dafür – und natürlich der ewige Unglücksrabe, der kleine Beamte, der immer mehr vorstellen muß, als er ist, dieser brave Stehkragenproletarier, von dem keiner weiß, wie er es fertigbringt, heutzutage noch zu existieren, da seine Gehaltserhöhungen stets viel zu spät kommen.

Alle diese Denkmäler sind noch das, was man als Kleinvieh bezeichnet – erst hinter ihnen kommen die Klötze aus Marmor und Granit. Zunächst die einseitig polierten, bei denen die Vorderflächen glatt sind, Seiten und Rückenfläche rauh gespitzt und die Sockel allseitig rauh. Das ist bereits die Klasse für den wohlhabenderen Mittelstand, den Arbeitgeber, den Geschäftsmann, den besseren Ladenbesitzer und, natürlich, den tapferen Unglücksraben, den höheren Beamten, der, ebenso wie der kleine, im Tode mehr ausgeben muß, als er im Leben verdient hat, um das Dekorum zu wahren.

Die Aristokratie der Grabsteine jedoch sind der allseitig polierte Marmor und der schwarze schwedische Granit. Da gibt es keine rauhen Seiten und Rückenflächen mehr; alles ist auf Hochglanz gebracht worden, ganz gleich, ob man es sieht oder nicht, sogar die Sockel, und davon gibt es nicht nur einen oder zwei, sondern oft auch einen geschrägten dritten, und oben darauf, wenn es sich um ein Glanzstück im wahren Sinne des Wortes handelt, auch noch ein stattliches Kreuz aus demselben Material. So etwas ist heute natürlich nur noch da für reiche Bauern, große Sachwertbesitzer, Schieber und die geschickten Geschäftsleute, die mit langfristigen Wechseln arbeiten und so von der Reichsbank leben, die alles mit immer neuen, ungedeckten Geldscheinen bezahlt.

Wir blicken gleichzeitig auf das einzige dieser Glanzstücke, das bis vor einer Viertelstunde noch Eigentum der Firma war. Da steht es, schwarz und blitzend wie der Lack eines neuen Automobils, das Frühjahr umduftet es, Fliederblüten neigen sich ihm zu, es ist eine große Dame, kühl, unberührt und noch für eine Stunde jungfräulich -, dann wird ihm der Name des Hofbesitzers Heinrich Fleddersen auf den schmalen Bauch gemeißelt werden, in lateinischer, vergoldeter Schrift, der Buchstabe zu achthundert Mark. »Fahre wohl, schwarze Diana!« sage ich. »Dahin!« und lüfte meinen Hut. »Es ist dem Poeten ewig unverständlich, daß auch vollkommene Schönheit den Gesetzen des Schicksals untersteht und elend sterben muß! Fahr wohl! Du wirst nun eine schamlose Reklame für die Seele des Gauners Fleddersen werden, der armen Witwen aus der Stadt ihre letzten Zehntausender für viel zu teure, mit Margarine verfälschter Butter entrissen hat – von seinen Wucherpreisen für Kalbsschnitzel, Schweinekoteletts und Rinderbraten ganz zu schweigen! Fahr wohl!«

»Du machst mich hungrig«, erklärt Georg. »Auf zur „Walhalla“! Oder mußt du vorher noch deinen Schlips kaufen?«

»Nein, ich habe Zeit, bis die Geschäfte schließen. Sonnabends gibt es nachmittags keinen neuen Dollarkurs. Von zwölf Uhr heute mittag bis Montag früh bleibt unsere Währung stabil. Warum eigentlich? Da muß irgendwas mächtig faul dabei sein. Warum fällt die Mark über das Wochenende nicht? Hält Gott sie auf?«

»Weil die Börse dann nicht arbeitet. Sonst noch Fragen?«

»Ja. Lebt der Mensch von innen nach außen oder von außen nach innen?«

»Der Mensch lebt, Punkt. Es gibt Gulasch im „Walhalla“, Gulasch mit Kartoffeln, Gurken und Salat. Ich habe das Menü gesehen, als ich von der Bank kam.«

»Gulasch!« Ich pflücke eine Primel und stecke sie mir ins Knopfloch. »Der Mensch lebt, du hast recht! Wer weiter fragt, ist schon verloren. Komm, laß uns Eduard Knobloch ärgern!«


Wir betreten den großen Speisesaal des Hotels »Walhalla«. Eduard Knobloch, der Besitzer, ein fetter Riese mit einer braunen Perücke und einem wehenden Bratenrock, verzieht bei unserem Anblick das Gesicht, als hätte er bei einem Rehrücken auf eine Schrotkugel gebissen.

»Guten Tag, Herr Knobloch«, sagte Georg. »Schönes Wetter heute! Macht mächtigen Appetit!«

Eduard zuckt nervös die Achseln. »Zuviel essen ist ungesund! Schadet der Leber, der Galle, allem.«

»Nicht bei Ihnen, Herr Knobloch«, erwidert Georg herzlich. »Ihr Mittagstisch ist gesund.«

»Gesund, ja. Aber zuviel gesund kann auch schädlich sein. Nach den neuesten wissenschaftlichen Forschungen ist zuviel Fleisch -«

Ich unterbreche Eduard, indem ich ihm einen leichten Schlag auf seinen weichen Bauch versetze. Er fährt zurück, als hätte ihm jemand an die Geschlechtsteile gegriffen. »Gib Ruhe und füge dich in dein Geschick«, sage ich. »Wir fressen dich schon nicht arm. Was macht die Poesie?«

»Geht betteln. Keine Zeit! Bei diesen Zeiten!«

Ich lache nicht über diese Albernheit. Eduard ist nicht nur Gastwirt, er ist auch Dichter; aber so billig darf er mir nicht kommen. »Wo ist ein Tisch?« frage ich.

Knobloch sieht sich um. Sein Gesicht erhellt sich plötzlich.

»Es tut mir außerordentlich leid, meine Herren, aber ich sehe gerade, daß kein Tisch frei ist.«

»Das macht nichts. Wir warten.«

Eduard blickt noch einmal umher. »Es sieht so aus, als ob auch einstweilen keiner frei würde«, verkündet er strahlend. »Die Herrschaften sind alle erst bei der Suppe. Vielleicht versuchen Sie es heute einmal im „Altstädter Hof“ oder im Bahnhofshotel. Man soll dort auch passabel essen.«

Passabel! Der Tag scheint von Sarkasmus zu triefen. Erst Heinrich und jetzt Eduard. Wir aber werden um das Gulasch kämpfen, auch wenn wir eine Stunde warten müssen – es ist ein Glanzpunkt auf der Speisekarte des »Walhalla«.

Doch Eduard ist nicht nur Poet, sondern scheint auch Gedankenleser zu sein. »Keinen Zweck zu warten«, sagt er. »Wir haben nie genug Gulasch und sind immer vorzeitig ausverkauft. Oder möchten Sie ein deutsches Beefsteak? Das können Sie hier an der Theke essen.«

»Lieber tot«, sage ich. »Wir werden Gulasch kriegen, und wenn wir dich selbst zerhacken müssen.«

»Wirklich?« Eduard ist nichts als ein fetter, zweifelnder Triumph.

»Ja«, erwidere ich und gebe ihm einen zweiten Klaps auf den Bauch. »Komm, Georg, wir haben einen Tisch.«

»Wo?« fragt Eduard rasch.

»Dort, wo der Herr sitzt, der aussieht wie ein Kleiderschrank. Ja, der mit dem roten Haar und der eleganten Dame. Der, der aufgestanden ist und uns zuwinkt. Mein Freund Willy, Eduard. Schick den Kellner, wir wollen bestellen!«

Eduard läßt ein zischendes Geräusch hinter uns hören, als wäre er ein geplatzter Autoschlauch. Wir gehen zu Willy hinüber.


Der Grund dafür, daß Eduard das ganze Theater aufführt, ist einfach. Früher konnte man bei ihm auf Abonnement essen. Man kaufte ein Heft mit zehn Eßmarken und bekam die einzelnen Mahlzeiten dadurch etwas billiger. Eduard tat das damals, um das Geschäft zu heben. In den letzten Wochen aber hat ihm die Inflationslawine einen Strich durch die Rechnung gemacht; wenn die erste Mahlzeit eines Heftchens dem Preise noch entsprach, den man gezahlt hatte, so war er bei der zehnten schon erheblich gesunken. Eduard gab deshalb die Abonnementshefte auf; er verlor zuviel dabei. Hier aber waren wir gescheit gewesen. Wir hatten zeitig von seinem Plan gehört und deshalb vor sechs Wochen den gesamten Erlös aus einem Kriegerdenkmal dazu verwendet, im »Walhalla« Eßkarten en gros zu kaufen. Damit es Eduard nicht allzusehr auffiel, hatten wir verschiedene Leute dazu benützt – den Sargtischler Wilke, den Friedhofwärter Liebermann, unseren Bildhauer Kurt Bach, Willy, ein paar andere Kriegskameraden und Geschäftsfreunde, und sogar Lisa. Alle hatten an der Kasse Hefte mit Eßmarken für uns erstanden. Als Eduard dann die Abonnements aufhob, hatte er erwartet, daß binnen zehn Tagen alles erledigt sein würde, weil jedes Heft ja nur zehn Karten enthielt und er annahm, daß ein vernünftiger Mensch nur ein einziges Abonnement habe. Wir aber hatten jeder über dreißig Hefte in unserem Besitz. Vierzehn Tage nach der Aufhebung der Abonnements wurde Eduard unruhig, als wir immer noch mit Marken zahlten; nach vier Wochen hatte er einen leichten Anfall von Panik. Wir aßen um diese Zeit bereits für den halben Preis; nach sechs Wochen für den Preis von zehn Zigaretten. Tag für Tag erschienen wir und gaben unsere Marken ab. Eduard fragte, wieviel wir noch hätten; wir antworteten ausweichend. Er versuchte, die Scheine zu sperren; wir brachten das nächstemal einen Rechtsanwalt mit, den wir zum Wiener Schnitzel eingeladen hatten. Der Anwalt gab Eduard beim Nachtisch eine Rechtsbelehrung über Kontrakte und Verpflichtungen und bezahlte sein Essen mit einem unserer Scheine. Eduards Lyrik nahm dunkle Züge an. Er versuchte, mit uns einen Vergleich zu schließen; wir lehnten ab. Er schrieb ein Lehrgedicht:»Unrecht Gut gedeiht nicht«, und schickte es an das Tageblatt. Der Redakteur zeigte es uns; es war mit scharfen Anspielungen auf die Totengräber des Volkes gespickt; auch Grabsteine kamen darin vor und das Wort Wucher-Kroll. Wir luden unsern Anwalt zu einem Schweinskotelett im »Walhalla« ein. Er machte Eduard den Begriff öffentlicher Beleidigung und seine Folgen klar und zahlte wieder mit einem unserer Scheine. Eduard, der früher reiner Blumen-Lyriker gewesen war, fing an, Haßgedichte zu schreiben. Doch das war auch alles, was er tun konnte. Der Kampf tobt weiter. Eduard hofft täglich, daß unsere Reserven erschöpft sein werden; er weiß nicht, daß wir noch für über sieben Monate Marken haben. Willy erhebt sich. Er trägt einen dunkelgrünen, neuen Anzug aus erstklassigem Stoff und sieht darin aus wie ein rotköpfiger Laubfrosch. Seine Krawatte ist mit einer Perle geschmückt, und auf dem Zeigefinger der rechten Hand trägt er einen schweren Siegelring. Vor fünf Jahren war er Gehilfe unseres Kompaniefouriers. Er ist so alt wie ich – fünfundzwanzig Jahre.

»Darf ich vorstellen?« fragt Willy. »Meine Freunde und Kriegskameraden Georg Kroll und Ludwig Bodmer – Fräulein Renée de la Tour vom Moulin Rouge, Paris.«

Renée de la Tour nickt reserviert, aber nicht unfreundlich. Wir starren Willy an. Willy starrt stolz zurück. »Setzen Sie sich, meine Herren«, sagt er. »Wie ich annehme, hat Eduard euch vom Essen ausschließen wollen. Das Gulasch ist gut, könnte nur mehr Zwiebeln haben. Kommt, wir rücken gern zusammen.«

Wir gruppieren uns um den Tisch. Willy kennt unseren Krieg mit Eduard und verfolgt ihn mit dem Interesse des geborenen Spielers.

»Kellner!« rufe ich.

Ein Kellner, der vier Schritte entfernt auf Plattfüßen an uns vorüberwatschelt, ist plötzlich taub. »Kellner!« rufe ich noch einmal.

»Du bist ein Barbar«, sagt Georg Kroll. »Du beleidigst den Mann mit seinem Beruf. Wozu hat er 1918 Revolution gemacht? Herr Ober!«

Ich grinse. Es ist wahr, daß die deutsche Revolution von 1918 die unblutigste der Welt war. Die Revolutionäre selbst waren von sich so erschreckt, daß sie sofort die Bonzen und Generäle der alten Regierung zu Hilfe riefen, um sie vor ihrem eigenen Mutanfall zu schützen. Die taten es auch großmütig. Eine Anzahl Revolutionäre wurden umgebracht, die Fürsten und Offiziere erhielten großartige Pensionen, damit sie Zeit hatten, Putsche vorzubereiten, Beamte bekamen neue Titel, Oberlehrer wurden Studienräte, Schulinspektoren Schulräte, Kellner erhielten das Recht, mit Oberkellner angeredet zu werden, frühere Parteisekretäre wurden Exzellenzen, der sozialdemokratische Reichswehrminister durfte voller Seligkeit echte Generäle unter sich in seinem Ministerium haben, und die deutsche Revolution versank in rotem Plüsch, Gemütlichkeit, Stammtisch und Sehnsucht nach Uniformen und Kommandos.

»Herr Ober!« wiederholt Georg.

Der Kellner bleibt taub. Es ist der alte, kindische Trick Eduards; er versucht, uns mürbe zu machen, indem er die Kellner instruiert, uns nicht zu bedienen.

»Ober! Kerl, können Sie nicht hören?« brüllt plötzlich eine Donnerstimme in erstklassigem preußischem Kasernenhofton durch den Speisesaal. Sie wirkt auf der Stelle, wie ein Trompetensignal auf alte Schlachtpferde. Der Kellner hält an, als hätte er einen Schuß in den Rücken bekommen, und dreht sich um; zwei andere stürzen von der Seite herbei, irgendwo klappt jemand die Hacken zusammen, ein militärisch aussehender Mann an einem Tisch in der Nähe sagt leise:»Bravo«- und selbst Eduard kommt mit wehendem Bratenrock, um nach dieser Stimme aus höheren Sphären zu forschen. Er weiß, daß weder Georg noch ich so kommandieren können.

Wir sehen uns sprachlos nach Renée de la Tour um. Sie sitzt friedlich und mädchenhaft da, als ginge sie das Ganze nichts an. Dabei kann nur sie es sein, die gerufen hat – wir kennen Willys Stimme.

Der Ober steht am Tisch. »Was befehlen die Herrschaften?«

»Nudelsuppe, Gulasch und rote Grütze für zwei«, erwidert Georg. »Und flott, sonst blasen wir Ihnen die Ohren aus, Sie Blindschleiche!«

Eduard kommt heran. Er versteht nicht, was los ist. Sein Blick gleitet unter den Tisch. Dort ist niemand versteckt, und ein Geist kann nicht so gebrüllt haben. Wir auch nicht, das weiß er. Er vermutet irgendeinen Trick. »Ich muß doch sehr bitten«, sagt er schließlich,»in meinem Lokal kann man nicht solchen Lärm machen.«

Niemand antwortet. Wir sehen ihn nur mit leeren Augen an. Renée de la Tour pudert sich. Eduard dreht sich um und geht.

»Wirt! Kommen Sie mal her!« brüllt plötzlich die Donnerstimme von vorher hinter ihm her.

Eduard schießt herum und starrt uns an. Wir alle haben noch dasselbe leere Lächeln auf unseren Schnauzen. Er faßt Renée de la Tour ins Auge. »Haben Sie da eben -?«

Renée klappt ihre Puderdose zu. »Was?« fragt sie in einem silberhellen, zarten Sopran. »Was wollen Sie?«

Eduard glotzt. Er weiß nicht mehr, was er denken soll.

»Sind Sie vielleicht überarbeitet, Herr Knobloch?« fragt Georg. »Sie scheinen Halluzinationen zu haben.«

»Aber da hat doch jemand gerade -«

»Du bist verrückt, Eduard«, sage ich. »Du siehst auch schlecht aus. Geh auf Urlaub. Wir haben kein Interesse daran, deinen Angehörigen einen billigen Hügelstein aus imitiertem italienischem Marmor zu verkaufen, denn mehr bist du nicht wert -«

Eduard klappert mit den Augen wie ein alter Uhu.

»Sie scheinen ein merkwürdiger Mensch zu sein«, sagt Renée de la Tour in flötenhaftem Sopran. »Dafür, daß Ihre Kellner nicht hören können, machen Sie Ihre Gäste verantwortlich.«

Sie lacht – ein entzückendes, sprudelndes Gequirl von Silber und Wohllaut, wie ein Waldbach im Märchen.

Eduard faßt sich an die Stirn. Sein letzter Halt schwindet. Das Mädchen kann es auch nicht gewesen sein. Wer so lacht, hat keine solche Kommißstimme. »Sie können gehen, Knobloch«, erklärt Georg nachlässig. »Oder haben Sie die Absicht, an der Unterhaltung teilzunehmen?«

»Und iß nicht so viel Fleisch«, sage ich. »Vielleicht kommt es davon! Was hast du uns vorhin noch erklärt? Nach den neuesten wissenschaftlichen Forschungen -«

Eduard dreht sich rasch um und haut ab. Wir warten, bis er weit genug weg ist. Dann beginnt Willys mächtiger Körper in lautlosem Gelächter zu beben. Renée de la Tour lächelt sanft. Ihre Augen funkeln.

»Willy«, sage ich. »Ich bin ein oberflächlicher Mensch, und dieses war deshalb einer der schönsten Momente meines jungen Lebens – aber jetzt erkläre uns, was los ist!«

Willy zeigt, bebend vor schweigendem Gebrüll, auf Renée.

»Excusez, Mademoiselle«, sage ich. »Je me -«

Willys Gelächter verstärkt sich bei meinem Französisch.

»Sag’s ihm, Lotte«, prustet er.

»Was?« fragt Renée mit züchtigem Lächeln, aber plötzlich in leisem, grollendem Baß.

Wir starren sie an. »Sie ist Künstlerin«, würgt Willy hervor. »Duettistin. Sie singt Duette. Aber allein. Eine Strophe hoch, eine tief. Eine im Sopran, eine im Baß.«

Das Dunkel lichtet sich. »Aber der Baß -« frage ich.

»Talent!« erklärt Willy. »Und dann natürlich Fleiß. Ihr solltet mal hören, wie sie einen Ehestreit nachmacht. Lotte ist fabelhaft!«

Wir geben das zu. Das Gulasch erscheint. Eduard umschleicht, von ferne beobachtend, unsern Tisch. Sein Fehler ist, daß er immer herausfinden muß, warum etwas geschieht. Das verdirbt seine Lyrik und macht ihn mißtrauisch im Leben. Augenblicklich grübelt er über den mysteriösen Baß nach. Er weiß nicht, was ihm noch bevorsteht. Georg Kroll, ein Kavalier der alten Schule, hat Renée de la Tour und Willy gebeten, seine Gäste zu sein, um den Sieg zu feiern. Er wird für das vorzügliche Gulasch dem zähneknirschenden Eduard nachher vier Papierstücke einhändigen, für deren Gesamtwert man heute kaum noch ein paar Knochen mit etwas Fleisch daran kaufen kann.


Es ist früher Abend. Ich sitze in meinem Zimmer über dem Büro am Fenster. Das Haus ist niedrig, verwinkelt und alt. Es hat, wie dieser Teil der Straße, früher einmal der Kirche gehört, die am Ende der Straße auf einem Platz steht. Priester und Kirchenangestellte haben in ihm gewohnt; aber seit sechzig Jahren ist es Eigentum der Firma Kroll. Es besteht eigentlich aus zwei niedrigen Häusern, die durch einen Torbogen und den Eingang getrennt sind; in dem zweiten lebt der pensionierte Feldwebel Knopf mit seiner Frau und drei Töchtern. Dann kommt der schöne alte Garten mit unserer Grabsteinausstellung, und links hinten noch eine Art von zweistöckigem hölzernem Schuppen. Unten im Schuppen arbeitet unser Bildhauer Kurt Bach. Er modelliert trauernde Löwen und auffliegende Adler für die Kriegerdenkmäler, die wir verkaufen, und zeichnet die Inschriften auf die Grabsteine, die dann von den Steinmetzen ausgehauen werden. In seiner Freizeit spielt er Gitarre und wandert und träumt von goldenen Medaillen für den berühmten Kurt Bach einer späteren Periode, die nie existieren wird. Er ist zweiunddreißig Jahre alt.

Den oberen Stock des Schuppens haben wir an den Sargtischler Wilke vermietet. Wilke ist ein hagerer Mann, von dem keiner weiß, ob er eine Familie hat oder nicht. Unsere Beziehungen zu ihm sind freundschaftlich, wie alle, die auf gegenseitigem Vorteil beruhen. Wenn wir einen ganz frischen Toten haben, der noch keinen Sarg hat, empfehlen wir Wilke oder geben ihm einen Wink, sich zu kümmern; er tut dasselbe mit uns, wenn er eine Leiche weiß, die noch nicht von den Hyänen der Konkurrenz weggeschnappt worden ist; denn der Kampf um die Toten ist bitter und geht bis aufs Messer. Der Reisende Oskar Fuchs von Hollmann und Klotz, unserer Konkurrenz, benützt sogar Zwiebeln dazu. Bevor er in ein Haus geht, wo eine Leiche liegt, holt er ein paar zerschnittene Zwiebeln aus der Tasche und riecht so lange daran, bis seine Augen voller Tränen stehen – dann marschiert er hinein, markiert Mitgefühl für den teuren Entschlafenen und versucht, das Geschäft zu machen. Er heißt deshalb der Tränen-Oskar. Es ist sonderbar, aber wenn die Hinterbliebenen sich um manchen Toten im Leben nur halb so viel gekümmert hätten wie dann, wenn sie nichts mehr davon haben, hätten die Leichen bestimmt gerne auf das teuerste Mausoleum verzichtet – doch so ist der Mensch: nur was er nicht hat, schätzt er wirklich.

Die Straße füllt sich leise mit dem durchsichtigen Rauch der Dämmerung. Lisa hat bereits Licht; doch diesmal sind die Vorhänge zugezogen, ein Zeichen, daß der Pferdeschlächter da ist. Neben ihrem Hause beginnt der Garten der Weinhandlung Holzmann. Flieder hängt über die Mauern, und von den Gewölben kommt der frische Essiggeruch der Fässer. Aus dem Tor unseres Hauses tritt der pensionierte Feldwebel Knopf. Er ist ein dünner Mann mit einer Schirmmütze und einem Spazierstock, der, trotz seines Berufes und obschon er außer dem Exerzierreglement nie ein Buch gelesen hat, aussieht wie Nietzsche. Knopf geht die Hakenstraße hinunter und schwenkt an der Ecke der Marienstraße links ab. Gegen Mitternacht wird er wieder zurückkommen, dann von rechts – er hat damit seinen Rundgang durch die Kneipen der Stadt beendet, der, wie es sich für einen alten Militär gehört, methodisch erfolgt. Knopf trinkt nur Schnaps, und zwar Korn, nichts anderes. Darin aber ist er der größte Kenner, den es gibt. In der Stadt existieren etwa drei oder vier Firmen, die Korn brennen. Für uns schmecken ihre Schnäpse alle ungefähr gleich. Nicht so für Knopf; er unterscheidet sie schon am Geruch. Vierzig Jahre unermüdlicher Arbeit haben seine Zunge so verfeinert, daß er sogar bei derselben Kornsorte herausschmecken kann, aus welcher Kneipe sie kommt. Er behauptet, die Keller wären verschieden, und er könne das unterscheiden. Natürlich nicht bei Korn in Flaschen; nur bei Korn in Fässern. Er hat schon manche Wette damit gewonnen.

Ich stehe auf und sehe mich im Zimmer um. Die Decke ist niedrig und schräg, und die Bude ist nicht groß, aber ich habe darin, was ich brauche – ein Bett, ein Regal mit Büchern, einen Tisch, ein paar Stühle und ein altes Klavier. Vor fünf Jahren, als Soldat im Felde, hätte ich nie geglaubt, daß ich es wieder einmal so gut haben würde. Wir lagen damals in Flandern, es war der große Angriff am Kemmelberg, und wir verloren drei Viertel unserer Kompanie. Georg Kroll kam mit einem Bauchschuß am zweiten Tag ins Lazarett, aber bei mir dauerte es fast drei Wochen, bis ich mit einem Knieschuß erwischt wurde. Dann kam der Zusammenbruch, ich wurde schließlich Schulmeister, meine kranke Mutter hatte das gewollt, und ich hatte es ihr versprochen, bevor sie starb. Sie war so viel krank gewesen, daß sie dachte, wenn ich einen Beruf mit lebenslänglicher Anstellung als Beamter hätte, könnte wenigstens mir nichts mehr passieren. Sie starb in den letzten Monaten des Krieges, aber ich machte trotzdem meine Prüfung und wurde auf ein paar Dörfer in der Heide geschickt, bis ich genug davon hatte, Kindern Sachen einzutrichtern, an die ich selbst längst nicht mehr glaubte, und lebendig begraben zu sein zwischen Erinnerungen, die ich vergessen wollte.


Ich versuche zu lesen; aber es ist kein Wetter zum Lesen. Der Frühling macht unruhig, und in der Dämmerung verliert man sich leicht. Alles ist dann gleich ohne Grenzen und macht atemlos und verwirrt. Ich zünde das Licht an und fühle mich sofort geborgener. Auf dem Tisch liegt ein gelber Aktendeckel mit Gedichten, die ich auf der Erika-Schreibmaschine in drei Durchschlägen getippt habe. Ab und zu schicke ich ein paar dieser Durchschläge an Zeitungen. Sie kommen entweder zurück, oder die Zeitungen antworten nicht; dann tippe ich neue Durchschläge und probiere es wieder. Nur dreimal habe ich etwas veröffentlichen können, im Tageblatt der Stadt, allerdings mit Georgs Hilfe, der den Lokalredakteur kennt. Immerhin, das hat dafür genügt, daß ich Mitglied des Werdenbrücker Dichterklubs geworden bin, der bei Eduard Knobloch einmal in der Woche in der Altdeutschen Stube tagt. Eduard hat kürzlich versucht, mich wegen der Eßmarken als moralisch defekt ausschließen zu lassen; aber der Klub hat gegen Eduards Stimme erklärt, ich handle höchst ehrenwert, nämlich so, wie seit Jahren die gesamte Industrie und Geschäftswelt unseres geliebten Vaterlandes – und außerdem habe Kunst mit Moral nichts zu schaffen.

Ich lege die Gedichte beiseite. Sie wirken plötzlich flach und kindisch, wie die typischen Versuche, die fast jeder junge Mensch einmal macht. Im Felde habe ich damit angefangen, aber da hatte es einen Sinn – es nahm mich für Augenblicke weg von dem, was ich sah, und es war eine kleine Hütte von Widerstand und Glauben daran, daß noch etwas jenseits von Zerstörung und Tod existiere. Doch das ist lange her; ich weiß heute, daß noch vieles andere daneben existiert, und ich weiß auch, daß beides sogar zur gleichen Zeit existieren kann. Meine Gedichte brauche ich dazu nicht mehr; in meinen Bücherregalen ist das alles viel besser gesagt. Aber was würde mit einem passieren, wenn das schon ein Grund wäre, etwas aufzugeben? Wo blieben wir alle? So schreibe ich weiter, doch oft genug erscheint es mir grau und papieren gegen den Abendhimmel, der jetzt über den Dächern weit und apfelfarben wird, während der violette Aschenregen der Dämmerung schon die Straßen füllt.

Ich gehe die Treppen hinunter, am dunklen Büro vorbei, in den Garten. Die Haustür der Familie Knopf steht offen. Wie in einer feurigen Höhle sitzen da die drei Töchter Knopfs im Licht an ihren Nähmaschinen und arbeiten. Die Maschinen surren. Ich werfe einen Blick auf das Fenster neben dem Büro. Es ist dunkel; Georg ist also bereits irgendwohin verschwunden. Auch Heinrich ist in den tröstlichen Hafen seines Stammtisches eingekehrt. Ich mache eine Runde durch den Garten. Jemand hat die Beete begossen, die Erde ist feucht und riecht stark. Wilkes Sargtischlerei ist leer, und auch bei Kurt Bach ist es still. Die Fenster stehen offen; ein halbfertiger trauernder Löwe kauert auf dem Boden, als habe er Zahnschmerzen, und daneben stehen friedlich zwei leere Bierflaschen.

Ein Vogel fängt plötzlich an zu singen. Es ist eine Drossel. Sie sitzt auf der Spitze des Kreuzdenkmals, das Heinrich Kroll verschachert hat, und hat eine Stimme, die viel zu groß ist für den kleinen schwarzen Ball mit dem gelben Schnabel. Sie jubelt und klagt und bewegt mir das Herz. Ich denke einen Augenblick daran, daß ihr Lied, das für mich Leben und Zukunft und Träume und alles Ungewisse, Fremde und Neue bedeutet, für die Würmer, die sich aus der feuchten Gartenerde um das Kreuzdenkmal jetzt heraufarbeiten, ohne Zweifel nichts weiter ist, als das grauenhafte Signal des Todes durch Zerhacken mit fürchterlichen Schnabelhieben – trotzdem kann ich mir nicht helfen, es schwemmt mich weg, es lockert alles auf, ich stehe auf einmal hilflos und verloren da und wundere mich, daß ich nicht zerreiße oder wie ein Ballon in den Abendhimmel fliege, bis ich mich schließlich fasse und durch den Garten und den Nachtgeruch zurückstolpere, die Treppen hinauf, zum Klavier, und auf die Tasten haue und sie streichle und versuche, auch so etwas wie eine Drossel zu sein, und herauszuschmettern und zu beben, was ich fühle -: aber es wird dann doch zum Schluß nichts anderes daraus als ein Haufen von Arpeggien und Fetzen von ein paar Schmachtschlagern und Volksliedern und etwas aus dem Rosenkavalier und aus Tristan, ein Gemisch und ein Durcheinander, bis jemand von der Straße heraufschreit:»Mensch, lerne doch erst einmal richtig spielen!«

Ich breche ab und schleiche zum Fenster. Im Dunkel verschwindet eine dunkle Gestalt; sie ist bereits zu weit weg, um ihr etwas an den Kopf zu werfen, und wozu auch? Sie hat ja recht. Ich kann nicht richtig spielen, weder auf dem Klavier noch auf dem Leben, nie, nie habe ich es gekonnt, immer war ich zu hastig, immer zu ungeduldig, immer kam etwas dazwischen, immer brach es ab – aber wer kann schon richtig spielen, und wenn er es kann, was nützt es ihm dann? Ist das große Dunkel darum weniger aussichtslos, brennt die Verzweiflung über die ewige Unzulänglichkeit darum weniger schmerzhaft, und ist das Leben dadurch jemals zu erklären und zu fassen und zu reiten wie ein zahmes Pferd, oder ist es immer wie ein mächtiges Segel im Sturm, das uns trägt und uns, wenn wir es greifen wollen, ins Wasser fegt? Da ist manchmal ein Loch vor mir, das scheint bis in den Mittelpunkt der Erde zu reichen. Was füllt es aus? Die Sehnsucht? Die Verzweiflung? Ein Glück? Und welches? Die Müdigkeit? Die Resignation? Der Tod? Wozu lebe ich? Ja, wozu lebe ich?

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