Ich vertreibe vorsichtig den ehemaligen Briefträger Roth, einen kleinen Mann, dessen Amtsbezirk während des Krieges unser Stadtteil gewesen ist. Roth war ein empfindsamer Mensch und nahm es sich sehr zu Herzen, daß er damals so oft zum Unglücksboten werden mußte. In all den Jahren des Friedens hatte man ihm immer freudig entgegengesehen, wenn er Post brachte; im Kriege aber wurde er mehr und mehr eine Gestalt, die fast nurmehr Furcht einflößte. Er brachte die Einziehungsbefehle der Armee und die gefürchteten amtlichen Kuverts mit dem Inhalt:»Auf dem Felde der Ehre gefallen«, und je länger der Krieg dauerte, um so öfter brachte er sie, und sein Kommen weckte Jammer, Flüche und Tränen. Als er dann eines Tages sich selbst eines der gefürchteten Kuverts zustellen mußte und eine Woche später ein zweites, da war es aus mit ihm. Er wurde still und auf eine sanfte Weise verrückt und mußte von der Postverwaltung pensioniert werden. Damit war er, wie so viele andere, zum langsamen Hungertode während der Inflation verurteilt, da alle Pensionen immer viel zu spät aufgewertet wurden. Ein paar Bekannte nahmen sich des einsamen alten Mannes an, und ein paar Jahre nach dem Kriege begann er wieder auszugehen; doch sein Geist blieb verwirrt. Er glaubt, immer noch Briefträger zu sein, und geht mit einer alten Berufskappe umher, um den Leuten weiter Nachrichten zu bringen; aber nach all den Unglücksmeldungen will er jetzt gute bringen. Er sammelt alte Briefumschläge und Postkarten, wo er sie findet, und teilt sie dann aus als Nachrichten aus russischen Gefangenenlagern. Die Totgeglaubten seien noch am Leben, erklärt er dazu. Sie seien nicht gefallen. Bald kämen sie heim.
Ich betrachte die Karte, die er mir dieses Mal in die Hand gedrückt hat. Es ist eine uralte Drucksache mit der Aufforderung, an der Preußischen Kassenlotterie teilzunehmen; ein blödsinniger Witz heute, in der Inflation. Roth muß sie irgendwo aus einem Papierkorb gefischt haben; sie ist an einen Schlächter Sack gerichtet, der lange tot ist. »Danke vielmals«, sage ich. »Das ist eine rechte Freude!«
Roth nickt. »Sie kommen jetzt bald heim aus Rußland, unsere Soldaten.«
»Ja, natürlich.«
»Sie kommen alle heim. Es dauert nur etwas lange. Rußland ist so groß.«
»Ihre Söhne auch, hoffe ich.«
Roths verwaschene Augen beleben sich. »Ja, meine auch. Ich habe schon Nachricht.«
»Noch einmal vielen Dank«, sage ich.
Roth lächelt, ohne mich anzusehen, und geht weiter. Die Postverwaltung hat anfangs versucht, ihn von seinen Gängen abzuhalten, und sogar seine Einsperrung beantragt; doch die Leute haben sich widersetzt, und man läßt ihn jetzt in Ruhe. In einer rechtspolitischen Kneipe sind allerdings ein paar Stammgäste vor kurzem einmal auf die Idee gekommen, Roth mit Briefen, in denen unflätige Beschimpfungen standen, zu politischen Gegnern zu schicken – ebenso mit zweideutigen Briefen zu alleinstehenden Frauen. Sie fanden das zwerchfellerschütternd. Auch Heinrich Kroll fand, es sei kerniger, volkstümlicher Humor. Heinrich ist in der Kneipe, unter seinesgleichen, überhaupt ein ganz anderer Mann als bei uns; er gilt da sogar als Witzbold.
Roth hat natürlich längst vergessen, in welchen Häusern Leute gefallen sind. Er verteilt seine Karten wahllos, und obschon ein Beobachter der nationalen Biertrinker mitging und aufpaßte, daß die beleidigenden Briefe des Stammtisches an die richtigen Adressen gelangten, indem er Roth die Häuser zeigte und sich dann versteckte, passierte doch ab und zu ein Irrtum, und Roth verwechselte ein paar Briefe. So kam einer, der an Lisa gerichtet war, an den Vikar Bodendiek. Er enthielt eine Aufforderung zum Geschlechtsverkehr um ein Uhr nachts im Gebüsch hinter der Marienkirche gegen das Entgelt von zehn Millionen Mark. Bodendiek beschlich die Beobachter wie Indianer, trat plötzlich zwischen sie, schlug zweien, ohne zu fragen, die Schädel zusammen und gab dem flüchtenden dritten einen so furchtbaren Fußtritt, daß er in die Luft gehoben wurde und nur mit Mühe entkommen konnte. Erst dann stellte Bodendiek, ein Meister in der Kunst, rasche Beichten zu erzielen, an die beiden Gefangenen seine Fragen, die durch Ohrfeigen mit seinen riesigen Bauernpfoten unterstützt wurden. Die Bekenntnisse kamen bald, und da die beiden Erwischten katholisch waren, stellte er ihre Namen fest und befahl sie am nächsten Tag entweder zur Beichte oder zur Polizei. Sie kamen natürlich lieber zur Beichte. Bodendiek gab ihnen das Ego te absolvo, befolgte dabei aber das Rezept des Dompastors mit mir – er befahl ihnen, als Buße eine Woche nicht zu trinken und dann wieder zum Beichten zu kommen. Da beide fürchteten, exkommuniziert zu werden, wenn sie die Buße nicht ausführten, und da sie es nicht soweit kommen lassen wollten, mußten sie wieder erscheinen, und Bodendiek verdonnerte sie erbarmungslos, jede folgende Woche wieder zu beichten und nicht zu trinken, und machte so aus ihnen zähneknirschende, abstinente, erstklassige Christen. Er erfuhr nie, daß der dritte Sünder der Major Wolkenstein war, der nach dem Fußtritt eine Prostatakur durchmachen mußte, dadurch politisch noch bedeutend schärfer wurde und schließlich zu den Nazis überging.
Die Türen zum Hause Knopf stehen offen. Die Nähmaschinen summen. Am Morgen sind Stöße von schwarzem Tuch hereingeschafft worden, und Mutter und Töchter arbeiten jetzt an ihren Trauerkleidern. Der Feldwebel ist noch nicht tot, aber der Arzt hat erklärt, daß es nur noch eine Sache von Stunden oder höchstens Tagen sein könne. Er hat Knopf aufgegeben. Da die Familie es als schweren Reputationsverlust betrachten würde, in hellen Kleidern dem Tode zu begegnen, wird eilig vorgesorgt. Im Augenblick, wo Knopf den letzten Atemzug tut, wird die Familie gerüstet sein mit schwarzen Kleidern, einem Trauerschleier für Frau Knopf, schwarzen, undurchsichtigen Strümpfen für alle vier, und sogar mit schwarzen Hüten. Der kleinbürgerlichen Ehrbarkeit wird Genüge getan sein.
Georgs kahler Kopf schwimmt wie ein halber Käse über den Fensterrand heran. Er ist begleitet von Tränen-Oskar.
»Wie steht der Dollar?« frage ich, als sie eintreten.
»Genau eine Milliarde heute um zwölf Uhr«, erwidert Georg. »Wir können es als Jubiläum feiern, wenn wir wollen.«
»Das können wir. Und wann sind wir pleite?«
»Wenn wir ausverkauft haben. Was trinken Sie, Herr Fuchs?«
»Was Sie haben. Schade, daß es hier in Werdenbrück keinen Wodka gibt!«
»Wodka? Waren Sie im Kriege in Rußland?«
»Und wie! Ich war sogar Friedhofskommandant in Rußland. Was waren das für herrliche Zeiten!«
Wir blicken Oskar überrascht an. »Herrliche Zeiten?« sage ich. »Das behaupten Sie, der Sie so feinfühlig sind, daß Sie sogar auf Befehl weinen können?«
»Es waren herrliche Zeiten«, erklärt Tränen-Oskar fest und beriecht seinen Korn, als hätten wir vor, ihn zu vergiften. »Reichlich zu essen, gut zu trinken, angenehmer Dienst, weit hinter der Front – was will man mehr? An den Tod gewöhnt der Mensch sich ja wie an eine ansteckende Krankheit.«
Er probiert dandyhaft seinen Korn. Wir sind etwas perplex über die Tiefe seiner Philosophie. »Manche Leute gewöhnen sich an den Tod auch wie an einen vierten Mann beim Skatspielen«, sage ich. »Zum Beispiel der Totengräber Liebermann. Für den ist es so, als ob er auf dem Friedhof einen Garten bearbeitet. Aber ein Künstler wie Sie -!«
Oskar lächelt überlegen. »Da ist noch ein Riesenunterschied! Liebermann fehlt das wirkliche metaphysische Feingefühl: das ewige Stirb und Werde.«
Georg und ich sehen uns betroffen an. Sollte Tränen-Oskar ein verhinderter Poet sein?»Haben Sie das dauernd?« frage ich. »Dieses Stirb und Werde?«
»Mehr oder minder. Zumindest unbewußt. Haben Sie es hier denn nicht, meine Herren?«
»Wir haben es mehr sporadisch«, erwidere ich. »Hauptsächlich vor dem Essen.«
»Einmal war der Besuch Seiner Majestät bei uns angesagt«, sagt Oskar träumerisch. »Gott, war das eine Aufregung! Zum Glück waren noch zwei andere Friedhöfe in der Nähe, und wir konnten ausborgen.«
»Was ausborgen?« fragt Georg. »Grabschmuck? Oder Blumen?«
»Ach, das war alles in Ordnung. Echt preußisch, verstehen Sie? Nein, Leichen.«
»Leichen?«
»Natürlich, Leichen! Nicht als Leichen, selbstverständlich, sondern als das, was sie vorher gewesen waren. Musketiere hatte jeder Friedhof natürlich übergenug, Gefreite, Unteroffiziere, Vizefeldwebel und Leutnants auch – aber dann, bei den höheren Chargen, begannen die Schwierigkeiten. Mein Kollege auf dem Nachbarfriedhof hatte zum Beispiel drei Majore; ich hatte keinen. Dafür aber hatte ich zwei Oberstleutnants und einen Oberst. Ich tauschte mit ihm einen Oberstleutnant gegen zwei Majore. Außerdem bekam ich bei dem Handel noch eine fette Gans dazu, so eine Schande schien es meinem Kollegen zu sein, keinen Oberstleumant zu haben. Er wußte nicht, wie er Seiner Majestät ohne toten Oberstleutnant entgegentreten sollte.«
Georg bedeckt sein Gesicht mit der Hand. »Ich wage nicht einmal jetzt, darüber nachzudenken.«
Oskar nickt und zündet sich eine dünne Zigarette an. »Das war noch gar nichts gegen den dritten Friedhofskommandanten«, erklärt er behaglich. »Der hatte überhaupt kein höheres Gemüse. Nicht einmal einen Major. Leutnants natürlich in rauhen Mengen. Er war verzweifelt. Ich war gut assortiert und tauschte schließlich einen der Majore, die ich für meinen Oberstleutnant erhalten hatte, gegen zwei Hauptleute und einen etatsmäßigen Feldwebel um, eigentlich mehr aus Kulanz. Hauptleute hatte ich selbst; nur der etatsmäßige Spieß war selten. Sie wissen, diese Schweine sitzen immer weit hinter der Front und kommen fast nie ins Feuer; dafür sind sie dann auch solche Leuteschinder – also ich nahm die drei aus Kulanz und weil es mir Freude machte, einen etatsmäßigen Spieß zu haben, der nicht mehr brüllen konnte.«
»Hatten Sie keinen General?« frage ich.
Oskar winkt ab. »General! Ein gefallener General ist so selten wie -« er sucht nach einem Vergleich. »Sind Sie Käfersammler?«
»Nein«, erwidern Georg und ich unisono.
»Schade«, sagt Oskar. »Also wie ein Riesenhirschkäfer, Lucanus Cervus, oder, wenn Sie Schmetterlingssammler sind, wie ein Totenkopfschwärmer. Wie sollte es sonst Kriege geben? Schon mein Oberst war vom Schlag getroffen worden. Aber dieser Oberst -«
Tränen-Oskar grinst plötzlich. Es ist ein sonderbarer Effekt; er hat vom vielen Weinen so viele Falten im Gesicht wie ein Bluthund und auch gewöhnlich denselben trüb-feierlichen Ausdruck. »Also der dritte Kommandant mußte natürlich einen Stabsoffizier haben. Er bot mir dafür alles an, was ich wollte, aber ich war komplett; ich hatte sogar meinen etatsmäßigen Spieß, dem ich ein schönes Eckgrab an auffallender Stelle gegeben hatte. Schließlich gab ich nach – für sechsunddreißig Flaschen besten Wodka. Allerdings gab ich dafür meinen Obersten, nicht meinen Oberstleutnant. Sechsunddreißig Flaschen! Daher, meine Herren, heute noch meine Vorliebe für Wodka. Man kriegt ihn hier natürlich nirgendwo.«
Oskar läßt sich herbei, als Ersatz noch einen Korn zu nehmen.
»Wozu haben Sie sich mit den Leichen soviel Arbeit gemacht?« fragt Georg. »Sie mußten sie doch alle umbetten. Warum haben Sie nicht einfach ein paar Kreuze mit fingierten Namen und Chargen aufgestellt, und damit fertig? Sie hätten dann sogar einen Generalleutnant haben können.«
Oskar ist schockiert. »Aber Herr Kroll!« sagt er milde vorwurfsvoll. »Das wäre doch eine Fälschung gewesen. Vielleicht sogar Leichenschändung -«
»Leichenschändung nur dann, wenn Sie einen toten Major für einen niedrigeren Rang ausgegeben hätten«, sage ich. »Nicht aber bei einem Musketier, den Sie für einen Tag zum General gemacht hätten.«
»Sie hätten die fingierten Kreuze auf leeren Gräbern aufstellen können«, fügt Georg hinzu. »Dann wäre es keine Leichenschändung gewesen.«
»Es wäre Fälschung geblieben. Und es hätte rauskommen können«, erwidert Oskar. »Schon durch die Totengräber. Und was dann? Außerdem – ein falscher General?« Er schüttelt sich innerlich. »Seine Majestät kannten doch bestimmt ihre Generäle.«
Wir lassen das auf sich beruhen. Oskar auch. »Wissen Sie, was das Komische bei der Sache war?« Wir schweigen. Die Frage kann nur rhetorisch gemeint sein und erfordert keine Antwort.
»Einen Tag vor der Besichtigung wurde alles abgesagt. Seine Majestät kamen überhaupt nicht. Ein Meer von Primeln und Narzissen hatten wir gepflanzt.«
»Haben Sie die Austauschtoten dann zurückgegeben?« fragt Georg.
»Das hätte zuviel Arbeit gemacht. Die Papiere waren auch schon geändert. Und die Angehörigen waren informiert worden, daß ihre Toten verlegt worden seien. Das kam ja öfter vor. Friedhöfe gerieten in die Kampfzone, und nachher mußte alles neu angelegt werden. Wütend war nur der Kommandant mit dem Wodka. Er versuchte sogar, bei mir mit seinem Fahrer einzubrechen, um die Kisten zurückzuholen; aber ich hatte sie längst glänzend versteckt. In einem leeren Grab.« Oskar gähnt. »Ja, das waren Zeiten, damals! Ein paar tausend Gräber hatte ich unter mir. Heute«- er zieht einen Zettel aus der Tasche -»zwei mittlere Hügelsteine mit Marmorplatten, Herr Kroll, das ist leider alles.«
Ich gehe durch den eindunkelnden Garten der Anstalt. Isabelle ist heute zum ersten Male seit langem wieder in der Andacht gewesen. Ich suche sie, kann sie aber nicht finden. Statt dessen begegne ich Bodendiek, der nach Weihrauch und Zigarren riecht.
»Was sind Sie augenblicklich?« fragt er. »Atheist, Buddhist, Zweifler oder schon auf dem Wege zu Gott zurück?«
»Jeder befindet sich immer auf dem Wege zu Gott«, antworte ich kampfmüde. »Es kommt nur darauf an, was er darunter versteht.«
»Bravo«, sagt Bodendiek. »Wernicke sucht Sie übrigens. Warum kämpfen Sie eigentlich so verbissen um so etwas Einfaches wie den Glauben?«
»Weil im Himmel mehr Freude ist über einen kämpfenden Zweifler als über neunundneunzig Vikare, die von Kindheit an Hosianna singen«, erwidere ich.
Bodendiek schmunzelt. Ich will nicht mit ihm streiten; ich erinnere mich an seine Leistung im Gebüsch der Marienkirche. »Wann sehe ich Sie im Beichtstuhl?« fragt er.
»So wie die zwei Sünder von der Marienkirche?«
Er stutzt. »So, Sie wissen das? Nein, nicht so. Sie kommen freiwillig! Warten Sie nicht zu lange!«
Ich erwidere nichts darauf, und wir verabschieden uns herzlich. Auf dem Wege zu Wernickes Zimmer flattern die Blätter der Bäume wie Fledermäuse durch die Luft. Es riecht überall nach Erde und Herbst. Wo ist der Sommer geblieben? denke ich. Er war doch kaum da!
Wernicke packt einen Haufen Papiere beiseite. »Haben Sie Fräulein Terhoven gesehen?« fragt er.
»In der Kirche. Sonst nicht.«
Er nickt. »Kümmern Sie sich vorläufig nicht um sie.«
»Schön«, sage ich. »Weitere Befehle?«
»Seien Sie nicht albern! Es sind keine Befehle. Ich tue, was ich für meine Kranken für richtig halte.« Er sieht mich genauer an. »Sie sind doch nicht etwa verliebt?«
»Verliebt? In wen?«
»In Fräulein Terhoven. In wen sonst? Eine hübsche Krabbe ist sie ja. Verdammt, daran habe ich bei der ganzen Sache überhaupt nicht gedacht.«
»Ich auch nicht. Bei was für einer Sache?«
»Dann ist es ja gut.« Er lacht. »Außerdem hätte es Ihnen gar nichts geschadet.«
»So?« erwidere ich. »Ich dachte bisher, nur Bodendiek wäre hier der Stellvertreter Gottes. Jetzt haben wir auch noch Sie. Sie wissen genau, was schadet und was nicht, wie?«
Wernicke schweigt einen Augenblick. »Also doch«, sagt er dann. »Na, wenn schon! Schade, daß ich nicht mal zuhören konnte! Gerade bei Ihnen! Müssen schöne Mondkalbdialoge gewesen sein! Nehmen Sie eine Zigarre. Haben Sie gemerkt, daß es Herbst ist?«
»Ja«, sage ich. »Darin kann ich Ihnen beistimmen.«
Wernicke hält mir die Kiste mit den Zigarren hin. Ich nehme eine, um nicht zu hören, daß, wenn ich sie zurückweise, das ein weiteres Zeichen von Verliebtheit sei. Mir ist plötzlich so elend, daß ich kotzen möchte. Trotzdem zünde ich die Zigarre an.
»Ich bin Ihnen wohl eine Erklärung schuldig«, sagt Wernikke. »Die Mutter! Ich habe sie wieder zwei Abende hier gehabt. Sie ist endlich niedergebrochen. Mann früh gestorben; Mutter hübsch, jung; Hausfreund, in den die Tochter offenbar auch stark verschossen war; Mutter und Hausfreund unvorsichtig, Tochter eifersüchtig, überrascht sie in einer sehr intimen Situation, hatte sie vielleicht schon länger beobachtet – verstehen Sie?«
»Nein«, sage ich. Mir ist das alles ebenso widerlich wie Wernickes stinkende Zigarre.
»Also soweit sind wir«, fährt Wernicke mit Gusto fort. »Haß der Tochter, Ekel, Komplex, Rettung in Spaltung der Persönlichkeit, speziell den Typ, der alle Realität flieht und ein Traumleben führt. Mutter hat den Hausfreund später noch geheiratet, das brachte es dann ganz zur Krise – verstehen Sie jetzt?«
»Nein.«
»Aber es ist doch so einfach«, sagt Wernicke ungeduldig. »Schwer war nur, an den Kern heranzukommen, aber jetzt -« er reibt sich die Hände. »Dazu haben wir nun noch das Glück, daß der zweite Mann, der vorherige Hausfreund, Ralph oder Rudolph oder so ähnlich hieß er, jetzt nicht mehr blockierend da ist. Geschieden vor drei Monaten, vor zwei Wochen Autounfall, tot – die Ursache ist also beseitigt, der Weg ist frei – jetzt müssen Sie doch endlich kapieren?«
»Ja«, sage ich und möchte dem fröhlichen Wissenschaftler einen Chloroformlappen in den Rachen stopfen.
»Na, sehen Sie! Jetzt kommt es auf die Auslösung an. Die Mutter, die plötzlich keine Rivalin mehr ist, die Begegnung, sorgfältig vorbereitet – ich arbeite schon seit einer Woche daran, und alles geht sehr gut, Sie haben ja gesehen, daß Fräulein Terhoven heute abend schon wieder zur Andacht gegangen ist -«
»Sie meinen, Sie haben sie bekehrt? Sie, der Atheist, und nicht Bodendiek?«
»Unsinn!« sagt Wernicke, etwas ärgerlich über meinen Stumpfsinn. »Darauf kommt es doch nicht an! Ich meine, daß sie aufgeschlossener wird, zugänglicher, freier – haben Sie das denn nicht auch gemerkt, als Sie das letztemal hier waren?«
»Ja.«
»Na sehen Sie!« Wernicke reibt sich wieder die Hände.
»Das war nach dem ersten starken Schock doch ein recht erfreuliches Ergebnis -«
»War der Schock nun auch ein Ergebnis Ihrer Behandlung?«
»Er gehört dazu.«
Ich denke an Isabelle in ihrem Zimmer. »Gratuliere«, sage ich.
Wernicke merkt die Ironie nicht, so sehr ist er bei der Sache. »Die erste flüchtige Begegnung und die Behandlung haben natürlich alles zurückgebracht; das war ja auch die Absicht – aber seitdem – ich habe große Hoffnungen! Sie verstehen, daß ich jetzt nichts brauchen kann, was ablenken könnte -«
»Das verstehe ich. Nicht mich.«
Wernicke nickt. »Ich wußte, daß Sie es verstehen würden! Sie haben ja auch etwas von der Neugier des Wissenschaftlers. Eine Zeitlang waren Sie sehr brauchbar, aber jetzt – was ist los mit Ihnen? Ist Ihnen zu heiß?«
»Es ist die Zigarre. Zu stark.«
»Im Gegenteil!« erklärt der unermüdliche Wissenschaftler. »Diese Brasils sehen stark aus – sind aber das Leichteste, was es gibt.«
Das ist manches, denke ich, und lege das Kraut weg. »Das menschliche Gehirn!« sagt Wernicke fast schwärmerisch.
»Früher wollte ich mal Matrose und Abenteurer und Forscher im Urwald werden – lachhaft! Das größte Abenteuer steckt hier!«
Er klopft sich an die Stirn. »Ich glaube, ich habe Ihnen das schon früher einmal erklärt.«
»Ja«, sage ich. »Schon oft.«
Die grünen Schalen der Kastanien rascheln unter meinen Füßen. Verliebt wie ein Mondkalb, denke ich, was versteht dieser Tatsachenkaffer schon darunter? Wenn es so einfach wäre! Ich gehe zum Tor und streife fast an eine Frau, die mir langsam entgegenkommt. Sie trägt eine Pelzstola und gehört nicht zur Anstalt. Ich sehe ein blasses verwischtes Gesicht im Dunkeln, und ein Ruch von Parfüm weht hinter ihr her. »Wer war das?« frage ich den Wächter am Ausgang.
»Eine Dame für Doktor Wernicke. War schon ein paarmal hier. Hat, glaub’ ich, einen Patienten hier.«
Die Mutter, denke ich und hoffe, daß es nicht so sei. Ich bleibe draußen stehen und starre zur Anstalt hinüber. Wut packt mich, Zorn, lächerlich gewesen zu sein, und dann ein erbärmliches Mitleid mit mir selber – aber schließlich bleibt nichts als Hilflosigkeit. Ich lehne mich an eine Kastanie und fühle den kühlen Stamm und weiß nicht, was ich will und was ich möchte.
Ich gehe weiter, und während ich gehe, wird es besser. Laß sie reden, Isabelle, denke ich, laß sie lachen über uns als Mondkälber! Du süßes, geliebtes Leben, du fliegendes, ungehemmtes, das da sicher trat, wo andere versinken, das schwebte, wo andere mit Kanonenstiefeln trampeln, aber das sich verstrickte und blutig riß in Spinnenfäden und an Grenzen, die die anderen nicht sehen – was wollen sie nur von dir? Wozu müssen sie dich so gierig zurückreißen wollen in ihre Welt, in unsere Welt, warum lassen sie dir nicht dein Schmetterlingsdasein jenseits von Ursache und Wirkung und Zeit und Tod? Ist es Eifersucht? Ist es Ahnungslosigkeit? Oder ist es wahr, was Wernicke sagt, daß er dich retten muß davor, daß es schlimmer wird, vor den namenlosen Ängsten, die noch gekommen wären, stärker als die, die er selbst beschworen hat, und schließlich vor dem krötenhaften Dahindämmern in Stumpfsinn? Aber ist er sicher, daß er das kann? Ist er sicher, daß er nicht gerade mit seinen Rettungsversuchen dich zerbricht oder dich rascher dahin stößt, wovor er dich retten will? Wer weiß das? Was weiß dieser Wissenschaftler, dieser Schmetterlingssammler schon vom Fliegen, vom Wind, von den Gefahren und dem Entzücken der Tage und Nächte ohne Raum und Zeit? Kennt er die Zukunft? Hat er den Mond getrunken? Weiß er, daß Pflanzen schreien? Er lacht darüber. Für ihn ist das alles nur eine Ausweichreaktion auf ein brutales Erlebnis. Aber ist er ein Prophet, der voraussieht, was geschehen wird? Ist er Gott, daß er weiß, was geschehen muß? Was hat er schon von mir gewußt? Daß es ganz gut wäre, wenn ich etwas verliebt gewesen wäre? Aber was weiß ich selbst davon? Es ist aufgebrochen und strömt und hat kein Ende, was habe ich davon geahnt? Wie kann man so hingegeben sein an jemand? Habe ich es nicht selbst immer wieder fortgewiesen in den Wochen, die nun wie ein unerreichbarer Sonnenuntergang fern am Horizont liegen? Aber was klage ich? Worum habe ich Angst? Kann nicht alles gut werden und Isabelle gesund und -
Da stocke ich. Was dann? Wird sie nicht fortgehen? Und ist dann nicht plötzlich eine Mutter mit einer Pelzstola da, mit diskretem Parfüm, mit Verwandten im Hintergrund und Ansprüchen für ihre Tochter? Ist sie dann nicht verloren für mich, der nicht einmal genug Geld zusammenbringen kann, um sich einen Anzug zu kaufen? Und bin ich vielleicht nur deshalb so verwirrt? Aus stumpfem Egoismus, und alles andere ist nur Dekoration?
Ich trete in eine Kcllerkneipe. Ein paar Chauffeure sitzen da, ein welliger Spiegel wirft mir vom Büfett her mein verzogenes Gesicht zurück, und vor mir, in einem Glaskasten, liegt ein halbes Dutzend vertrockneter Brötchen mit Sardinen, die vor Alter die Schwänze hochkrümmen. Ich trinke einen Korn und habe das Gefühl, daß mein Magen ein tiefes, reißendes Loch hat. Ich esse die Brötchen mit den Sardinen und noch einige andere mit altem, hochgewölbtem Schweizer Käse; sie schmecken scheußlich, aber ich stopfe sie in mich hinein und esse Würstchen hinterher, die so rot sind, daß sie fast wiehern, und ich werde immer unglücklicher und hungriger und könnte das Büfett anfressen.
»Mensch, Sie haben aber einen schönen Appetit«, sagte der Wirt.
»Ja«, sage ich. »Haben Sie noch irgend etwas?«
»Erbsensuppe. Dicke Erbsensuppe, wenn Sie da noch Brot reinbrocken -«
»Gut, geben Sie mir die Erbsensuppe.«
Ich schlinge die Erbsensuppe hinunter, und der Wirt bringt mir freiwillig, als Zugabe, noch einen Kanten Brot mit Schweineschmalz. Ich verputze ihn auch und bin hungriger und unglücklicher als vorher. Die Chauffeure fangen an, sich für mich zu interessieren. »Ich kannte mal jemand, der konnte dreißig harte Eier auf einen Sitz essen«, sagt einer.
»Das ist ausgeschlossen. Da stirbt er; das ist wissenschaftlich nachgewiesen.«
Ich starre den Wissenschaftler böse an. »Haben Sie es gesehen?« frage ich.
»Es ist sicher«, erwidert er.
»Es ist gar nicht sicher. Wissenschaftlich nachgewiesen ist nur, daß Chauffeure früh sterben.«
»Wieso denn das?«
»Wegen der Benzindämpfe. Langsame Vergiftung.«
Der Wirt erscheint mit einer Art italienischem Salat. Er hat seine Schläfrigkeit gegen ein sportliches Interesse eingetauscht. Woher er den Salat mit der Mayonnaise hat, ist ein Rätsel. Der Salat ist sogar frisch. Vielleicht hat er ihn von seinem eigenen Abendessen geopfert. Ich vertilge ihn noch und breche auf – mit brennendem Magen, der immer noch leer scheint und um nichts getröstet.
Die Straßen sind grau und trübe beleuchtet. Bettler stehen überall herum. Es sind nicht die Bettler, die man früher kannte – es sind jetzt Amputierte und Schüttler und Arbeitslose und alte, stille Leute mit Gesichtern wie aus zerknittertem farblosem Papier. Ich schäme mich plötzlich, daß ich so sinnlos gefressen habe. Hätte ich das, was ich hinuntergeschlungen habe, an zwei oder drei dieser Leute gegeben, so wären sie für einen Abend satt geworden, und ich wäre nicht hungriger, als ich es jetzt noch bin. Ich nehme das Geld, das ich noch bei mir habe, aus der Tasche und gebe es weg. Es ist nicht mehr viel, und ich beraube mich nicht damit; morgen um zehn Uhr früh wird es ohnehin ein Viertel weniger wert sein, wenn der Dollarkurs herauskommt. Die deutsche Mark hat zum Herbst hin die zehnfache galoppierende Schwindsucht bekommen. Die Bettler wissen es und verschwinden sofort, da jede Minute kostbar ist; der Preis für die Suppe kann in einer Stunde schon um einige Millionen Mark gestiegen sein. Das richtet sich danach, ob der Wirt morgen wieder einkaufen muß oder nicht – und auch danach, ob er ein Geschäftemacher ist oder selbst ein Opfer. Wenn er selbst ein Opfer ist, ist er Manna für die kleineren Opfer und erhöht seine Preise zu spät.
Ich gehe weiter. Aus dem Stadtkrankenhaus kommen ein paar Leute. Sie umgeben eine Frau, die ihren rechten Arm in einer Schiene hochgebunden hat. Ein Geruch von Verbandsmitteln weht mit ihr vorbei. Das Krankenhaus steht wie eine Lichtburg in der Dunkelheit. Fast alle Fenster sind erleuchtet; jedes Zimmer scheint besetzt zu sein. In der Inflation sterben die Leute schnell. Wir wissen das auch.
Ich gehe in der Großen Straße noch zu einem Kolonialwarengeschäft, das oft noch nach dem offiziellen Ladenschluß offen ist. Wir haben mit der Besitzerin ein Abkommen getroffen. Sie hat für ihren Mann von uns einen mittleren Hügelstein geliefert bekommen, und wir haben dafür das Recht, zum Dollarkurs vom zweiten September für Mark im Werte von sechs Dollar Waren bei ihr zu entnehmen. Es ist ein verlängertes Tauschgeschäft. Das Tauschen ist ohnehin längst überall Mode. Man tauscht alte Betten gegen Kanarienvögel und Nippsachen, Porzellan gegen Wurst, Schmuck gegen Kartoffeln, Möbel gegen Brot, Klaviere gegen Schinken, gebrauchte Rasierklingen gegen Gemüseabfall, alte Pelze gegen umgearbeitete Militärjacken und den Nachlaß Verstorbener gegen Lebensmittel. Georg hatte vor vier Wochen sogar eine Chance, einen fast neuen Smoking beim Verkauf einer abgebrochenen Marmorsäule mit Fundament einzuhandeln. Er hat nur schweren Herzens darauf verzichtet, da er abergläubisch ist und glaubt, in den Sachen der Toten bleibe lange Zeit noch etwas von den Toten zurück. Die Witwe erklärte ihm, sie habe den Smoking chemisch reinigen lassen; er sei damit also eigentlich vollkommen neu, und man hätte annehmen können, daß die Chlordämpfe den Verstorbenen aus jeder Falte vertrieben hätten. Georg schwankte sehr, denn der Smoking paßte ihm; er verzichtete dann aber trotzdem.
Ich drücke die Klinke des Ladens nieder. Die Tür ist verschlossen. Natürlich, denke ich und starre hungrig durch das Fenster auf die Auslagen. Müde gehe ich schließlich nach Hause. Auf dem Hof stehen sechs kleine Sandsteinplatten. Sie sind noch jungfräulich, kein Name ist auf sie eingehauen. Kurt Bach hat sie angefertigt. Es ist zwar eine Schändung seines Talentes, da es gewöhnliche Steinmetzarbeit ist, aber wir haben im Augenblick keine Aufträge für sterbende Löwen und Kriegerdenkmäler – deshalb arbeitet Kurt auf Vorrat sehr kleine, billige Platten, die wir immer brauchen, zumal jetzt bis im Herbst, wo es, wie im Frühjahr, wieder ein großes Sterben geben wird. Grippe, Hunger, schlechte Kost und mangelnde Widerstandskraft werden dafür sorgen.
Gedämpft summen die Nähmaschinen hinter der Haustür der Familie Knopf. Durch das Glasfenster der Tür dringt das Licht vom Wohnzimmer, in dem die Trauerkleider genäht werden. Das Fenster des alten Knopf ist dunkel. Wahrscheinlich ist er schon tot. Wir sollten ihm den schwarzen Obelisken aufs Grab setzen, denke ich, diesen finsteren Steinfinger, der aus der Erde in den Himmel zeigt. Für Knopf war er eine zweite Heimat, und verkaufen haben ja bereits zwei Generationen von Krolls den dunklen Ankläger nicht können.
Ich gehe ins Büro. »Komm herein!« ruft Georg, der mich gehört hat, aus seinem Zimmer.
Ich öffne die Tür und staune. Georg sitzt im Lehnstuhl, wie üblich, die Zeitschriften mit Bildern vor sich. Der wöchentliche Lesezirkel der eleganten Welt, dem er angehört, hat ihm gerade neues Futter gebracht. Das aber ist nicht alles – er sitzt da im Smoking, mit einem gestärkten Hemd und sogar einer weißen Weste, ein Bild wie aus der Zeitschrift: Der Junggeselle. »Also doch!« sage ich. »Du hast die Mahnung deiner Instinkte der Vergnügungssucht geopfert. Der Smoking der Witwe!«
»Keineswegs!« Georg räkelt sich selbstgefällig. »Was du hier siehst, ist ein Beispiel dafür, wie sehr uns Frauen im Einfall überlegen sind. Es ist ein anderer Smoking. Die Witwe hat den ihren bei einem Schneider dafür eingetauscht und auf diese Weise gezahlt, ohne mein Zartgefühl zu verletzen – Du siehst es hier – der Smoking der Witwe war auf Satin gefüttert, dieser hier hat reine Seide. Er paßt mir auch unter den Ärmeln besser. Der Preis ist, durch die Inflation, in Goldmark derselbe; das Stück eleganter. So macht sich Zartgefühl ausnahmsweise einmal sogar bezahlt.«
Ich betrachte ihn. Der Smoking ist gut, aber auch nicht ganz neu. Ich vermeide es, Georgs Zartgefühl zu verwirren und zu behaupten, daß auch dieses Stück wahrscheinlich von einem Toten stamme. Was stammt schließlich nicht von Toten? Unsere Sprache, unsere Gewohnheiten, unser Wissen, unsere Verzweiflung – was nicht? Georg allerdings hat im Kriege, besonders im letzten Jahr, so viele Uniformen von Toten getragen, manchmal noch mit fahlen Blutflecken und den gestopften Einschußlöchern, daß es nicht nur neurotisches Zartgefühl bei ihm ist, wenn er das jetzt nicht mehr will – es ist Rebellion und der Wunsch nach Frieden. Und Frieden symbolisiert sich für ihn darin, nicht mehr Anzüge von Toten tragen zu müssen.
»Was machen die Filmschauspielerinnen Henny Porten, Erna Morena und die unvergeßliche Lia de Putti?« frage ich.
»Sie haben dieselben Sorgen wie wir!« erklärt Georg.
»Sich so schnell wie möglich in Sachwerte zu flüchten, Autos, Pelze, Tiaras, Hunde, Häuser, Aktien und Filmproduzenten – nur fällt es ihnen leichter als uns.«
Er schaut liebevoll auf das Bild einer Hollywood-Party. In unbeschreiblicher Eleganz sieht man dort das Bild eines Balles. Die Herren sind, wie Georg, im Smoking oder im Frack. »Wann bekommst du einen Frack?« frage ich.
»Nachdem ich mit meinem Smoking auf dem ersten Ball gewesen bin. Ich werde dazu nach Berlin ausreißen! Drei Tage! Irgendwann, wenn die Inflation zu Ende ist und Geld wieder Geld ist und kein Wasser. Inzwischen bereite ich mich vor, wie du siehst.«
»Dir fehlen die Lackschuhe«, sage ich, zu meinem Erstaunen irritiert über den selbstzufriedenen Mann von Welt.
Georg holt das goldene Zwanzigmarkstück aus der Westentasche, wirft es hoch, fängt es auf und steckt es wortlos wieder ein. Ich betrachte ihn mit fressendem Neid. Da sitzt er, ohne viel Sorgen, eine Zigarre steckt in seiner Brusttasche, sie wird nicht bitter wie Galle schmecken wie mir Wernickes Brasil, drüben haust Lisa und ist vernarrt in ihn, einfach, weil er der Sohn einer Familie ist, die bereits ein Geschäft hatte, während ihr Vater noch ein Gelegenheitsarbeiter war. Sie hat ihn als Kind angestaunt, wenn er einen weißen Umlegekragen trug und auf den Locken, die er damals noch besaß, eine Matrosenmütze, während sie ein Kleid aus dem alten Rock ihrer Mutter schleppte – und bei diesem Staunen ist es geblieben. Georg braucht nichts weiter zu seiner Glorie zu tun. Lisa weiß nicht einmal, glaube ich, daß er kahl ist – für sie ist er immer noch der bürgerliche Prinz im Matrosenanzug.
»Du hast es gut«, sage ich.
»Ich verdiene es auch«, erwidert Georg und klappt die Hefte des Lesezirkels Modernitas zu. Dann holt er ein Kistchen Sprotten von der Fensterbank und zeigt auf ein halbes Brot und ein Stück Butter. »Wie wäre es mit einem schlichten Nachtessen mit Blick auf das abendliche Leben einer mittleren Stadt?«
Es sind dieselben Sprotten, bei denen mir auf der Großen Straße vor dem Laden das Wasser im Munde zusammengelaufen ist. Jetzt kann ich sie plötzlich nicht mehr sehen.
»Du erstaunst mich«, sage ich. »Warum ißt du zu Abend? Warum dinierst du nicht in deiner Kluft im ehemaligen Hotel Hohenzollern, im jetzigen Reichshof? Kaviar und Seetiere?«
»Ich liebe Kontraste«, erwidert Georg. »Wie sollte ich sonst leben, als Grabsteinhändler in einer Kleinstadt mit der Sehnsucht nach der großen Welt?«
Er steht in voller Pracht am Fenster. Über die Straße kommt plötzlich ein heiserer Bewunderungsruf. Georg stellt sich en face, die Hände in den Hosentaschen, so daß die weiße Weste zur Geltung kommt. Lisa zerschmilzt, soweit das bei ihr möglich ist. Sie zieht den Kimono um sich, vollführt eine Art arabischen Tanz, wickelt sich heraus, steht plötzlich nackt und dunkel als Silhouette vor ihrer Lampe, wirft den Kimono wieder um, stellt die Lampe neben sich und ist aufs neue warm und braun, von Kranichen überflogen, ein weißes Lachen wie eine Gardenie im gierigen Mund. Georg, wie ein Pascha, nimmt die Huldigung hin und läßt mich wie einen Eunuchen, der nicht zählt, daran teilnehmen. Er hat durch diesen Augenblick für lange Zeit hinaus den Knaben im Matrosenanzug, der dem zerlumpten Mädel imponiert hat, aufs neue in seiner Stellung gefestigt. Dabei ist ein Smoking für Lisa, die unter den Schiebern der Roten Mühle zu Hause ist, wahrhaftig nichts Neues; aber bei Georg ist das natürlich etwas ganz anderes. Reines Gold. »Du hast es gut«, sage ich noch einmal. »Und einfach! Riesenfeld könnte sich Arterien aufbeißen, Gedichte machen und seine Granitwerke ruinieren – er würde nicht schaffen, was du als Mannequin erreichst.«
Georg nickt. »Es ist ein Geheimnis! Aber dir will ich es verraten. Tue nie etwas kompliziert, was auch einfach geht. Es ist eine der größten Lebensweisheiten, die es gibt. Sehr schwer anzuwenden. Besonders für Intellektuelle und Romantiker.«
»Sonst noch was?«
»Nein. Aber produziere dich nie als geistiger Herkules, wenn eine neue Hose dasselbe erreicht. Du irritierst so deinen Partner nicht, er braucht sich nicht anzustrengen, dir zu folgen, du bleibst ruhig und gelassen, und das, was du willst, fällt dir, bildlich gesprochen, in den Schoß.«
»Mach dir keinen Fettfleck auf die Seidenaufschläge«, sage ich. »Sprotten tropfen leicht.«
»Du hast recht.« Georg zieht den Rock aus. »Man soll sein Glück nie forcieren. Ein weiteres beachtenswertes Motto.«
Er greift wieder nach den Sprotten. »Warum schreibst du nicht Motto-Serien für Kalenderfirmen?« frage ich erbittert den leichtfertigen Bauchredner der Lebensweisheit. »Es ist schade, solche Platitüden nur so in das Universum hineinzureden.«
»Ich schenke sie dir. Für mich ist das ein Stimulans, keine Platitüde. Wer von Natur schwermütig ist und noch einen solchen Beruf hat, muß alles tun, um sich zu erheitern, und soll dabei nicht wählerisch sein. Abermals ein Motto.«
Ich sehe, daß ich ihm nicht beikommen kann, und verschwinde deshalb, als die Sprottenkiste leer ist, in meiner Bude. Aber auch da kann ich mich nicht austoben – nicht einmal auf dem Klavier, des sterbenden oder toten Feldwebels wegen -, und Trauermärsche, das einzig Mögliche, habe ich ohnedem genug im Kopf.