VII

Riesenfeld hat Wort gehalten. Der Hof ist voll von Denkmälern und Sockeln. Die allseitig polierten sind in Latten eingeschlagen und in Sackleinen eingehüllt. Sie sind die Primadonnen unter den Leichensteinen und müssen äußerst vorsichtig behandelt werden, damit den Kanten nichts geschieht.

Die ganze Belegschaft steht im Hof, um zu helfen und zuzusehen. Sogar die alte Frau Kroll wandert umher, prüft die Schwärze und Feinheit des Granits und wirft ab und zu einen wehmütigen Blick auf den Obelisken neben der Tür – das einzige, was von den Einkäufen ihres toten Gemahls übriggeblieben ist.

Kurt Bach dirigiert einen mächtigen Block Sandstein in seine Werkstatt. Ein neuer sterbender Löwe wird daraus entstehen, aber dieses Mal nicht gebeugt, mit Zahnschmerzen, sondern mit letzter Kraft brüllend, einen abgebrochenen Speer in der Flanke. Er ist für das Kriegerdenkmal des Dorfes Wüstringen bestimmt, in dem ein besonders zackiger Kriegerverein unter dem Befehl des Majors a. D. Wolkenstein haust. Wolkenstein war der trauernde Löwe zu waschlappig. Er hätte am liebsten einen mit vier feuerspeienden Köpfen bestellt.

Eine Sendung der Württembergischen Metallwarenfabrik, die gleichzeitig angekommen ist, wird ebenfalls ausgepackt. Vier auffliegende Adler werden in einer Reihe nebeneinander auf den Boden gestellt, zwei aus Bronze und zwei aus Gußeisen. Sie sind da, um andere Kriegerdenkmäler zu krönen und die Jugend des Landes für einen neuen Krieg zu begeistern – denn, wie Major a. D. Wolkenstein so überzeugend erklärt: Einmal müssen wir schließlich doch gewinnen, und dann wehe den anderen! Vorläufig sehen die Adler allerdings nur wie riesige Hühner aus, die Eier legen wollen – doch das wird sich schon ändern, wenn sie erst oben auf den Denkmälern thronen. Auch Generäle wirken ohne Uniform leicht wie Heringsbändiger, und sogar Wolkenstein sieht in Zivil nur aus wie ein fetter Sportlehrer. Aufmachung und Distanz sind alles in unserem geliebten Vaterland.

Ich überwache, als Reklamechef, die Anordnung der Denkmäler. Sie sollen nicht beziehungslos nebeneinanderstehen, sondern freundliche Gruppen bilden und künstlerisch durch den Garten verteilt werden. Heinrich Kroll ist dagegen. Er hat lieber, wenn die Steine wie Soldaten ausgerichtet sind; alles andere erscheint ihm verweichlicht. Zum Glück wird er überstimmt. Auch seine Mutter ist gegen ihn. Sie ist eigentlich immer gegen ihn. Sie weiß heute noch nicht, wieso Heinrich ihr Kind ist und nicht das der Majorin a. D. Wolkenstein.


Der Tag ist blau und sehr schön. Der Himmel bauscht sich wie ein riesiges Seidenzelt über der Stadt. Die feuchte Kühle des Morgens hängt noch in den Kronen der Bäume. Die Vögel zwitschern, als gäbe es nur den beginnenden Sommer, die Nester und das junge Leben darin. Es geht sie nichts an, daß der Dollar wie ein häßlicher, schwammiger Pilz auf fünfzigtausend angeschwollen ist. Auch nicht, daß in der Morgenzeitung drei Selbstmorde gemeldet worden sind – alle von ehemaligen kleinen Rentnern; alle auf die Lieblingsart der Armen begangen: mit dem offenen Gashahn. Die Rentnerin Kubalke ist mit dem Kopf im Backofen ihres Herdes gefunden worden; der pensionierte Rechnungsrat Hopf frisch rasiert, in seinem letzten, tadellos gebürsteten, stark geflickten Anzug, vier wertlose rotgestempelte Tausendmarkscheine wie Einlaßbillette zum Himmel in der Hand; und die Witwe Glaß auf dem Flur ihrer Küche, ihr Sparkassenbuch, das eine Einlage von fünfzigtausend Mark zeigte, zerrissen neben sich. Die rotgestempelten Tausendmarkscheine Hopfs sind eine letzte Fahne der Hoffnung gewesen; seit langem bestand der Glaube, sie würden irgendwann einmal wieder aufgewertet werden. Woher das Gerücht kam, weiß kein Mensch. Nirgendwo auf ihnen steht, daß sie in Gold auszahlbar sind, und selbst wenn es dastünde: der Staat, dieser immune Betrüger, der selbst Billionen unterschlägt, aber jeden, der ihm nur fünf Mark veruntreut, einsperrt, würde schon einen Kniff finden, sie nicht auszuzahlen. Erst vorgestern hat in der Zeitung eine Erklärung gestanden, daß sie keine Vorzugsbehandlung genießen würden. Dafür steht heute die Todesanzeige Hopfs drin.


Aus der Werkstatt des Sargtischlers Wilke dringt Klopfen, als hause dort ein riesiger fröhlicher Specht. Wilkes Geschäft blüht; einen Sarg braucht schließlich jeder, sogar ein Selbstmörder – die Zeit der Massengräber und der Beerdigungen in Zeltbahnen ist seit dem Krieg vorbei. Man verfault wieder standesgemäß, in langsam morsch werdendem Holz, im Totenhemd oder im Frack ohne Rücken und im Totenkleid aus weißem Crêpe de Chine. Der Bäckermeister Niebuhr sogar im Schmuck aller seiner Orden und Vereinsabzeichen; seine Frau hat darauf bestanden. Auch eine Kopie der Vereinsfahne des Gesangvereins Eintracht hat sie ihm mitgegeben. Er war dort zweiter Tenor. Jeden Samstag brüllte er das »Schweigen im Walde« und »Stolz weht die Flagge schwarzweiß-rot«, trank genug Bier, um fast zu platzen, und ging dann nach Hause, seine Frau zu verprügeln. Ein aufrechter Mann, wie der Pastor am Grabe sagte.

Heinrich Kroll verschwindet zum Glück um zehn Uhr, mit Fahrrad und gestreifter Hose, um auf die Dörfer zu gehen. So viel frischer Granit macht sein Kaufmannsherz unruhig; er muß los, ihn an die trauernden Hinterbliebenen zu bringen.

Wir können uns jetzt freier entfalten. Zunächst machen wir eine Pause und werden von Frau Kroll mit Leberwurstbutterbroten und Kaffee erquickt. Lisa erscheint am Hoftor. Sie trägt ein knallrotes Seidenkleid. Die alte Frau Kroll verscheucht sie mit einem Blick. Sie kann Lisa nicht ausstehen, obschon sie keine Kirchenläuferin ist.

»Diese dreckige Schlampe«, erklärt sie zielsicher.

Georg fällt prompt darauf herein. »Dreckig? Wieso ist sie dreckig?«

»Sie ist dreckig, siehst du das nicht? Ungewaschen, aber einen Seidenfetzen darüber.«

Ich sehe, daß Georg unwillkürlich nachdenklich wird. Dreck hat keiner gern an der Geliebten, wenn er nicht dekadent ist. Seine Mutter hat eine Sekunde lang eine Art Triumphblitz im Auge; dann wechselt sie das Thema. Ich schaue sie bewundernd an; sie ist ein Feldherr mit mobilen Einheiten – schlägt rasch zu, und wenn der Gegner sich langsam zur Wehr anschickt, ist sie schon ganz woanders. Lisa mag schlampig sein; aber auffallend dreckig ist sie bestimmt nicht.

Die drei Töchter des Feldwebels Knopf schwirren aus dem Hause. Sie sind klein, rundlich und flink, Näherinnen wie ihre Mutter. Den ganzen Tag surren ihre Maschinen. Jetzt zwitschern sie davon, Pakete mit unerschwinglich teuren seidenen Hemden für die Schieber in ihren Händen. Knopf, der alte Militär, gibt von seiner Pension keinen Pfennig an den Haushalt ab; dafür haben die vier Frauen zu sorgen.

Vorsichtig packen wir unsere beiden schwarzen Kreuzdenkmäler aus. Eigentlich sollten sie im Eingang stehen, um einen reichen Effekt zu machen, und im Winter hätten wir sie auch dahin gestellt; aber es ist Mai, und so sonderbar es auch sein mag: unser Hof ist ein Tummelplatz der Katzen und der Liebenden. Die Katzen schreien bereits im Februar von den Hügelsteinen herab und jagen sich hinter den Grabeinfassungen aus Zement – die Liebenden aber stellen sich prompt ein, wenn es warm genug ist, im Freien zu lieben – und wann ist es dazu zu kalt? Die Hakenstraße ist abgelegen und still, unser Hoftor einladend und der Garten alt und groß. Die etwas makabre Ausstellung stört die Liebespaare nicht; im Gegenteil, sie scheint sie zu besonderem Ungestüm anzufachen. Es ist erst zwei Wochen her, daß ein Kaplan aus dem Dorf Halle, der wie alle Gottesmänner mit den Hühnern aufzustehen gewohnt ist, morgens um sieben bei uns erschien, um vier der kleinsten Hügelsteine für die Gräber von im Laufe des Jahres verstorbenen barmherzigen Schwestern zu kaufen. Als ich ihn schlaftrunken in den Garten führte, konnte ich gerade noch rechtzeitig ein rosa Höschen aus Kunstseide entfernen, das wie eine Fahne am rechten Arm unseres allseitig polierten Kreuzdenkmals flatterte und von einem begeisterten nächtlichen Paar vergessen worden war. Das Leben zu säen an der Stätte des Todes hat sicher etwas im weiten, poetischen Sinne Versöhnliches, und Otto Bambuss, der dichtende Schulmeister unseres Klubs, hat, als ich ihm das erzählte, die Idee sofort gestohlen und zu einer Elegie mit kosmischem Humor verarbeitet – aber sonst kann es doch recht störend wirken, besonders wenn in der Nähe dann noch eine leere Schnapsflasche in der frühen Sonne glänzt.


Ich übersehe die Ausstellung. Sie wirkt gefällig, soweit man das von Leichensteinen sagen kann. Die beiden Kreuze stehen schimmernd auf ihren Sockeln in der Morgensonne, Symbole der Ewigkeit, geschliffene Teile der einst glühenden Erde, erkaltet, poliert und jetzt bereit, für immer den Namen irgendeines erfolgreichen Geschäftsmannes oder reichen Schiebers für die Nachwelt aufzubewahren – denn selbst ein Gauner will nicht gern ganz ohne Spur von diesem Planeten verschwinden.

»Georg«, sage ich,»wir müssen aufpassen, daß dein Bruder unser Werdenbrücker Golgatha nicht an ein paar Mistbauern verkauft, die erst nach der Ernte zahlen. Laß uns an diesem blauen Tag, unter Vogelgesang und Kaffeegeruch, einen heiligen Schwur schwören: Die beiden Kreuze werden nur gegen Barzahlung verkauft!«

Georg schmunzelt. »Es ist nicht ganz so gefährlich. Wir haben unsern Wechsel in drei Wochen einzulösen. Solange wir das Geld früher hereinbekommen, haben wir verdient.«

»Was verdient?« erwidere ich. »Eine Illusion – bis zum nächsten Dollarkurs.«

»Du bist manchmal zu geschäftlich«, Georg zündet sich umständlich eine Zigarre im Werte von fünftausend Mark an. »Anstatt zu jammern solltest du lieber die Inflation als umgekehrtes Symbol des Lebens auffassen. Jeder gelebte Tag ist ein Tag Dasein weniger. Wir leben vom Kapital, nicht von den Zinsen. Jeden Tag steigt der Dollar; aber jede Nacht fällt der Kurs deines Lebens um einen Tag. Wie wäre es mit einem Sonett darüber?«

Ich betrachte den selbstgefälligen Sokrates der Hakenstraße. Leichter Schweiß ziert seinen kahlen Kopf wie Perlen ein helles Kleid. »Es ist erstaunlich, wie philosophisch man sein kann, wenn man nachts nicht allein geschlafen hat«, sage ich.

Georg zuckt nicht mit der Wimper. »Wann sonst?« erklärt er ruhig. »Philosophie soll heiter sein und nicht gequält. Metaphysische Spekulationen damit zu verknüpfen ist dasselbe, wie Sinnenfreude mit dem, was die Mitglieder eures Dichterklubs ideale Liebe nennen. Es wird ein unerträglicher Mischmasch.«

»Ein Mischmasch?« sage ich, irgendwo getroffen. »Sieh einmal an, du Kleinbürger des Abenteuers! Du Schmetterlingssammler, der alles auf Nadeln spießen will! Weißt du nicht, daß man tot ist ohne das, was du Mischmasch nennst?«

»Nicht die Spur. Ich halte nur die Dinge auseinander.«

Georg bläst mir den Rauch seiner Zigarre ins Gesicht.

»Ich leide lieber würdig und mit philosophischer Schwermut an der Flüchtigkeit des Lebens, als daß ich den vulgären Irrtum mitmache, irgendeine Minna oder Anna mit dem kühlen Geheimnis des Daseins zu verwechseln und anzunehmen, die Welt ende, wenn Minna oder Anna einen anderen Karl oder Josef bevorzugen. Oder eine Erna einen riesigen Säugling in englischem Kammgarn.«

Er grinst. Ich sehe ihm kalt in sein verräterisches Auge.

»Ein billiger Schuß, Heinrichs würdig!« sage ich. »Du schlichter Genießer des Erreichbaren! Willst du mir einmal erklären, wozu du denn mit Leidenschaft Zeitschriften liest, in denen es von unerreichbaren Sirenen, Skandalen aus der höchsten Gesellschaft, Damen des Theaters und Herzensbrecherinnen im Film nur so wimmelt?«

Georg bläst mir abermals für dreihundert Mark Rauch in die Augen. »Das tue ich für meine Phantasie. Hast du nie etwas von himmlischer und irdischer Liebe gehört? Du hast doch erst kürzlich versucht, sie in deiner Erna zu vereinigen, und eine schöne Lehre bekommen, du braver Kolonialwarenhändler der Liebe, der Sauerkraut und Kaviar im selben Laden haben möchte! Weißt du denn immer noch nicht, daß dann das Sauerkraut nie nach Kaviar, aber der Kaviar immer nach Sauerkraut schmeckt? Ich halte sie weit auseinander, und du solltest das auch tun! Es macht das Leben bequem. Und nun komm, wir wollen Eduard Knobloch peinigen. Er serviert heute Schmorbraten mit Nudeln.«

Ich nicke und hole wortlos meinen Hut. Georg hat mich, ohne es zu merken, schwer angeschlagen – aber der Teufel soll mich holen, wenn ich es ihn merken lasse.


Als ich zurückkomme, sitzt Gerda Schneider im Büro. Sie trägt einen grünen Sweater, einen kurzen Rock und große Ohrringe mit falschen Steinen. An die linke Seite des Sweaters hat sie eine der Blumen aus Riesenfelds Bukett gesteckt, das außerordentlich dauerhaft gewesen sein muß. Sie deutet darauf und sagt: »Merci! Alles war neidisch. Das war ein Busch für eine Primadonna.«

Ich sehe sie an. Da sitzt wahrscheinlich genau das, was Georg unter irdischer Liebe versteht, denke ich – klar, fest, jung und ohne Phrasen. Ich habe ihr Blumen geschickt, und sie ist gekommen, basta. Sie hat die Blumen so aufgefaßt, wie ein vernünftiger Mensch es tun sollte. Anstatt langes Theater zu machen, ist sie da. Sie hat akzeptiert, und jetzt ist eigentlich nichts mehr zu besprechen.

»Was machst du heute nachmittag?« fragt sie.

»Ich arbeite bis fünf. Dann gebe ich einem Idioten eine Nachhilfestunde.«

»Worin? In Idiotie?«

Ich grinse. »Wenn man es richtig ansieht, ja.«

»Das wäre bis sechs. Komm nachher in den Altstädter Hof. Ich trainiere da.«

»Gut«, sage ich, bevor ich nachdenke.

Gerda steht auf. »Also dann -«

Sie hält mir ihr Gesicht hin. Ich bin überrascht. So viel hatte ich mit meiner Blumensendung gar nicht beabsichtigt. Aber warum eigentlich nicht? Georg hat wahrscheinlich recht: Liebesschmerz soll man nicht mit Philosophie bekämpfen – nur mit einer anderen Frau. Vorsichtig küsse ich Gerda auf die Wange. »Dummkopf!« sagt sie und küßt mich herzhaft auf den Mund. »Reisende Artisten haben nicht viel Zeit übrig für Firlefanz. In zwei Wochen muß ich weiter. Also bis heute abend.«

Sie geht aufrecht mit ihren festen, kräftigen Beinen und den kräftigen Schultern hinaus. Auf dem Kopf trägt sie eine rote Baskenmütze. Sie scheint Farben zu lieben. Draußen bleibt sie neben dem Obelisken stehen und blickt auf unser Golgatha. »Das ist unser Lager«, sage ich.

Sie nickt. »Bringt es was ein?«

»So so – in diesen Zeiten -«

»Und du bist hier angestellt?«

»Ja. Komisch, was?«

»Nichts ist komisch«, sagt Gerda. »Was sollte ich sonst sagen, wenn ich in der Roten Mühle meinen Kopf von rückwärts durch die Beine stecke? Glaubst du, Gott hätte das gewollt, als er mich erschuf? Also bis sechs.«

Die alte Frau Kroll kommt mit einer Gießkanne aus dem Garten. »Das ist ein ordentliches Mädchen«, sagt sie und blickt Gerda nach. »Was ist sie?«

»Akrobatin.«

»So, Akrobatin!« erwidert sie überrascht. »Akrobatinnen sind meistens ordentliche Menschen. Sie ist keine Sängerin, was?«

»Nein. Eine richtige Akrobatin. Mit Saltos, Handständen und Verrenkungen wie ein Schlangenmensch.«

»Sie kennen sie ja ziemlich genau. Wollte sie etwas kaufen?«

»Noch nicht.«

Sie lacht. Ihre Brillengläser glitzern. »Mein lieber Ludwig«, sagt sie. »Sie glauben nicht, wie närrisch Ihnen Ihr jetziges Leben einmal vorkommen wird, wenn Sie siebzig sind.«

»Dessen bin ich noch gar nicht so sicher«, erkläre ich. »Es kommt mir nämlich gerade jetzt schon ziemlich närrisch vor. Was halten Sie übrigens von der Liebe?«

»Wovon?«

»Von der Liebe. Der himmlischen und der irdischen Liebe.«

Frau Kroll lacht herzlich. »Das habe ich längst vergessen. Gott sei Dank!«


Ich stehe in der Buchhandlung Arthur Bauers. Heute ist der Zahlungstag für die Nachhilfestunden, die ich seinem Sohn erteile. Arthur junior hat die Gelegenheit benützt, mir zur Begrüßung ein paar Heftzwecken auf meinen Stuhl zu legen. Ich hätte ihm dafür gerne sein Schafsgesicht in das Goldfischglas getunkt, das den Plüschsalon ziert, aber ich mußte mich beherrschen – Arthur junior weiß das.

»Also Yoga«, sagt Arthur senior jovial und schiebt mir einen Packen Bücher zu. »Ich habe Ihnen hier herausgelegt, was wir haben. Yoga, Buddhismus, Askese, Nabelschau – wollen Sie Fakir werden?«

Ich mustere ihn mißbilligend. Er ist klein, hat einen Spitzbart und flinke Augen. Noch ein Schütze heute, denke ich, der auf mein ramponiertes Herz anlegt! Aber dich billige Spottdrossel werde ich schon kriegen, du bist kein Georg! Scharf sage ich:»Was ist der Sinn des Lebens, Herr Bauer?«

Arthur sieht mich erwartungsvoll wie ein Pudel an. »Und?«

»Was, und?«

»Wo ist die Pointe? Sie erzählen doch einen Witz – oder nicht?«

»Nein«, erwidere ich kühl. »Dies ist eine Rundfrage zum Heile meiner jungen Seele. Ich stelle sie vielen Menschen, besonders solchen, die es wissen sollten.«

Arthur greift in seinen Bart wie in eine Harfe. »Sie fragen doch nicht im Ernst, an einem Montagnachmittag, mitten in der Hauptgeschäftszeit, so etwas Blödsinniges, und wollen auch noch eine Antwort darauf haben?«

»Doch«, sage ich. »Aber bekennen Sie nur gleich! Sie wissen es auch nicht! Sie, trotz aller Ihrer Bücher!«

Arthur gibt seinen Bart frei, um sich in den Locken zu wühlen. »Herrgott, was manche Menschen für Sorgen haben! Erörtern Sie die Sache doch in Ihrem Dichterklub!«

»Im Dichterklub gibt es nur poetische Verbrämungen dafür. Ich aber will die Wahrheit wissen. Wozu existiere ich sonst und bin kein Wurm?«

»Wahrheit!« Arthur meckert. »Das ist was für Pilatus! Mich geht das nichts an. Ich bin Buchhändler, Gatte und Vater, das genügt mir.«

Ich sehe den Buchhändler, Gatten und Vater an. Er hat einen Pickel rechts neben der Nase. »So, das genügt Ihnen«, sage ich schneidend.

»Das genügt«, erwidert Arthur fest. »Manchmal ist es schon zu viel.«

»Genügte es Ihnen auch, als Sie fünfundzwanzig Jahre alt waren?«

Arthur öffnet seine blauen Augen, so weit er kann. »Mit fünfundzwanzig? Nein. Damals wollte ich es noch werden.«

»Was?« frage ich hoffnungsvoll. »Ein Mensch?«

»Besitzer dieser Buchhandlung, Gatte und Vater. Mensch bin ich sowieso. Fakir noch nicht.«

Er schwänzelt nach diesem harmlosen zweiten Schuß eilig davon, einer Dame mit reichem Hängebusen entgegen, die einen Roman von Rudolf Herzog verlangt. Ich blättere flüchtig in den Büchern über das Glück der Askese und lege sie rasch beiseite. Tagsüber ist man zu diesen Dingen bedeutend weniger aufgelegt als nachts, allein, wenn einem nichts anderes übrigbleibt.

Ich gehe zu den Regalen mit den Werken über Religion und Philosophie. Sie sind Arthur Bauers Stolz. Er hat hier so ziemlich alles, was die Menschheit in ein paar tausend Jahren über den Sinn des Lebens zusammengedacht hat. Es müßte also möglich sein, für ein paar hunderttausend Mark ausreichend darüber informiert zu werden – eigentlich bereits für weniger, sagen wir für zwanzig- bis dreißigtausend Mark; denn wenn der Sinn des Lebens erkennbar wäre, sollte schon ein einziges Buch dazu genügen. Aber wo ist es? Ich blicke die Reihen hinauf und hinab. Die Abteilung ist sehr umfangreich, und das macht mich plötzlich stutzig. Es scheint mit der Wahrheit und dem Sinn des Lebens so zu sein, wie mit den Haarwässern – jede Firma preist ihres als das alleinseligmachende an – aber Georg Kroll, der sie alle probiert hat, hat trotzdem einen kahlen Kopf behalten, und er hätte es von Anfang an wissen sollen. Wenn es ein Haarwasser gäbe, das wirklich Haar wachsen ließe, gäbe es nur das eine, und die anderen wären längst pleite.

Bauer kommt zurück. »Na, was gefunden?«

»Nein.«

Er betrachtet die beiseite geschobenen Bände. »Also Fakir hat keinen Zweck, was?«

Ich weise den schlichten Witzbold nicht direkt zurecht.

»Bücher haben überhaupt keinen Zweck«, sage ich statt dessen. »Wenn man sieht, was hier alles geschrieben ist und wie es trotzdem in der Welt aussieht, sollte man nur noch die Speisekarte, im Walhalla und die Familiennachrichten im Tageblatt lesen.«

»Wieso?« fragt der Buchhändler, Gatte und Vater leicht erschreckt. »Lesen bildet, das weiß jeder.«

»Wirklich?«

»Natürlich! Wo blieben sonst wir Buchhändler?«

Arthur saust wieder davon. Ein Mann mit kurzgestutztem Schnurrbart verlangt das Werk »Im Felde unbesiegt«.

Es ist der große Schlager der Nachkriegszeit. Ein arbeitsloser General beweist darin, daß das deutsche Heer im Kriege bis zum Ende siegreich war.

Arthur verkauft die Geschenkausgabe in Leder mit Goldschnitt. Besänftigt durch das gute Geschäft kommt er zurück. »Wie wär’s mit etwas Klassischem? Antiquarisch natürlich!«

Ich schüttle den Kopf und zeige wortlos ein Buch vor, das ich inzwischen auf dem Auslagetisch gefunden habe. Es ist »Der Mann von Welt«, ein Brevier für gute Manieren in allen Lebenslagen. Geduldig erwarte ich die unumgänglichen schalen Witze über Fakir-Kavaliere und so ähnliches. Aber Arthur witzelt nicht. »Nützliches Buch«, erklärt er sachlich. »Sollte in Massenauflage erscheinen. Also gut, dann sind wir quitt, was?«

»Noch nicht. Ich habe noch etwas zugut.« Ich hebe einen dünnen Band hoch. »Das Gastmahl« von Plato. »Das kommt noch dazu.«

Arthur rechnet im Kopf. »Stimmt nicht ganz, aber meinetwegen. Rechnen wir „Das Gastmahl“ antiquarisch.«

Ich lasse mir das Brevier für gute Manieren in Papier einschlagen und mit Bindfaden verknoten. Ich möchte um nichts in der Welt damit von jemand erwischt werden. Trotzdem beschließe ich, es heute abend zu studieren. Etwas Schliff kann niemand schaden, und Ernas Beschimpfungen sitzen mir noch in den Knochen. Der Krieg hat uns ziemlich verwildert, und flegelige Manieren kann man sich heute nur noch leisten, wenn eine dicke Brieftasche sie zudeckt. Die aber habe ich nicht.

Zufrieden trete ich auf die Straße. Lärmend dringt draußen das Dasein sofort auf mich ein. In einem brandroten Kabriolett saust Willy an mir vorüber, ohne mich zu sehen. Ich presse das Brevier für Weltleute fest unter den Arm. Rein ins Leben! denke ich. Hoch die irdische Liebe! Fort mit den Träumen! Fort mit den Gespenstern! Das gilt für Erna sowohl als auch für Isabelle. Für meine Seele habe ich ja immer noch den Plato.


Der Altstädter Hof ist eine Kneipe, in der wandernde Artisten, Zigeuner und Fuhrleute verkehren. Im ersten Stock gibt es ein Dutzend Zimmer zu vermieten, und im Hinterhaus befindet sich ein großer Saal mit einem Klavier und einer Anzahl Turngeräten, in dem die Artisten ihre Nummern üben können. Das Hauptgeschäft aber ist die Kneipe. Sie gilt nicht nur als Treffpunkt der Wanderer vom Variete; auch die Unterwelt der Stadt verkehrt hier.

Ich öffne die Tür zum hinteren Saal. Am Klavier steht Renée de la Tour und übt ein Duett. Im Hintergrund dressiert ein Mann zwei weiße Spitze und einen Pudel. Zwei kräftige Frauen liegen auf einer Matte und rauchen, und am Trapez, die Füße zwischen die Hände unter die Stange gesteckt, den Rücken durchgedrückt, schwingt Gerda auf mich los wie eine fliegende Galionsfigur.

Die beiden kräftigen Frauen sind im Badeanzug. Sie räkeln sich, und ihre Muskeln spielen. Es sind ohne Zweifel die Ringkämpferinnen vom Programm des Altstädter Hofes. Renée brüllt mir mit erstklassiger Kommandostimme guten Abend zu und kommt zu mir herüber. Der Dresseur pfeift. Die Hunde schlagen Saltos. Gerda saust gleichmäßig auf dem Trapez hin und zurück und erinnert mich an den Augenblick, als sie mich in der Roten Mühle zwischen ihren Beinen hindurch ansah. Sie trägt ein schwarzes Trikot und um das Haar ein festgeknotetes rotes Tuch.

»Sie übt«, erklärt Renée. »Sie will zum Zirkus zurück.«

»Zum Zirkus?« Ich sehe Gerda mit neuem Interesse an.

»War sie schon einmal beim Zirkus?«

»Natürlich. Da ist sie ja groß geworden. Aber der Zirkus ist pleite gegangen. Konnte das Fleisch für die Löwen nicht mehr bezahlen.«

»War sie mit den Löwen?«

Renée lacht wie ein Feldwebel und sieht mich spöttisch an. »Das wäre aufregend, was? Nein, sie war Akrobatin.«

Gerda saust wieder über uns hin. Mit starren Augen sieht sie mich an, als wolle sie mich hypnotisieren. Sie meint mich aber gar nicht; sie starrt nur vor Anstrengung.

»Ist Willy eigentlich reich?« fragt Renée de la Tour.

»Ich glaube schon. Was man heute so reich nennt. Er hat Geschäfte und einen Haufen Aktien, die jeden Tag steigen. Warum?«

»Ich habe es gern, wenn Männer reich sind.« Renée lacht mit ihrem Sopran. »Jede Dame hat das gern«, brüllt sie dann wie auf dem Kasernenhof.

»Das habe ich gemerkt«, erkläre ich bitter. »Ein reicher Schieber ist besser als ein ehrenhafter ärmerer Angestellter.«

Renée schüttelt sich vor Lachen. »Reich und ehrlich geht nicht zusammen, Baby! Heute nicht! Wahrscheinlich früher auch nie.«

»Höchstens, wenn man erbt oder das große Los gewinnt.«

»Auch dann nicht. Geld verdirbt den Charakter, wissen Sie das noch nicht?«

»Das weiß ich. Aber weshalb legen Sie soviel Wert darauf?«

»Weil ich mir aus Charakter nichts mache«, zirpte Renée mit einer zimperlichen Altjungfernstimme. »Ich liebe Komfort und Sicherheit.«

Gerda saust mit einem perfekten Salto auf uns zu. Sie kommt einen halben Meter vor mir zum Stehen, wippt ein paarmal auf den Zehen hin und her und lacht. »Renée lügt«, sagt sie.

»Hast du gehört, was sie erzählt hat?«

»Jede Frau lügt«, sagt Renée mit Engelsstimme. »Und wenn sie nicht lügt, ist sie nichts wert.«

»Amen«, erwidert der Hundedresseur.

Gerda streicht die Haare zurück. »Ich bin hier fertig. Warte, bis ich mich umgezogen habe.«

Sie geht zu einer Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift »Garderobe« hängt. Renée sieht ihr nach. »Sie ist hübsch«, erklärt sie sachlich. »Schauen Sie, wie sie sich hält. Sie geht richtig, das ist die Hauptsache bei einer Frau. Hintern rein, nicht raus. Akrobaten lernen das.«

»Das habe ich schon einmal gehört«, sage ich. »Von einem Frauen- und Granitkenner. Wie geht man richtig?«

»Wenn man das Gefühl hat, mit dem Hintern ein Fünfmarkstück festzuhalten – und es dann vergißt.«

Ich versuche, mir das vorzustellen. Ich kann es nicht; ich habe seit zu langer Zeit kein Fünfmarkstück mehr gesehen. Aber ich kenne eine Frau, die auf diese Weise einen mittleren Nagel aus der Wand reißen kann. Es ist Frau Beckmann, die Freundin des Schusters Karl Brill. Sie ist ein mächtiges Weib, völlig aus Eisen. Karl Brill hat schon manche Wette mit ihr gewonnen, und ich habe ihre Kunst selbst bewundert. Ein Nagel wird in die Wand der Werkstatt eingeschlagen, nicht allzutief natürlich, aber so, daß es eines tüchtigen Ruckes mit der Hand bedürfte, ihn herauszureißen. Dann wird Frau Beckmann geweckt. Sie erscheint unter den Trinkern in der Werkstatt im leichten Morgenrock, ernst, nüchtern und sachlich. Ein bißchen Watte wird um den Nagelkopf gewunden, damit sie sich nicht verletzen kann, dann stellt sich Frau Beckmann hinter einen niedrigen Paravant, mit dem Rücken zur Wand, leicht gebückt, den Morgenrock züchtig umgeschlagen, die Hände auf den Paravant gelegt. Sie manövriert etwas, um den Nagel mit ihren Schinken zu fassen, strafft sich plötzlich, richtet sich auf, entspannt – und der Nagel fällt auf den Boden. Etwas Kalkstaub rieselt gewöhnlich hinterher. Frau Beckmann, wortlos, ohne ein Zeichen von Triumph, dreht sich um, entschwindet die Treppe hinauf, und Karl Brill kassiert von den erstaunten Kegelbrüdern die Wetten ein. Es ist eine streng sportliche Sache; niemand sieht Frau Beckmanns Formen anders als von der rein fachlichen Seite. Und niemand wagt ein loses Wort darüber. Sie würde ihm eine Ohrfeige kleben, die ihm den Kopf losrisse. Sie ist riesenstark; die beiden Ringerinnen sind blutarme Kinder gegen sie.

»Also, machen Sie Gerda glücklich«, sagt Renée lakonisch.

»Für vierzehn Tage. Einfach, was?«

Ich stehe etwas verlegen da. Das Vademekum für guten Ton sieht diese Situation sicher nicht vor. Zum Glück erscheint Willy. Er ist elegant gekleidet, hat einen leichten grauen Borsalino schief auf dem Kopf und wirkt trotzdem wie ein Zementblock, der mit künstlichen Blumen besteckt ist. Mit vornehmer Geste küßt er Renée die Hand; dann greift er in seine Tasche und bringt ein kleines Etui hervor. »Der interessantesten Frau in Werdenbrück«, erklärt er mit einer Verbeugung.

Renée stößt einen Sopranschrei aus und sieht Willy ungläubig an. Dann öffnet sie das Kästchen. Ein goldener Ring mit einem Amethyst funkelt ihr entgegen. Sie schiebt ihn auf ihren linken Mittelfinger, starrt ihn entzückt an und wirft dann ihre Arme um Willy. Willy steht sehr stolz da und lächelt. Er hört sich das Trillern und die Baßstimme an; Renée verwechselt sie in der Aufregung alle Augenblicke. »Willy!« zirpt und donnert sie. »Ich bin ja so glücklich!«

Gerda kommt im Bademantel aus der Garderobe. Sie hat das Geschrei gehört und will sehen, was los ist.

»Macht euch fertig, Kinder«, sagt Willy. »Wir wollen hier raus.«

Die beiden Mädchen verschwinden. »Hättest du Kaffer Renée den Ring nicht später geben können, wenn ihr allein seid?« frage ich. »Was mache ich jetzt mit Gerda?«

Willy bricht in ein gutmütiges Gelächter aus. »Verdammt, daran habe ich nicht gedacht! Was machen wir da wirklich? Kommt mit uns essen.«

»Damit wir alle vier dauernd auf Renées Amethyst starren müssen? Ausgeschlossen.«

»Hör zu«, erwidert Willy. »Die Sache mit Renée und mir ist anders als deine mit Gerda. Ich bin seriös. Glaube es oder nicht: Ich bin verrückt nach Renée. Seriös verrückt. Sie ist eine Prachtsnummer!«

Wir setzen uns in zwei alte Rohrstühle an der Wand. Die weißen Spitze üben jetzt, auf den Vorderpfoten zu gehen.

»Stell dir vor«, erklärt Willy. »Was mich verrückt macht, ist die Stimme. Nachts ist das eine tolle Sache. Als ob du zwei verschiedene Frauen hast. Einmal eine zarte und gleich darauf ein Fischweib. Es geht sogar noch weiter. Wenn es dunkel ist und sie auf einmal mit der Kommandostimme loslegt, läuft es mir kalt über den Rücken. Es ist verdammt sonderbar! Ich bin doch nicht schwul, aber manchmal habe ich das Gefühl, ich schände einen General oder dieses Aas, den Unteroffizier Flümer, der dich ja auch gefoltert hat in unserer Rekrutenzeit – es ist nur so ein Augenblick, dann ist alles wieder in Ordnung, aber – du verstehst, was ich meine?«

»So ungefähr.«

»Schön, also sie hat mich erwischt. Ich möchte, daß sie hierbleibt. Werde ihr eine kleine Wohnung einrichten.«

»Glaubst du, daß sie ihren Beruf aufgeben wird?«

»Braucht sie nicht. Ab und zu kann sie ein Engagement annehmen. Dann gehe ich mit. Mein Beruf ist ja beweglich.«

»Weshalb heiratest du sie nicht? Du hast doch Geld genug.«

»Heiraten ist etwas anderes«, erklärt Willy. »Wie kannst du eine Frau heiraten, die jeden Augenblick fähig ist, dich wie ein General anzubrüllen? Man erschrickt doch immer wieder, wenn es unvermutet passiert, das liegt uns so im Blut. Nun, heiraten werde ich mal eine kleine, ruhige Dicke, die erstklassig kochen kann. Renée, mein Junge, ist die typische Mätresse.«

Ich staune den Weltmann an. Er lächelt überlegen. Das Brevier für gute Manieren ist für ihn überflüssig. Ich verzichte auf Spott. Spott wird dünn, wenn jemand Amethystringe verschenken kann. Die Ringerinnen erheben sich lässig und machen ein paar Griffe. Willy sieht interessiert zu. »Kapitale Weiber«, flüstert er, wie ein aktiver Oberleutnant vor dem Kriege.

»Was fällt Ihnen ein? Augen rechts! Stillgestanden!« brüllt eine markige Stimme hinter uns.

Willy fährt zusammen. Es ist Renée, die ringgeschmückt hinter ihm lächelt. »Siehst du jetzt, was ich meine?« fragt Willy mich.

Ich sehe es. Die beiden ziehen ab. Draußen wartet Willys Auto, das rote Kabriolett mit den roten Ledersitzen. Ich bin froh, daß Gerda länger braucht, um sich anzuziehen. Sie sieht so wenigstens das Kabriolett nicht. Ich überlege, was ich ihr heute bieten könnte. Das einzige, was ich außer dem Brevier für Weltleute habe, sind die Eßmarken Eduard Knoblochs, und die sind leider abends nicht gültig. Ich beschließe, es trotzdem mit ihnen zu versuchen, indem ich Eduard vorlüge, es seien die beiden letzten.

Gerda kommt. »Weißt du, was ich möchte, Schatz?« sagt sie, bevor ich den Mund öffnen kann. »Laß uns etwas ins Grüne fahren. Mit der Straßenbahn hinaus. Ich möchte Spazierengehen.«

Ich starre sie an und traue meinen Ohren nicht. Ins Grüne spazieren – genau das war es, was Erna, die Schlange, mir in vergifteten Worten vorgeworfen hat. Sollte sie Gerda etwas erzählt haben? Zuzutrauen wäre es ihr.

»Ich dachte, wir könnten zur „Walhalla“ gehen«, sage ich vorsichtig und mißtrauisch. »Man ißt dort großartig.«

Gerda winkt ab. »Wozu? Es ist viel zu schön dazu. Ich habe heute nachmittag etwas Kartoffelsalat gemacht. Hier!« Sie hält ein Paket hoch. »Den essen wir draußen und kaufen uns Würstchen und Bier dazu. Recht?«

Ich nicke stumm, argwöhnischer als vorher. Ernas Vorwurf mit dem billigen Wein ohne Jahrgang ist noch unvergessen. »Ich muß ja um neun schon zurück in die ekelhafte Stinkbude, die Rote Mühle«, erklärt Gerda.

Ekelhafte Stinkbude? Ich starre sie wieder an. Aber ihre Augen sind klar und unschuldig, ohne jede Ironie. Und plötzlich begreife ich! Ernas Paradies ist für Gerda nichts anderes als eine Arbeitsstätte! Sie haßt die Bude, die Erna liebt! Gerettet, denke ich. Gottlob! Die Rote Mühle mit ihren Wahnsinnspreisen versinkt, wie Gaston Münch als Geist Hamlets im Stadttheater, jäh in der Versenkung. Köstlich stille Tage mit belegten Butterbroten und selbstgemachtem Kartoffelsalat tauchen vor mir auf! Das einfache Leben! Die irdische Liebe! Der Friede der Seele! Endlich! Sauerkraut meinetwegen, aber Sauerkraut kann auch etwas Herrliches sein! Mit Ananas zum Beispiel, in Champagner gekocht. Ich habe es zwar noch nie so gegessen, aber Eduard Knobloch behauptet, es sei ein Gericht für regierende Könige und Poeten.

»Gut, Gerda«, sage ich gemessen. »Wenn du es absolut willst, gehen wir im Wald spazieren.«

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