Sie sitzt in einer Ecke ihres Zimmers, neben das Fenster gedrückt. »Isabelle«, sage ich.
Sie antwortet nicht. Ihre Augenlider flattern wie Schmetterlinge, die von Kindern lebend auf Nadeln gespießt sind.
»Isabelle«, sage ich. »Ich bin gekommen, um dich abzuholen.«
Sie erschrickt und drückt sich gegen die Wand. Sie sitzt steif und verkrampft da. »Kennst du mich nicht mehr?« frage ich.
Sie bleibt still sitzen; nur die Augen drehen sich zu mir herüber, wachsam und sehr dunkel. »Der, der sich als Doktor ausgibt, hat dich geschickt«, flüstert sie.
Es ist wahr. Wernicke hat mich geschickt. »Er hat mich nicht geschickt«, sage ich. »Ich bin heimlich gekommen. Keiner weiß, daß ich hier bin.«
Sie löst sich langsam von der Wand. »Du hast mich auch verraten.«
»Ich habe dich nicht verraten. Ich konnte dich nicht erreichen. Du bist nicht herausgekommen.«
»Ich konnte doch nicht«, flüstert sie. »Sie standen alle draußen und warteten. Sie wollten mich fangen. Sie haben herausbekommen, daß ich hier bin.«
»Wer?«
Sie sieht mich an und antwortet nicht. Wie schmal sie ist! denke ich. Wie schmal und wie allein in diesem kahlen Zimmer! Sie hat nicht einmal sich selbst. Nicht einmal das Alleinsein ihres Ichs. Sie ist zersprengt wie eine Granate in lauter scharfkantige Stücke von Angst in einer fremden, drohenden Landschaft unfaßbarer Schrecken.
»Niemand wartet auf dich«, sage ich.
»Doch.«
»Woher weißt du das?«
»Die Stimmen. Hörst du sie nicht?«
»Nein.«
»Die Stimmen wissen alles. Hörst du sie nicht?«
»Es ist der Wind, Isabelle.«
»Ja«, sagt sie ergeben. »Meinetwegen ist es der Wind. Wenn es nur nicht so weh täte!«
»Was tut weh?«
»Das Sägen. Sie könnten doch schneiden, das ginge schneller. Aber dieses stumpfe, langsame Sägen! Alles wächst immer schon wieder zusammen, wenn sie so langsam sind! Dann fangen sie wieder von vorne an, und so hört es nie auf. Sie sägen durch das Fleisch, und das Fleisch wächst dahinter zusammen, und es hört nie auf.«
»Wer sägt?«
»Die Stimmen.«
»Stimmen können nicht sägen.«
»Diese sägen.«
»Wo sägen sie?«
Isabelle macht eine Bewegung, als habe sie heftige Schmerzen. Sie preßt ihre Hände zwischen die Oberschenkel.
»Sie wollen es heraussägen. Ich soll nie Kinder haben.«
»Wer?«
»Die draußen. Sie sagt, sie hätte mich geboren. Jetzt will sie mich wieder in sich zurückreißen. Sie sägt und sägt. Und er hält mich fest.« Sie schauert. »Er – der in ihr ist -«
»In ihr?«
Sie stöhnt. »Sag es nicht – sie will mich töten – ich darf es nicht wissen -«
Ich gehe zu ihr hinüber, um einen Lehnstuhl mit einem fahlen Rosenmuster herum, der sonderbar beziehungslos mit seiner Imitation des süßen Lebens in diesem kahlen Raum steht. »Was darfst du nicht wissen?«
»Sie will mich töten. Ich darf nicht schlafen. Warum wacht niemand mit mir? Alles muß ich allein tun. Ich bin so müde«, klagt sie, wie ein Vogel. »Es brennt, und ich kann nicht schlafen, und ich bin so müde. Aber wer kann schlafen, wenn es brennt und niemand wacht? Auch du hast mich verlassen.«
»Ich habe dich nicht verlassen.«
»Du hast mit ihnen gesprochen. Sie haben dich bestochen. Warum hast du mich nicht gehalten? Die blauen Bäume und der Silberregen. Du aber hast nicht gewollt. Nie! Du hättest mich retten können.«
»Wann?« frage ich und spüre, daß etwas in mir bebt, und ich will nicht, daß es bebt, und es bebt doch, und das Zimmer scheint nicht mehr fest zu sein, es ist, als bebten die Mauern und beständen nicht mehr aus Stein und Mörtel und Verputz, sondern aus Schwingungen, dick konzentrierten Schwingungen aus Billionen von Fäden, die von Horizont zu Horizont und darüber hinaus fließen und hier verdickt sind zu einem viereckigen Gefängnis aus Hängestricken, Galgenstricken, in denen etwas Sehnsucht und Lebensangst zappelt.
Isabelle wendet ihr Gesicht zurück zur Mauer. »Ach, es ist verloren – so viele Leben lang schon.«
Die Dämmerung fällt plötzlich in das Fenster. Sie verhängt es mit einem Schleier aus fast unsichtbarem Grau. Alles ist noch da wie vorher, das Licht draußen, das Grün, das Gelb der Wege, die zwei Palmen in den großen Majolikatöpfen, der Himmel mit den Wolkenfeldern, das ferne, graue und rote Dächergewimmel in der Stadt hinter den Wäldern – und nichts ist mehr da wie vorher, die Dämmerung hat es isoliert, sie hat es mit dem Lack der Vergänglichkeit überzogen, es zum Fraß vorbereitet, wie Hausfrauen einen Sauerbraten mit Essig, für die Schattenwölfe der Nacht. Nur Isabelle ist noch da, geklammert an das letzte Seil des Lichtes, aber auch sie ist schon hineingezogen an ihm in das Drama des Abends, das nie ein Drama war und nur eines ist, weil wir wissen, daß es Vergehen heißt. Erst seit wir wissen, daß wir sterben müssen, und weil wir es wissen, wurde Idyll zu Drama, Kreis zur Lanze, Werden zu Vergehen und Schrei zu Furcht und Flucht zu Urteil.
Ich halte sie fest in den Armen. Sie zittert und sieht mich an und drückt sich an mich, und ich halte sie, wir halten uns – zwei Fremde, die nichts voneinander wissen und sich halten, weil sie sich mißverstehen und sich für etwas anderes halten, als sie sind, und die doch flüchtigen Trost aus diesem Mißverständnis schöpfen, einem doppelten und dreifachen und endlosen Mißverständnis, und doch dem einzigen, das wie ein Regenbogen eine Brücke vorgaukelt, wo niemals eine sein kann, ein Reflex zwischen zwei Spiegeln, weitergeworfen in eine immer fernere Leere. »Warum liebst du mich nicht?« flüstert Isabelle.
»Ich liebe dich. Alles in mir liebt dich.«
»Nicht genug. Die anderen sind immer noch da. Wenn es genug wäre, würdest du sie töten.«
Ich halte sie in den Armen und sehe über sie hinweg in den Park, wo die Schatten wie amethystene Wellen von der Ebene und von den Alleen heraufwehen. Alles in mir ist scharf und klar, aber gleichzeitig ist mir, als stände ich auf einer schmalen Plattform sehr hoch über einer murmelnden Tiefe. »Du würdest es nicht ertragen, daß ich außer dir lebte«, flüstert Isabelle.
Ich weiß nichts zu antworten. Immer rührt mich etwas an, wenn sie solche Sätze sagt – als wäre eine tiefere Wahrheit dahinter, als ich erkennen kann – als käme sie vom Jenseits der Dinge, von da, wo es keine Namen gibt. »Fühlst du, wie es kalt wird?« fragt sie an meiner Schulter. »Jede Nacht stirbt alles. Das Herz auch. Sie zersägen es.«
»Nichts stirbt, Isabelle. Nie.«
»Doch! Das steinerne Gesicht – es zerspringt in Stücke. Morgen ist es wieder da. Ach, es ist kein Gesicht! Wie wir lügen, mit unseren armen Gesichtern! Du lügst auch -«
»Ja -« sage ich. »Aber ich will es nicht.«
»Du mußt das Gesicht herunterscheuern, bis nichts mehr da ist. Nur glatte Haut. Nichts mehr! Aber dann ist es immer noch da. Es wächst nach. Wenn alles stillstände, hätte man keine Schmerzen. Warum wollen sie mich lossägen von allem? Warum will sie mich zurück? Ich verrate doch nichts!«
»Was könntest du verraten?«
»Das, was blüht. Es ist voll Schlamm. Es kommt aus den Kanälen.«
Sie zittert wieder und drückt sich an mich. »Sie haben meine Augen festgeklebt. Mit Leim, und dann haben sie Nadeln hindurchgesteckt. Aber ich kann trotzdem nicht wegsehen.«
»Wegsehen wovon?«
Sie stößt mich von sich. »Sie haben dich auch ausgeschickt! Ich verrate nichts! Du bist ein Spion. Sie haben dich gekauft! Wenn ich es sage, töten sie mich.«
»Ich bin kein Spion. Warum sollten sie dich töten, wenn du es mir sagst? Sie könnten das doch ohne das viel besser. Wenn ich es weiß, müßten sie mich ja auch töten. Es wüßte dann einer mehr.«
Es dringt durch zu ihr. Sie sieht mich wieder an. Sie überlegt. Ich halte mich so still, daß ich kaum atme. Ich spüre, daß wir vor einer Tür stehen und daß dahinter die Freiheit sein könnte. Das, was Wernicke Freiheit nennt. Die Rückkehr aus dem Irrgarten in normale Straßen, Häuser und Beziehungen. Ich weiß nicht, ob es soviel besser sein wird, aber darüber kann ich nicht nachdenken, wenn ich diese gequälte Kreatur vor mir sehe. »Wenn du es mir erklärst, werden sie dich in Ruhe lassen«, sage ich. »Und wenn sie dich nicht in Ruhe lassen, werde ich Hilfe holen. Von der Polizei, von Zeitungen. Sie werden Angst bekommen. Und du brauchst dann keine mehr zu haben.«
Sie preßt die Hände zusammen. »Es ist nicht das allein«, bringt sie schließlich hervor.
»Was ist es noch?«
Ihr Gesicht wird in einer Sekunde hart und verschlossen. Wie weggewischt ist die Qual und die Unentschlossenheit. Der Mund wird klein und schmal, und das Kinn tritt hervor. Sie hat jetzt etwas von einer dünnen, puritanischen, bösen Jungfer. »Laß nur!« sagt sie. Auch ihre Stimme ist verändert.
»Schön, lassen wir es. Ich brauche es nicht zu wissen.«
Ich warte. Ihre Augen glitzern flach, wie nasser Schiefer im letzten Licht. Alles Grau des Abends scheint sich in ihnen zu sammeln; sie sieht mich überlegen und spöttisch an. »Das möchtest du wohl, was? Vorbeigelungen, Spion!«
Ich werde ohne Grund wütend, obschon ich weiß, daß sie krank ist und daß diese Bewußtseinsbrüche blitzartig kommen. »Geh zum Teufel«, sage ich ärgerlich. »Was geht mich das alles an!«
Ich sehe, daß ihr Gesicht sich wieder verändert; aber ich gehe rasch hinaus, voll unbegreiflichen Aufruhrs.
»Und?« fragt Wernicke.
»Das ist alles. Warum haben Sie mich zu ihr hineingeschickt? Es hat nichts gebessert. Ich tauge nicht zum Krankenpfleger. Sie sehen ja – als ich vorsichtig mit ihr hätte reden sollen, habe ich sie angeschrien und bin weggelaufen.«
»Es war besser, als Sie ahnen.« Wernicke holt hinter seinen Büchern eine Flasche und zwei Gläser hervor und schenkt ein. »Kognak«, sagt er. »Ich möchte nur eins wissen – woher sie spürt, daß ihre Mutter wieder hier ist.«
»Ihre Mutter ist hier?«
Wernicke nickt. »Seit vorgestern. Sie hat sie noch nicht gesehen. Auch nicht vom Fenster aus.«
»Warum sollte sie nicht?«
»Sie müßte dazu weit aus dem Fenster hängen und Augen wie ein Scherenfernrohr haben.« Wernicke betrachtet die Farbe seines Kognaks. »Aber manchmal spüren Kranke dieser Art so etwas. Vielleicht hat sie es auch erraten. Ich habe sie in die Richtung getrieben.«
»Wozu?« sage ich. »Sie ist kränker, als ich sie je gesehen habe.«
»Nein«, erwidert Wernicke.
Ich stelle mein Glas zurück und blicke auf die dicken Bücher seiner Bibliothek. »Sie ist so elend, daß einem der Magen hochkommt.«
»Elend schon; aber nicht kränker.«
»Sie hätten sie in Ruhe lassen sollen – so, wie sie im Sommer war. Sie war glücklich. Jetzt – das ist entsetzlich.«
»Ja, es ist entsetzlich«, sagt Wemicke. »Es ist fast so, als ob all das wirklich geschähe, was sie sich einbildet.«
»Sie sitzt da wie in einer Folterkammer.«
Wernicke nickt. »Man glaubt draußen immer, so etwas existiere nicht mehr. Es existiert noch. Hier. Jeder hat seine eigene Folterkammer im Schädel.«
»Nicht nur hier.«
»Nicht nur hier«, gibt Wernicke bereitwillig zu und nimmt einen Schluck Kognak. »Aber viele hier haben sie. Wollen Sie sich überzeugen? Nehmen Sie einen weißen Kittel. Es ist bald Zeit für den Abendrundgang.«
»Nein«, sage ich. »Ich erinnere mich an das letztemal.«
»Das war der Krieg, der immer noch hier tobt. Wollen Sie eine andere Abteilung sehen?«
»Nein. Ich erinnere mich auch daran.«
»Nicht an alle, Sie haben nur einige gesehen.«
»Es waren genug.«
Ich erinnere mich an die Geschöpfe, die Wochen hindurch in verkrampften Haltungen erstarrt in Ecken stehen oder ruhelos gegen die Wände rennen, über die Betten klettern und mit weißen Augen in Zwangsjacken röcheln und schreien. Die lautlosen Gewitter des Chaos prasseln auf sie hernieder, und Wurm, Klaue, Schuppe, die schleimige, fußlose, sich windende Vorexistenz, das Kriechen vor dem Denken, daß Aas-Dasein greifen von unten herauf nach ihren Gedärmen und Hoden und Rückenwirbeln, um sie herabzuziehen in die graue Zersetzung des Anfangs, zurück zu Schuppenleibern und augenlosem Würgen – schreiend wie panikbefallene Affen retten sie sich auf die letzten kahlen Äste ihres Gehirns, schnatternd, gebannt von dem höhersteigenden Geschlinge, in der letzten grauenhaften Furcht, nicht des Gehirns, schlimmer, der der Zellen vor dem Untergang, dem Schrei über allen Schreien, der Angst der Ängste, der Todesfurcht, nicht des Individuums, sondern der Adern, der Zellen, des Blutes, der unterbewußten Intelligenzen, die Leber, Drüsen, Kreislauf schweigend regieren und das Feuer unter dem Schädel.
»Gut«, sagt Wernicke. »Dann trinken Sie Ihren Kognak. Unterlassen Sie Ihre Ausflüge ins Unterbewußtsein und loben Sie das Leben.«
»Warum? Weil alles so wunderbar eingerichtet ist? Weil einer den anderen frißt und dann sich selbst?«
»Weil Sie leben, Sie harmloser Klabautermann! Für das Problem des Mitleids sind Sie noch viel zu jung und unerfahren. Wenn Sie dazu einmal alt genug sein werden, werden Sie merken, daß es nicht existiert.«
»Ich habe eine gewisse Erfahrung.«
Wernicke winkt ab. »Machen Sie sich nicht wichtig, Sie Kriegsteilnehmer! Was Sie wissen, gehört nicht in das metaphysische Problem des Mitleids – es gehört in die allgemeine Idiotie der menschlichen Rasse. Das große Mitleid beginnt anderswo – und es hört auch anderswo auf – jenseits der Klageböcke wie Sie und auch jenseits der Trosthändler wie Bodendiek -«
»Gut, Sie Übermensch«, sage ich. »Gibt Ihnen das aber ein Recht, in den Köpfen Ihres Bezirkes nach Belieben die Hölle, das Fegefeuer oder den phlegmatischen Tod aufzurühren?«
»Recht -«, erwidert Wernicke mit abgrundtiefer Verachtung. »Wie angenehm ist doch ein ehrlicher Mörder gegen einen Rechts-Anwalt wie Sie! Was wissen Sie von Recht? Noch weniger als von Mitleid, Sie scholastischer Sentimentalist!«
Er hebt sein Glas, grinst und blickt friedlich in den Abend. Das künstliche Licht im Zimmer wird immer goldener auf den braunen und bunten Rücken der Bücher. Es erscheint nie so kostbar und so symbolisch wie hier oben, wo die Nacht auch eine Polarnacht der Gehirne ist. »Weder das eine noch das andere ist im Weltenplan vorgesehen«, sage ich. »Aber ich finde mich nicht damit ab, und wenn das für Sie menschliche Unzulänglichkeit bedeutet, so will ich gerne mein Leben lang so bleiben.«
Wernicke erhebt sich, nimmt seinen Hut vom Haken, setzt ihn auf, grüßt mich, indem er ihn abnimmt, hängt ihn dann zurück an den Haken und setzt sich wieder. »Es lebe das Gute und Schöne!« sagt er. »Das eben meinte ich. Und nun hinaus mit Ihnen! Es ist Zeit für die Abendrunde.«
»Können Sie Geneviève Terhoven kein Schlafmittel geben?« frage ich.
»Das kann ich; aber das heilt sie nicht.«
»Warum geben Sie ihr nicht wenigstens heute etwas Ruhe?«
»Ich gebe ihr Ruhe. Und ich werde ihr auch ein Schlafmittel geben.« Er zwinkerte mir zu. »Sie waren heute besser als ein ganzes Kollegium von Ärzten. Besten Dank.«
Ich sehe ihn unentschlossen an. Zur Hölle mit seinen Aufträgen, denke ich. Zur Hölle mit seinem Kognak! Und zur Hölle mit seinen gottähnlichen Redensarten!»Ein kräftiges Schlafmittel«, sage ich.
»Das beste, was es gibt. Waren Sie jemals im Orient? China?«
»Wie sollte ich nach China kommen?«
»Ich war dort«, sagt Wernicke. »Vor dem Kriege. Zur Zeit der Überschwemmungen und der Hungersnöte.«
»Ja«, sage ich. »Ich kann mir denken, was jetzt kommt, und ich will es nicht hören. Ich habe genug darüber gelesen. Gehen Sie gleich zu Geneviève Terhoven? Als erstes?«
»Als erstes. Und ich lasse sie in Ruhe.« Wernicke lächelt. »Dafür werde ich jetzt ihre Mutter einmal etwas aus der Ruhe bringen.«
»Was willst du, Otto?« frage ich. »Ich habe heute keine Lust, über das Versmaß der Ode zu diskutieren! Geh zu Eduard!«
Wir sitzen im Zimmer des Dichterklubs. Ich bin hingegangen, um an etwas anderes zu denken als an Isabelle; aber plötzlich widert mich alles hier an. Wozu das Reimgeklingel? Die Welt dampft von Angst und Blut. Ich weiß, daß das eine verdammt billige Folgerung ist, und überdies ist sie noch falsch – aber ich bin müde, mich selbst dauernd bei dramatisierten Banalitäten zu erwischen. »Also, was ist los?« frage ich.
Otto Bambuss sieht mich an wie eine Eule, die mit Buttermilch gefüttert ist. »Ich war dort«, sagt er vorwurfsvoll. »Noch einmal. Zuerst jagt ihr einen hin, und dann wollt ihr nichts mehr davon wissen!«
»Das ist immer so im Leben. Wo warst du?«
»In der Bahnstraße. Im Bordell.«
»Was ist daran Neues?« frage ich, ohne recht hinzuhören.
»Wir waren alle zusammen dort, wir haben für dich bezahlt, und du bist ausgerissen. Sollen wir dir dafür ein Standbild setzen?«
»Ich war noch einmal dort«, sagt Otto. »Allein. Hör doch endlich einmal zu!«
»Wann?«
»Nach dem Abend in der Roten Mühle.«
»Na, und?« frage ich lustlos. »Bist du wieder vor den Tatsachen des Lebens geflüchtet?«
»Nein«, erklärt Otto. »Dieses Mal nicht.«
»Alle Achtung! War es das Eiserne Pferd?«
Bambuss errötet. »Das ist doch egal.«
»Gut«, sage ich. »Wozu redest du denn darüber? Es ist keine einzigartige Erfahrung. Ziemlich viele Leute in der Welt schlafen mit Frauen.«
»Du verstehst mich nicht. Es sind die Folgen.«
»Was für Folgen? Ich bin überzeugt, daß das Eiserne Pferd nicht krank ist. Man bildet sich so etwas immer leicht ein, besonders im Anfang.«
Otto macht ein gequältes Gesicht. »So meine ich das nicht! Du kannst dir doch denken, weshalb ich es getan habe. Es ging alles ganz gut mit meinen beiden Zyklen, besonders mit dem „Weib in Scharlach“, aber ich dachte, ich brauchte noch mehr Inspiration. Ich wollte den Zyklus beenden, bevor ich aufs Dorf zurück muß. Deshalb ging ich noch einmal in die Bahnstraße. Dieses Mal richtig. Und stell dir vor, seitdem: nichts! Nicht eine Zeile. Es ist wie abgeschnitten! Das Gegenteil sollte doch der Fall sein.«
Ich lache, obschon mir nicht danach zumute ist. »Das ist aber verdammtes Künstlerpech!«
»Du kannst gut lachen«, sagt Bambuss aufgeregt. »Aber ich sitze da! Elf Sonette tadellos fertig, und beim zwölften dieses Unglück! Es geht einfach nicht mehr! Die Phantasie setzt aus! Schluß! Fertig!«
»Es ist der Fluch der Erfüllung«, sagt Hungermann, der herangekommen ist und anscheinend die Sache schon kennt. »Sie läßt nichts übrig. Ein hungriger Mann träumt vom Fressen. Einem satten ist es zuwider.«
»Er wird wieder hungrig werden, und die Träume werden wiederkommen«, erwidere ich.
»Bei dir; nicht bei Otto«, erklät Hungermann sehr zufrieden.
»Du bist oberflächlich und normal, Otto ist tief. Er hat einen Komplex durch einen anderen ersetzt. Lach nicht – es ist vielleicht sein Ende als Schriftsteller. Es ist, könnte man sagen, ein Begräbnis im Freudenhaus.«
»Ich bin leer«, sagt Otto verloren. »So leer wie noch nie. Ich habe mich ruiniert. Wo sind meine Träume? Erfüllung ist der Feind der Sehnsucht. Ich hätte das wissen sollen!«
»Schreib was darüber«, sage ich.
»Keine schlechte Idee!« Hungermann zieht sein Notizbuch hervor. »Ich hatte sie übrigens zuerst. Es ist auch nichts für Otto; sein Stil ist dazu nicht hart genug.«
»Er kann es als Elegie schreiben. Oder als Lament. Kosmische Trauer, Sterne tropfen wie goldene Tränen, Gott selbst schluchzt, weil er die Welt so verpfuscht hat, Herbstwind harft ein Requiem dazu -«
Hungermann schreibt eifrig. »Welch ein Zufall«, sagt er zwischendurch. »Genau dasselbe mit fast denselben Worten habe ich vor einer Woche gesagt. Meine Frau ist Zeuge.«
Otto hat leicht die Ohren gespitzt. »Dazu kommt noch die Angst, daß ich mir was geholt habe«, sagt er. »Wie lange dauert es, bis man es erkennen kann?«
»Bei Tripper drei Tage, bei Lues vier Wochen«, erwidert der Ehemann Hungermann prompt.
»Du wirst dir nichts geholt haben«, sage ich. »Sonette kriegen keine Lues. Aber du kannst die Stimmung ausnutzen. Wirf das Steuer herum! Wenn du nicht dafür schreiben kannst, schreibe dagegen! Anstatt einer Hymne auf das Weib in Scharlach und Purpur eine ätzende Klage. Eiter träuft aus den Sternen, in Geschwüren liegt Hiob, anscheinend der erste Syphilitiker, auf den Scherben des Weltalls, das Janusgesicht der Liebe, süßes Lächeln auf der einen, eine zerfressene Nase auf der anderen Seite -«
Ich sehe, daß Hungermann wieder schreibt. »Hast du das auch deiner Frau vor einer Woche erzählt?« frage ich.
Er nickt strahlend.
»Weshalb schreibst du es dann auf?«
»Weil ich es wieder vergessen hatte. Kleinere Einfälle vergesse ich oft.«
»Ihr habt es leicht, euch über mich lustig zu machen«, sagt Bambuss gekränkt. »Ich kann doch gar nicht gegen etwas schreiben. Ich bin Hymniker.«
»Schreib eine Hymne dagegen.«
»Hymnen kann man nur auf etwas schreiben«, belehrt mich Otto. »Nicht dagegen.«
»Dann schreib Hymnen auf die Tugend, die Reinheit, das mönchische Leben, die Einsamkeit, die Versenkung in das Nächste und Fernste, was es gibt: das eigene Selbst.«
Otto horcht einen Augenblick mit schrägem Kopf wie ein Jagdhund.» Hab‘ ich schon«, sagt er dann niedergeschlagen. »Es ist auch nicht ganz meine Art.«
»Zum Teufel mit deiner Art! Mach nicht so viele Ansprüche!«
Ich stehe auf und gehe in den Nebenraum. Valentin Busch sitzt dort. »Komm«, sagt er. »Trink mit mir eine Flasche Johannisberger. Das wird Eduard ärgern.«
»Ich will heute keinen Menschen ärgern«, erwidere ich.
Als ich auf die Straße komme, steht Otto Bambuss schon da und starrt schmerzlich auf die Gipswalküren, die den Eingang des »Walhalla« zieren. »So etwas«, sagt er ziellos.
»Weine nicht«, erkläre ich, um ihn mir vom Halse zu schaffen. »Du gehörst offenbar zu den Frühvollendeten, Kleist, Bürger, Rimbaud, Büchner – den schönsten Gestalten im Dichterhimmel -, nimm es dir also nicht zu Herzen.«
»Aber die sind doch auch früh gestorben!«
»Du kannst das auch noch, wenn du willst. Rimbaud hat übrigens noch viele Jahre gelebt, nachdem er aufhörte zu schreiben. Als Abenteurer in Abessinien. Wie wäre das?«
Otto sieht mich an wie ein Reh mit drei Beinen. Dann starrt er wieder auf die dicken Hintern und Brüste der Gipswalküren. »Hör zu«, sage ich ungeduldig. »Schreib doch einen Zyklus:,Die Versuchungen des heiligen Antonius! Da hast du beides, Lust und Entsagung, und noch einen Haufen nebenbei.«
Ottos Gesicht belebt sich. Gleich darauf wird es konzentriert, soweit das bei einem Astralschaf mit sinnlichen Ambitionen möglich ist. Die deutsche Literatur scheint für den Augenblick gerettet zu sein, denn ich bin ihm bereits bedeutend gleichgültiger. Abwesend winkt er mir zu und strebt die Straße hinab, dem heimatlichen Schreibtisch zu. Neidisch sehe ich ihm nach.
Das Büro liegt in schwarzem Frieden. Ich knipse das Licht an und finde einen Zettel:»Riesenfeld abgereist. Du bist also heute abend dienstfrei. Benütze die Zeit zum Knöpfeputzen, Gehirnappell, Nägelschneiden und Gebet für Kaiser und Reich, gez. Kroll, Feldwebel und Mensch. PS.: Wer schläft, sündigt auch.«
Ich gehe hinauf zu meiner Bude. Das Klavier bleckt mich mit weißen Zähnen an. Kalt starren die Bücher der Toten von den Wänden. Ich werfe eine Garbe von Septimen-Akkorden über die Straße. Lisas Fenster öffnet sich. Sie steht vor dem warmen Licht in einem Frisiermantel, der offen hängt, und hält ein Wagenrad von einem Blumenstrauß hoch. »Von Riesenfeld«, krächzt sie. »Was für ein Idiot! Kannst du das Gemüse brauchen?«
Ich schüttle den Kopf. Isabelle würde glauben, ihre Feinde beabsichtigen damit irgend etwas Niederträchtiges, und Gerda habe ich so lange nicht gesehen, daß auch sie es falsch auffassen würde. Sonst weiß ich niemand.
»Tatsächlich nicht?« fragt Lisa.
»Tatsächlich nicht.«
»Unglücksrabe! Aber sei froh! Ich glaube, du wirst erwachsen!«
»Wann ist man erwachsen?«
Lisa überlegt einen Augenblick. »Wenn man mehr an sich denkt als an die anderen«, krächzt sie dann und schmettert das Fenster zu.
Ich werfe eine zweite Garbe von Septimenakkorden, diesmal von verminderten, aus dem Fenster. Sie haben keine sichtbaren Folgen. Ich schließe dem Klavier den Rachen und wandere die Treppen hinunter. Bei Wilke ist noch Licht. Ich klettere zu ihm hinauf.
»Wie ist die Sache mit den Zwillingen ausgegangen?« frage ich.
»Tiptop. Die Mutter hat gesiegt. Die Zwillinge sind in ihrem Doppelsarg beerdigt worden. Allerdings auf dem Stadtfriedhof, nicht auf dem katholischen. Komisch, daß die Mutter auf dem katholischen zuerst ein Grab gekauft hat – sie hätte doch wissen müssen, daß es da nicht ging, wenn einer der Zwillinge evangelisch war. Nun hat sie das erste Grab an der Hand.«
»Das auf dem katholischen Friedhof?«
»Klar. Es ist tadellos, trocken, sandig, etwas erhöht – sie kann froh sein, daß sie es hat!«
»Warum? Für sich und ihren Mann? Sie wird doch wegen der Zwillinge jetzt auch auf den Stadtfriedhof wollen, wenn sie stirbt.«
»Als Kapitalanlage«, sagt Wilke, ungeduldig über meine Stumpfsinnigkeit. »Ein Grab ist heute eine erstklassige Kapitalanlage, das weiß doch jeder! Sie kann jetzt schon ein paar Millionen daran verdienen, wenn sie es verkaufen will. Sachwerte steigen ja wie verrückt!«
»Richtig. Ich hatte das einen Moment lang vergessen. Weshalb sind Sie noch hier?«
Wilke zeigt auf einen Sarg. »Für Werner, den Bankier. Gehirnblutung. Darf kosten, was es will, echtes Silber, feinstes Holz, echte Seide, Überstundentarif – wie wäre es mit etwas Hilfe? Kurt Bach ist nicht da. Sie können dafür morgen früh das Denkmal verkaufen. Keiner weiß es bis jetzt. Werner ist nach Geschäftsschluß umgefallen.«
»Heute nicht. Ich bin todmüde. Gehen Sie doch kurz vor Mitternacht in die Rote Mühle und kommen Sie nach eins zurück, um weiterzuarbeiten – dann ist das Problem der Geisterstunde gelöst.«
Wilke denkt nach. »Nicht schlecht«, erklärt er. »Aber brauche ich da nicht einen Smoking?«
»Nicht einmal im Traum.«
Wilke schüttelt den Kopf. »Ausgeschlossen, trotzdem! Die eine Stunde würde mich mehr kosten, als ich in der ganzen Nacht verdienen würde. Aber ich könnte in eine kleine Kneipe gehen.« Er schaut mich dankbar an. »Notieren Sie die Adresse Werners«, sagt er dann.
Ich schreibe sie auf. Sonderbar, denke ich, das ist schon der zweite heute abend, der einen Rat von mir befolgt – nur für mich selbst weiß ich keinen. »Komisch, daß Sie soviel Angst vor Gespenstern haben«, sage ich. »Dabei sind Sie doch gemäßigter Freidenker.«
»Nur tagsüber. Nicht nachts. Wer ist nachts schon Freidenker?«
Ich mache ein Zeichen zu Kurt Bachs Bude hinunter. Wilke winkt ab. »Es ist leicht, Freidenker zu sein, wenn man jung ist. Aber in meinem Alter, mit einem Leistenbruch und einer verkapselten Tuberkulose -«
»Schwenken Sie um. Die Kirche liebt bußfertige Sünder.«
Wilke hebt die Schultern. »Wo bliebe da mein Selbstrespekt?«
Ich lache. »Nachts haben Sie keinen, was?«
»Wer hat nachts schon welchen? Sie?«
»Nein. Aber vielleicht ein Nachtwächter. Oder ein Bäcker, der nachts Brot bäckt. Müssen Sie denn unbedingt Selbstrespekt haben?«
»Natürlich. Ich bin doch ein Mensch. Nur Tiere und Selbstmörder haben keinen. Es ist schon ein Elend, dieser Zwiespalt! Immerhin, ich werde heute nacht mal zur Gastwirtschaft Blume gehen. Das Bier ist da prima.«
Ich wandere zurück über den dunklen Hof. Vor dem Obelisken schimmert es bleich. Es ist Lisas Blumenstrauß. Sie hat ihn dort deponiert, bevor sie zur Roten Mühle gegangen ist. Ich stehe einen Augenblick unschlüssig; dann nehme ich ihn auf. Der Gedanke, daß Knopf ihn schänden könnte, ist zuviel. Ich nehme ihn mit auf meine Bude und stelle ihn in eine Terrakotta-Urne, die ich aus dem Büro heraufhole. Die Blumen bemächtigen sich sofort des ganzen Zimmers. Da sitze ich nun, mit braunen und gelben und weißen Chrysanthemen, die nach Erde und Friedhof riechen, als würde ich begraben! Aber habe ich nicht wirklich etwas begraben?
Um Mitternacht halte ich den Geruch nicht mehr aus. Ich sehe, daß Wilke fortgeht, um die Geisterstunde in der Kneipe zu überstehen, und nehme die Blumen und bringe sie in seine Werkstatt. Die Tür steht offen; das Licht brennt noch, damit der Gespensterfürchter keinen Schreck bekommt, wenn er zurückkehrt. Eine Flasche Bier steht auf dem Sarg des Riesen. Ich trinke sie aus, stelle Glas und Flasche auf das Fensterbrett und öffne das Fenster, damit es aussieht, als hätte ein Geist Durst gehabt. Dann streue ich die Chrysanthemen vom Fenster her zum halbfertigen Sarg des Bankiers Werner und lege an das Ende eine Handvoll wertloser Tausendmarkscheine. Soll Wilke sich irgendeinen Reim darauf machen! Wenn Werners Sarg deswegen nicht fertig wird, so ist das kein Unglück – der Bankier hat Dutzende von kleinen Hausbesitzern mit Inflationsgeld um ihr bißchen Besitz gebracht.