Das Dorf Wüstringen prangt im Flaggenschmuck. Wir sind alle versammelt – Georg und Heinrich Kroll, Kurt Bach und ich. Das Kriegerdenkmal wird eingeweiht, das wir geliefert haben.
Die Pfarrer beider Bekenntnisse haben morgens in der Kirche zelebriert; jeder für seine Toten. Der katholische Pfarrer hat den Vorteil dabei gehabt; seine Kirche ist größer, sie ist bunt bemalt, hat bunte Fenster, Weihrauch, brokatene Meßgewänder und weiß und rot gekleidete Meßdiener. Der Protestant hat nur eine Kapelle, nüchterne Wände, einfache Fenster, und jetzt steht er neben dem katholischen Gottesmann wie ein armer Verwandter. Der Katholik ist geschmückt mit Spitzenüberwürfen und umringt von seinen Chorknaben; der andere hat einen schwarzen Rock an, und das ist seine ganze Pracht. Als Reklamefachmann muß ich zugeben, daß der Katholizismus Luther in diesen Dingen weit überlegen ist. Er wendet sich an die Phantasie und nicht an den Intellekt. Seine Priester sind angezogen wie die Zauberdoktoren bei den Eingeborenenstämmen; und ein katholischer Gottesdienst mit seinen Farben, seiner Stimmung, seinem Weihrauch, seinen dekorativen Gebräuchen ist als Aufmachung unschlagbar. Der Protestant fühlt das; er ist dünn und trägt eine Brille. Der Katholik ist rotwangig, voll und hat schönes, weißes Haar.
Jeder von beiden hat für seine Toten getan, was er konnte. Leider sind unter den Gefallenen auch zwei Juden, die Söhne des Viehhändlers Levi. Für sie ist kein geistlicher Trost vorhanden. Gegen die Zuziehung des Rabbis haben beide gegnerischen Gottesmänner ihre Stimmen vereint – zusammen mit dem Vorsitzenden des Kriegervereins, Major a. D. Wolkenstein, einem Antisemiten, der fest davon überzeugt ist, daß der Krieg nur durch die Juden verloren wurde. Fragt man ihn warum, dann bezeichnet er einen sofort als Volksverräter. Er war sogar dagegen, daß die Namen der beiden Levis auf die Gedenktafel eingraviert würden. Er behauptet, sie seien bestimmt weit hinter der Front gefallen. Zum Schluß wurde er jedoch überstimmt. Der Gemeindevorsteher hatte seinen Einfluß geltend gemacht. Sein Sohn war 1918 im Reservelazarett Werdenbrück an Grippe gestorben, ohne je im Felde gewesen zu sein. Er wollte ihn auch als Helden auf der Gedenktafel haben und erklärte deshalb, Tod sei Tod und Soldat Soldat – und so bekamen die Levis die untersten zwei Plätze auf der Rückseite des Denkmals, da, wo die Hunde es wahrscheinlich anpissen werden.
Wolkenstein ist in voller kaiserlicher Uniform. Das ist zwar verboten, aber wer tut schon etwas dagegen? Die seltsame Verwandlung, die bald nach dem Waffenstillstand begann, ist immer weitergegangen. Der Krieg, den fast alle Soldaten 1918 haßten, ist für die, die ihn heil überstanden haben, langsam zum großen Abenteuer ihres Lebens geworden. Sie sind in den Alltag zurückgekehrt, der, als sie noch in den Gräben lagen und auf den Krieg fluchten, ihnen als Paradies erschien. Jetzt ist es wieder Alltag geworden, mit Sorgen und Verdruß, und dafür ist allmählich der Krieg am Horizont emporgestiegen, entfernt, überlebt und dadurch ohne ihren Willen und fast ohne ihr Zutun verwandelt, verschönert und verfälscht. Der Massenmord ist zum Abenteuer geworden, dem man entkommen ist. Die Verzweiflung ist vergessen, das Elend ist verklärt, und der Tod, der einen nicht erreicht hat, ist das geworden, was er fast immer im Leben ist: etwas Abstraktes, aber nicht mehr Wirklichkeit. Wirklichkeit ist er nur, wenn er nahe einschlägt oder nach einem greift. Der Kriegerverein, der unter dem Kommando von Wolkenstein vor dem Denkmal aufmarschiert ist, war 1918 pazifistisch; jetzt ist er bereits scharf national. Wolkenstein hat die Erinnerungen an den Krieg und das Kameradschaftsgefühl, das fast jeder hatte, geschickt in Stolz auf den Krieg umgewandelt. Wer nicht nationalistisch ist, beschmutzt das Andenken der gefallenen Helden – dieser armen, mißbrauchten, gefallenen Helden, die alle gern noch gelebt hätten. Wie sie Wolkenstein von seinem Podium herunterfegen würden, auf dem er gerade seine Rede hält, wenn sie es nur noch könnten! Aber sie sind wehrlos und sind das Eigentum von Tausenden von Wolkensteins geworden, die sie für die egoistischen Zwecke benützen, die sie unter Worten wie Vaterlandsliebe und Nationalgefühl verbergen. Vaterlandsliebe! Wolkenstein versteht darunter, wieder Uniform zu tragen, Oberst zu werden und weiter Leute in den Tod zu schicken.
Er donnert mächtig von der Tribüne und ist bereits beim inneren Schweinehund angekommen, beim Dolchstoß in den Rücken, bei der unbesiegten deutschen Armee und beim Gelöbnis für unsere toten Helden, sie zu ehren, sie zu rächen und die deutsche Armee wieder aufzubauen.
Heinrich Kroll hört andächtig zu; er glaubt jedes Wort. Kurt Bach, der als Schöpfer des Löwen mit der Lanze in der Flanke auch eingeladen worden ist, starrt verträumt auf das verhüllte Denkmal. Georg sieht aus, als gäbe er sein Leben für eine Zigarre; und ich, im geborgten kleinen Gesellschaftsanzug, wollte, ich wäre zu Hause geblieben und schliefe mit Gerda in ihrem weinumrankten Zimmer, während das Orchestrion aus dem Altstädter Hof die Siamesische Wachtparade klimpert.
Wolkenstein schließt mit einem dreifachen Hurra. Die Kapelle intoniert das Lied vom guten Kameraden. Der Sängerchor singt es zweistimmig. Wir alle singen mit. Es ist ein neutrales Lied, ohne Politik und Rache – einfach die Klage um einen toten Kameraden.
Die Pastoren treten vor. Die Hülle des Denkmals fällt. Kurt Bachs brüllender Löwe kauert oben darauf. Vier auffliegende Bronzeadler sitzen auf den Stufen. Die Gedenktafeln sind aus schwarzem Granit, die übrigen Steine sind quaderförmig bossiert. Es ist ein sehr teures Denkmal, und wir erwarten die Zahlung dafür heute nachmittag. Sie ist uns versprochen worden, und deshalb sind wir hier. Wenn wir sie nicht bekommen, sind wir nahezu bankrott. Der Dollar ist in der letzten Woche um fast das Doppelte gestiegen.
Die Pastoren segnen das Denkmal ein; jeder für seinen Gott. Ich habe im Felde, wenn wir zum Gottesdienst befohlen wurden und die Pastoren der verschiedenen Bekenntnisse für den Sieg der deutschen Waffen beteten, oft darüber nachgedacht, daß ja ebenso englische, französische, russische, amerikanische, italienische und japanische Geistliche für die Siege der Waffen ihrer Länder beteten, und ich habe mir Gott dann so vorgestellt wie eine Art von eiligem Vereinspräsidenten in Nöten, besonders wenn zwei gegnerische Länder des gleichen Bekenntnisses beteten. Für welches sollte er sich entscheiden? Für das mit den meisten Einwohnern? Oder das mit den meisten Kirchen? Oder wo war seine Gerechtigkeit, wenn er ein Land gewinnen ließ, das andere aber nicht, obschon auch dort fleißig gebetet wurde? Manchmal kam er mir auch vor wie ein abgehetzter alter Kaiser über viele Staaten, der dauernd zu Repräsentationen mußte und immer die Uniform zu wechseln hatte – jetzt die katholische, dann die protestantische, die evangelische, die anglikanische, die episkopalische, die reformierte, je nach dem Gottesdienst, der gerade gehalten wurde, so wie ein Kaiser bei den Paraden von Husaren, Grenadieren, Artillerie und Marine.
Die Kränze werden niedergelegt. Wir haben auch einen dabei, im Namen der Firma. Wolkenstein stimmt mit seiner überschnappenden Stimme das Lied »Deutschland, Deutschland über alles« an. Das scheint im Programm nicht vorgesehen zu sein; die Musik schweigt, und nur ein paar Stimmen fallen ein. Wolkenstein wird rot und dreht sich wütend um. In der Kapelle beginnen der Trompeter und dann das Englischhorn die Melodie zu übernehmen. Beide übertönen Wolkenstein, der jetzt mächtig winkt. Die anderen Instrumente finden sich, und ungefähr die Hälfte aller Versammelten singt allmählich mit; aber Wolkenstein hat zu hoch angefangen, und es wird ein ziemliches Quietschen. Zum Glück greifen die Damen ein. Sie stehen zwar im Hintergrund, doch sie retten die Situation und bringen das Lied sieghaft zu Ende. Ohne zu wissen warum, fällt mir Renée de la Tour ein – sie hätte es allein gekonnt.
Nachmittags beginnt der gemütliche Teil. Wir müssen noch bleiben, da wir unser Geld noch nicht bekommen haben. Durch die lange patriotische Rede Wolkensteins haben wir den Dollarkurs vom Mittag versäumt – wahrscheinlich ein erheblicher Verlust. Es ist heiß, und der geborgte kleine Besuchsanzug ist mir zu eng um die Brust. Am Himmel stehen dicke weiße Wolken, auf dem Tisch stehen dicke Gläser mit Steinhäger-Schnaps und daneben lange Glasstangen mit Bier. Die Köpfe sind rot, die Gesichter glitzern von Schweiß. Das Festessen für die Toten war fett und reichlich. Am Abend soll großer patriotischer Ball im Niedersächsischen Hof sein. Überall hängen Girlanden aus Papier, Fahnen, natürlich schwarzweißrote, und Kränze aus Tannengrün. Nur am letzten Hause des Dorfes hängt aus dem Bodenfenster eine schwarzrotgoldene Fahne. Es ist die Fahne der deutschen Republik. Die schwarzweißroten sind die des alten Kaiserreiches. Sie sind verboten; aber Wolkenstein hat erklärt, die Toten seien unter den ruhmreichen, alten Farben gefallen, und jeder, der die schwarzrotgoldene aufziehe, sei ein Verräter. Somit ist der Tischler Beste, der dort wohnt, ein Verräter. Er hat zwar einen Lungenschuß im Krieg erhalten, aber er ist ein Verräter. In unserm geliebten Vaterland wird man leicht zum Verräter erklärt. Nur die Wolkensteins sind niemals welche. Sie sind das Gesetz. Sie bestimmen, wer ein Verräter ist.
Die Stimmung steigt. Die älteren Leute verschwinden. Ein Teil des Kriegervereins auch. Die Arbeit auf dem Felde ruft sie ab. Die eiserne Garde, wie Wolkenstein sie nennt, bleibt. Die Pastoren sind längst gegangen. Die eiserne Garde besteht aus den jüngeren Leuten. Wolkenstein, der die Republik verachtet, aber die Pension, die sie ihm gewährt, annimmt und dazu benutzt, gegen die Regierung zu hetzen, hält eine neue Ansprache, die mit dem Worte »Kameraden« beginnt. Das ist zuviel für mich. Kameraden hat uns kein Wolkenstein je genannt, als er noch im Dienst war. Da waren wir Muskoten, Schweinehunde, Idioten, und wenn es hoch kam, Leute. Nur einmal, am Abend vor einem Angriff, nannte uns der Schindler Helle, unser Oberleutnant, der früher Forstrat war, Kameraden. Er hatte Angst, daß ihn am nächsten Morgen eine Kugel von hinten treffen würde.
Wir gehen zum Gemeindevorsteher. Er hockt bei Kaffee, Kuchen und Zigarren in seinem Hause und weigert sich, zu zahlen. Wir haben uns schon so etwas gedacht. Zum Glück ist Heinrich Kroll nicht bei uns; er ist bewundernd bei Wolkenstein geblieben. Kurt Bach ist mit einer kräftigen Dorfschönen in die Getreidefelder gegangen, um die Natur zu genießen. Georg und ich stehen dem Vorsteher Döbbeling gegenüber, der von seinem buckligen Schreiber Westhaus unterstützt wird. »Kommen Sie nächste Woche wieder«, sagt Döbbeling gemütlich und bietet uns Zigarren an. »Dann haben wir alles zusammengerechnet und werden Sie glatt auszahlen. Jetzt in dem Trubel war es noch nicht möglich, fertig zu werden.«
Wir nehmen die Zigarren. »Das mag sein«, erwidert Georg. »Aber wir brauchen das Geld heute, Herr Döbbeling.«
Der Schreiber lacht. »Geld braucht jeder.«
Döbbeling blinzelt ihm zu. Er schenkt Schnaps ein.
»Nehmen wir einen darauf!«
Er hat uns nicht eingeladen, zur Feier zu kommen. Das war Wolkenstein, der nicht an schnöden Mammon denkt. Döbbeling wäre es lieber gewesen, keiner von uns wäre erschienen – oder höchstens Heinrich Kroll. Mit dem wäre er leicht fertig geworden.
»Es war abgemacht, daß bei der Einweihung gezahlt werden soll«, sagt Georg.
Döbbeling hebt gleichmütig die Schultern. »Das ist ja fast dasselbe – nächste Woche. Wenn Sie überall so prompt Ihr Geld kriegten -«
»Wir kriegen es, sonst liefern wir nicht.«
»Na, dieses Mal haben Sie geliefert. Prost!«
Wir verweigern den Schnaps nicht. Döbbeling blinzelt dem ihn bewundernden Schreiber zu. »Guter Schnaps«, sage ich.
»Noch einen?« fragt der Schreiber.
»Warum nicht?«
Der Schreiber schenkt ein. Wir trinken. »Also – gut«, sagt Döbbeling. »Dann nächste Woche.«
»Also«, sagt Georg. »Heute! Wo ist das Geld?«
Döbbeling ist beleidigt. Wir haben Schnaps und Zigarren angenommen, und nun revoltieren wir. Das ist gegen die Ordnung. »Nächste Woche«, sagte er. »Noch ’nen Schnaps zum Abschied?«
»Warum nicht?«
Döbbeling und der Schreiber werden lebendig. Sie glauben gesiegt zu haben. Ich blicke aus dem Fenster. Draußen liegt, wie ein gerahmtes Bild, die Landschaft des späten Nachmittags – das Hoftor, eine Eiche, und dahinter dehnen sich, unendlich friedlich, Felder in hellem Chromgelb und lichtem Grün. Was zanken wir uns hier herum? denke ich. Ist das dort nicht das Leben, golden und grün und still im steigenden und fallenden Atem der Jahreszeiten? Was haben wir daraus gemacht?
»Es würde mir leid tun«, höre ich Georg sagen. »Aber wir müssen darauf bestehen. Sie wissen, daß nächste Woche das Geld viel weniger wert ist. Wir haben ohnehin schon an dem Auftrag verloren. Er hat drei Wochen länger gedauert, als wir erwartet haben.«
Der Vorsteher sieht ihn listig an. »Nun, da macht eine Woche mehr doch nichts aus.«
Der kleine Schreiber meckert plötzlich. »Was wollen Sie denn machen, wenn Sie das Geld nicht bekommen? Sie können das Denkmal doch nicht wieder mitnehmen!«
»Warum nicht?« erwidere ich. »Wir sind vier Leute, und einer von uns ist der Bildhauer. Wir können mit Leichtigkeit die Adler mitnehmen und sogar den Löwen, wenn es sein muß. Unsere Arbeiter können in zwei Stunden hier sein.«
Der Schreiber lächelt. »Glauben Sie, daß Sie damit durchkämen, ein Denkmal, das eingeweiht ist, wieder abzumontieren? Wüstringen hat einige tausend Einwohner.«
»Und Major Wolkenstein und den Kriegerverein«, fügt der Vorsteher hinzu. »Begeisterte Patrioten.«
»Sollten Sie es versuchen, würde es außerdem schwer für Sie sein, hier jemals wieder einen Grabstein zu verkaufen.«
Der Schreiber grinst jetzt offen.
»Noch einen Schnaps?« fragt Döbbeling und grinst ebenfalls. Sie haben uns in der Falle. Wir können nichts machen.
In diesem Augenblick kommt jemand rasch über den Hof gelaufen. »Herr Vorsteher!« schreit er durchs Fenster. »Sie müssen rasch kommen. Es ist was passiert!«
»Was?«
»Beste! Sie haben den Tischler – sie wollten seine Fahne herunterholen, und da ist es passiert!«
»Was? Hat Beste geschossen? Dieser verdammte Sozialist!«
»Nein! Beste ist – er blutet -«
»Sonst keiner?«
»Nein, nur Beste -«
Das Gesicht Döbbelings wird heiter. »Ach so! Deshalb brauchen Sie doch nicht so zu schreien!«
»Er kann nicht aufstehen. Blutet aus dem Mund.«
»Hat ein paar in seine freche Schnauze gekriegt«, erklärt der kleine Schreiber. »Wozu muß er die andern auch herausfordern? Wir kommen schon. Alles mit der Ruhe.«
»Sie entschuldigen wohl«, sagt Döbbeling würdig zu uns. »Aber dies ist amtlich. Ich muß die Sache untersuchen. Wir müssen Ihre Angelegenheit verschieben.«
Er glaubt, uns jetzt völlig erledigt zu haben und zieht seinen Rock an. Wir gehen mit ihm hinaus. Er hat keine große Eile. Wir wissen warum. Niemand wird sich mehr erinnern, wenn er ankommt, wer Beste verprügelt hat. Eine alte Sache.
Beste liegt im engen Flur seines Hauses. Die Fahne der Republik liegt zerrissen neben ihm. Vor dem Hause steht eine Anzahl Leute. Von der eisernen Garde sind keine dabei. »Was ist passiert?« fragt Döbbeling den Gendarmen, der mit einem Notizbuch neben der Tür steht.
Der Gendarm will berichten. »Waren Sie dabei?« fragt er.
»Nein. Ich wurde später geholt.«
»Gut. Dann wissen Sie also nichts. Wer war dabei?«
Niemand antwortet. »Wollen Sie nicht einen Arzt holen lassen?« fragt Georg.
Döbbeling sieht ihn unfreundlich an. »Ist das nötig? Etwas Wasser -«
»Es ist nötig. Der Mann stirbt.«
Döbbeling dreht sich eilig herum und beugt sich über Beste. »Stirbt?«
»Stirbt. Er hat einen schweren Blutsturz. Vielleicht hat er auch Brüche. Es sieht aus, als wäre er die Treppe hinuntergeworfen worden.«
Döbbeling sieht Georg Kroll mit einem langsamen Blick an. »Das dürfte einstweilen wohl nur Ihre Vermutung sein, Herr Kroll, und weiter nichts. Wir wollen dem Kreisarzt überlassen, das festzustellen.«
»Kommt kein Arzt für den Mann hier?«
»Lassen Sie das meine Sorge sein. Einstweilen bin ich der Ortsvorsteher und nicht Sie. Holt Doktor Bredius«, sagt Döbbeling zu zwei Burschen mit Fahrrädern. »Sagt, ein Unglück sei passiert.«
Wir warten. Bredius kommt auf einem der Fahrräder der beiden Burschen. Er springt herunter und geht in den Flur. »Der Mann ist tot«, sagt er, als er wieder aufsteht.
»Tot?«
»Ja, tot. Das ist doch Beste, nicht wahr? Der mit dem Lungenschuß.«
Der Vorsteher nickt unbehaglich. »Es ist Beste. Von einem Lungenschuß weiß ich nichts. Aber vielleicht hat der Schreck – er hatte wohl ein schwaches Herz -«
»Davon bekommt man keinen Blutsturz«, erklärt Bredius trocken. »Was ist denn passiert?«
»Das nehmen wir gerade auf. Bitte nur die Leute hierzubleiben, die als Zeugen aussagen können.« Er sieht Georg und mich an.
»Wir kommen später wieder«, sage ich.
Mit uns gehen fast alle Leute fort, die herumstehen. Es wird wenige Zeugen geben.
Wir sitzen im Niedersächsischen Hof. Georg ist so wütend, wie ich ihn lange Zeit nicht gesehen habe. Ein junger Arbeiter erscheint. Er setzt sich zu uns. »Waren Sie dabei?« fragt Georg.
»Ich war dabei, als Wolkenstein die andern aufhetzte, die Fahne herunterzuholen. Den Schmachfleck zu beseitigen, nannte er das.«
»Ging Wolkenstein mit?«
»Nein.«
»Natürlich nicht. Und die andern?«
»Ein ganzer Haufen stürmte zu Beste hinüber. Sie hatten alle getrunken.«
»Und dann?«
»Ich glaube, Beste hat sich gewehrt. Sie wollten ihn wohl nicht richtig totschlagen. Aber es ist dann eben passiert. Beste hat die Fahne festhalten wollen, und dann haben sie ihn damit die Treppe heruntergestoßen. Vielleicht haben sie ihm auch ein paar zu harte Schläge auf den Rücken versetzt. Im Suff kennt man ja oft seine eigene Kraft nicht. Totschlagen wollten sie ihn sicher nicht.«
»Sie wollten ihm nur einen Denkzettel geben?«
»Ja, genau das.«
»So hat Wolkenstein es ihnen gesagt, was?«
Der Arbeiter nickt und stutzt dann. »Woher wissen Sie das?«
»Ich kann es mir denken. Es war doch so, oder nicht?«
Der Arbeiter schweigt. »Wenn Sie es wissen, dann wissen Sie es ja«, sagt er schließlich.
»Es sollte genau festgestellt werden. Totschlag ist eine Sache für den Staatsanwalt. Und Anstiftung dazu auch.«
Der Arbeiter zuckt zurück. »Damit habe ich nichts zu tun. Ich weiß von nichts.«
»Sie wissen eine ganze Menge. Und ebenso wissen noch mehr Leute, was passiert ist.«
Der Arbeiter trinkt sein Bier aus. »Ich habe nichts gesagt«, erklärt er entschlossen. »Und ich weiß von nichts. Was meinen Sie, was mir geschehen würde, wenn ich das Maul nicht halte? Nein, Herr, nicht ich! Ich habe eine Frau und ein Kind und muß leben. Glauben Sie, daß ich noch Arbeit fände, wenn ich quatschte? Nein, Herr, suchen Sie sich einen andern dafür! Nicht mich!«
Er verschwindet. »So wird es mit allen sein«, sagt Georg finster.
Wir warten. Draußen sehen wir Wolkenstein vorbeigehen. Er ist nicht mehr in Uniform und trägt einen braunen Koffer. »Wohin geht er?« frage ich.
»Zum Bahnhof. Er wohnt nicht mehr in Wüstringen. Ist nach Werdenbrück verzogen, als Kreisvorsitzender der Kriegerverbände. Kam nur zur Einweihung hierher. Im Koffer ist seine Uniform.«
Kurt Bach erscheint mit seinem Mädchen. Sie haben Blumen mitgebracht. Das Mädchen ist untröstlich, als es hört, was vorgefallen ist. »Dann wird sicher der Ball abgesagt.«
»Ich glaube nicht«, sage ich.
»Doch, sicher. Wenn ein Toter über der Erde steht. So ein Unglück!«
Georg steht auf. »Komm«, sagt er zu mir. »Es hilft nichts. Wir müssen noch einmal zu Döbbeling.«
Das Dorf ist plötzlich still. Die Sonne steht schräg hinter dem Kriegerdenkmal. Der marmorne Löwe Kurt Bachs leuchtet. Döbbeling ist jetzt nichts mehr als Amtsperson.
»Sie wollen doch nicht im Angesicht des Todes wieder von Geld reden?« erklärt er sofort.
»Doch«, sagt Georg. »Das ist unser Beruf. Wir sind immer im Angesicht des Todes.«
»Sie müssen sich gedulden. Ich habe jetzt keine Zeit. Sie wissen ja, was passiert ist.«
»Das wissen wir. Wir haben auch inzwischen den Rest erfahren. Sie können uns als Zeugen buchen, Herr Döbbeling. Wir bleiben hier, bis wir das Geld bekommen, stehen also der Kriminalpolizei gerne morgen früh zur Verfügung.«
»Zeugen? Was für Zeugen? Sie waren ja gar nicht dabei.«
»Das lassen Sie unsere Sache sein. Sie müssen doch daran interessiert sein, alles festzustellen, was mit dem Totschlag an dem Tischler zu tun hat. An dem Totschlag und der Anstiftung dazu.«
Döbbeling starrt Georg lange an. Dann sagt er langsam:
»Soll das eine Erpressung sein?«
Georg steht auf. »Wollen Sie mir einmal genau erklären, was Sie damit meinen?«
Döbbeling erwidert nichts. Er sieht Georg weiter an. Georg hält den Blick aus. Dann geht Döbbeling zu einem Geldschrank, öffnet ihn und legt einige Packen Geldscheine auf den Tisch. »Zählen Sie nach und quittieren Sie.«
Das Geld liegt zwischen den leeren Schnapsgläsern und den Kaffeetassen auf dem rotkarierten Tischtuch. Georg zählt es nach und schreibt die Quittung. Ich blicke zum Fenster hinaus. Die gelben und grünen Felder schimmern immer noch; aber sie sind nicht mehr die Harmonie des Daseins; sie sind weniger und mehr.
Döbbeling nimmt die Quittung Georgs entgegen. »Sie sind sich wohl darüber klar, daß Sie auf unserem Friedhof keinen Grabstein mehr aufstellen werden«, sagt er.
Georg schüttelt den Kopf. »Da irren Sie sich. Wir werden sogar bald einen aufstellen. Für den Tischler Beste. Gratis. Und das hat nichts mit Politik zu tun. Sollten Sie beschließen, den Namen Bestes mit auf das Kriegerdenkmal zu setzen, so sind wir ebenfalls bereit, das umsonst auszuführen.«
»Dazu wird es wohl nicht kommen.«
»Das dachte ich mir.«
Wir gehen zum Bahnhof. »Der Kerl hatte also das Geld da«, sage ich.
»Natürlich. Ich wußte, daß er es hatte. Er hat es schon seit acht Wochen und hat damit spekuliert. Hat glänzend daran verdient. Wollte noch einige Hunderttausende mehr damit machen. Wir hätten es auch nächste Woche nicht gekriegt.«
Am Bahnhof erwarten uns Heinrich Kroll und Kurt Bach.
»Habt ihr das Geld?« fragt Heinrich.
»Ja.«
»Dachte ich mir. Sind hochanständige Leute hier. Zuverlässig.«
»Ja. Zuverlässig.«
»Der Ball ist abgesagt«, erklärt Kurt Bach, der Sohn der Natur.
Heinrich zieht seine Krawatte zurecht. »Der Tischler hatte sich das selbst zuzuschreiben. Es war eine unerhörte Herausforderung.«
»Was? Daß er die offizielle Landesflagge heraushängte?«
»Es war eine Herausforderung. Er wußte, wie die andern denken. Er mußte damit rechnen, daß er Krach kriegte. Das ist doch logisch.«
»Ja, Heinrich, es ist logisch«, sagt Georg. »Und nun tu mir den Gefallen und halte deine logische Schnauze.«
Heinrich Kroll steht beleidigt auf. Er will etwas sagen, läßt es aber, als er Georgs Gesicht sieht. Umständlich bürstet er sich mit den Händen den Staub von seinem Marengojackett ab. Dann erspäht er Wolkenstein, der auch auf den Zug wartet. Der Major a. D. sitzt auf einer abgelegenen Bank und möchte am liebsten schon in Werdenbrück sein. Er ist nicht erfreut, als Heinrich auf ihn zutritt. Aber Heinrich läßt sich neben ihm nieder.
»Was wird aus der Sache werden?« frage ich Georg.
»Nichts. Keiner der Täter wird gefunden werden.«
»Und Wolkenstein?«
»Dem passiert auch nichts. Nur der Tischler würde bestraft werden, wenn er noch lebte. Nicht die anderen. Politischer Mord, wenn er von rechts begangen wird, ist ehrenwert und hat alle mildernden Umstände. Wir haben eine Republik; aber wir haben die Richter, die Beamten und die Offiziere der alten Zeit intakt übernommen. Was ist da zu erwarten?«
Wir starren in das Abendrot. Der Zug pufft schwarz und verloren heran wie eine Begräbniskutsche. Sonderbar, denke ich, wir alle haben doch so viele Tote im Kriege gesehen, und wir wissen, daß über zwei Millionen von uns nutzlos gefallen sind – warum sind wir da so erregt wegen eines einzelnen, und die zwei Millionen haben wir schon fast vergessen? Aber das ist wohl so, weil ein einzelner immer der Tod ist – und zwei Millionen immer nur eine Statistik.