Der Dichterklub ist bei Eduard versammelt. Der Ausflug zum Bordell ist beschlossen. Otto Bambuss erhofft davon eine Durchblutung seiner Lyrik; Hans Hungermann will sich Anregungen holen für seinen »Casanova« und einen Zyklus in freien Rhythmen:»Dämon Weib«, und selbst Matthias Grund, der Dichter des Buches vom Tode, glaubt für das letzte Delirium eines Paranoikers ein paar flotte Details erhaschen zu können. »Warum kommst du nicht mit, Eduard?« frage ich.
»Kein Bedürfnis«, erklärt er überlegen. »Habe alles, was ich brauche.«
»So? Hast du?« Ich weiß, was er vorspiegeln will, und ich weiß auch, daß er lügt.
»Er schläft mit allen Zimmermädchen seines Hotels«, erklärt Hans Hungermann. »Wenn sie sich weigern, entläßt er sie. Er ist ein wahrhafter Volksfreund.«
»Zimmermädchen! Das würdest du tun! Freie Rhythmen, freie Liebe! Ich nicht! Nie etwas im eigenen Hause! Alter Wahlspruch.«
»Mit Gästen auch nicht?«
»Gäste.« Eduard richtet die Augen zum Himmel. »Da kann man sich natürlich oft nicht helfen. Die Herzogin von Bell-Armin zum Beispiel -«
»Was zum Beispiel?« frage ich, als er schweigt.
Eduard ziert sich. »Ein Kavalier ist diskret.«
Hungermann bekommt einen Hustenanfall. »Schöne Diskretion! Wie alt war sie? Achtzig?«
Eduard lächelt verächtlich – aber im nächsten Moment fällt das Lächeln von ihm ab wie eine Maske, deren Knoten gerissen ist; Valentin Busch ist eingetreten. Er ist zwar kein literarischer Mann, aber er hat trotzdem beschlossen, mitzumachen. Er will dabeisein, wenn Otto Bambuss seine Jungfernschaft verliert. »Wie geht es, Eduard?« fragt er. »Schön, daß du noch am Leben bist, was? Das mit der Herzogin hättest du sonst nicht genießen können.«
»Woher weißt du, daß es wahr ist?« frage ich völlig überrascht.
»Habe es nur draußen im Gang gehört. Ihr redet ziemlich laut. Habt wohl schon allerlei getrunken. Immerhin, ich gönne Eduard die Herzogin von Herzen. Freue mich, daß ich es war, der ihn dafür retten konnte.«
»Es war lange vor dem Kriege«, erklärt Eduard eilig. Er wittert einen neuen Anschlag auf seinen Weinkeller.
»Gut, gut«, erwidert Valentin nachgiebig. »Nach dem Kriege wirst du auch schon deinen Mann gestanden und Schönes erlebt haben.«
»In diesen Zeiten?«
»Gerade in diesen Zeiten! Wenn der Mensch verzweifelt ist, ist er leichter dem Abenteuer zugänglich. Und gerade Herzoginnen, Prinzessinnen und Gräfinnen sind in diesen Jahren sehr verzweifelt. Inflation, Republik, keine kaiserliche Armee mehr, das kann ein Aristokratenherz schon brechen! Wie ist es mit einer guten Flasche, Eduard?«
»Ich habe jetzt keine Zeit«, erwidert Eduard geistesgegenwärtig. »Tut mir leid, Valentin, aber heute geht es nicht. Wir machen mit dem Klub einen Ausflug.«
»Gehst du denn mit?« frage ich.
»Natürlich! Als Schatzmeister! Muß ich doch! Dachte vorhin nicht daran! Pflicht ist Pflicht.«
Ich lache. Valentin zwinkert mir zu und sagt nicht, daß auch er mitkommt. Eduard lächelt, weil er glaubt, eine Flasche gespart zu haben. Alles ist damit in schönster Harmonie.
Wir brechen auf. Es ist ein herrlicher Abend. Wir gehen zur Bahnstraße 12. Die Stadt hat zwei Puffs, aber das an der Bahnstraße ist das elegantere. Es liegt außerhalb der Stadt und ist ein kleines Haus, das von Pappeln umgeben ist. Ich kenne es gut; ich habe dort einen Teil meiner Jugend verbracht, ohne zu wissen, was dort los war. An den schulfreien Nachmittagen pflegten wir in den Bächen und Teichen vor der Stadt Molche und Fische zu fangen und auf den Wiesen Schmetterlinge und Käfer. An einem besonders heißen Tage gerieten wir auf der Suche nach einem Gasthaus, um Limonade zu trinken, in die Bahnstraße 12. Die große Gaststube im Parterre sah aus wie andere Gaststuben auch. Sie war kühl, und als wir nach Selterswasser fragten, bekamen wir es vorgesetzt. Nach einer Weile kamen ein paar Frauen in Morgenröcken und blumigen Kleidern dazu. Sie fragten uns, was wir machten und in welcher Schulklasse wir wären. Wir bezahlten unsere Selters und kamen am nächsten heißen Tage wieder, diesmal mit unseren Büchern, die wir mitgebracht hatten, um im Freien am Bach unsere Aufgaben zu lernen. Die freundlichen Frauen waren wieder da und interessierten sich mütterlich für uns. Wir fanden es kühl und behaglich, und da nachmittags niemand außer uns kam, blieben wir sitzen und begannen unsere Schularbeiten zu machen. Die Frauen sahen uns über die Schultern und halfen uns, als wären sie unsere Lehrer. Sie achteten darauf, daß wir unsere schriftlichen Arbeiten machten, sie kontrollierten unsere Zensuren, sie hörten uns ab, was wir auswendig lernen mußten, und gaben uns Schokolade, wenn wir gut waren, oder gelegentlich auch eine mittlere Ohrfeige, wenn wir faul waren. Wir dachten uns nichts dabei; wir waren noch in dem glücklichen Alter, wo Frauen einem nichts bedeuten. Nach kurzer Zeit nahmen die nach Veilchen und Rosen duftenden Damen Mutter- und Erzieherstellen bei uns ein; sie waren voll bei der Sache, und wenn wir nur in der Tür erschienen, kam es schon vor, daß ein paar Göttinnen in Seide und Lackschuhen uns aufgeregt fragten:»Was war mit der Klassenarbeit in Geographie? Gut oder schlecht?« Meine Mutter lag damals schon sehr viel im Krankenhaus, und so geschah es, daß ich einen Teil meiner Erziehung im Puff von Werdenbrück erhielt, und ich kann nur sagen, daß sie strenger war, als wenn ich sie zu Hause gehabt hätte. Wir kamen für zwei Sommer, dann begannen wir zu wandern und hatten weniger Zeit, und meine Familie zog in einen anderen Teil der Stadt. Ich bin dann noch einmal im Kriege in der Bahnstraße gewesen. Das war am Tage, bevor wir ins Feld mußten. Wir waren knapp achtzehn Jahre alt, einige noch unter achtzehn, und die meisten von uns hatten noch nie mit einer Frau etwas gehabt. Wir wollten aber nicht erschossen werden, ohne etwas davon zu kennen, und deshalb gingen wir zu fünft in die Bahnstraße, die wir ja noch von früher kannten. Es war großer Betrieb, und wir bekamen unseren Schnaps und unser Bier. Nachdem wir uns genügend Mut angetrunken hatten, wollten wir unser Heil versuchen. Willy, der frechste von uns, war der erste. Er hielt Fritzi, die verführerischste von allen anwesenden Damen, an. »Schatz, wie wäre es denn?«
»Klar«, erwiderte Fritzi durch den Lärm und Rauch, ohne ihn richtig anzusehen. »Hast du Geld?«
»Mehr als genug.« Willi zeigte seine Löhnung und das Geld vor, das ihm seine Mutter gegeben hatte, damit er dafür eine Messe für eine glückliche Rettung aus dem Kriege lesen lassen sollte.
»Na, also! Hoch das Vaterland!« sagte Fritzi ziemlich geistesabwesend und sah in die Richtung des Bierausschanks. »Komm nach oben!«
Willy stand auf und legte seine Mütze ab. Fritzi stutzte und starrte auf sein brandrotes Haar. Es war von einzigartiger Leuchtkraft, und sie kannte es natürlich, selbst nach sieben Jahren, sofort wieder. »Einen Augenblick«, sagte sie. »Heißen Sie nicht Willy?«
»Absolut!« erklärte Willy strahlend.
»Und hast du nicht einmal hier deine Schularbeiten gemacht?«
»Richtig!«
»So – und du willst jetzt mit mir aufs Zimmer gehen?«
»Natürlich! Wir kennen uns ja doch schon.«
Willy grinste über das ganze Gesicht. Im nächsten Augenblick hatte er eine Ohrfeige kleben. »Du Ferkel!« sagte Fritzi. »Du willst mit mir ins Bett? Das ist doch das Letzte an Frechheit!«
»Wieso?« stotterte Willy. »Alle andern hier -«
»Alle andern! Was gehen mich die andern an? Habe ich den anderen ihren Katechismus abgehört? Habe ich ihnen den Aufsatz gemacht? Habe ich aufgepaßt, daß sie sich nicht erkälten, du verfluchter Rotzbengel?«
»Aber ich bin jetzt siebzehneinhalb -«
»Halt die Klappe! Das ist ja, als ob du Lümmel deine Mutter vergewaltigen wolltest! Raus hier, du minderjähriger Flegel!«
»Er geht morgen in den Krieg«, sage ich. »Haben Sie kein patriotisches Verständnis?« Sie faßte mich ins Auge.
»Bist du nicht der, der die Kreuzottern hier losgelassen hat? Drei Tage mußten wir das Etablissement schließen, bis wir die Biester gefunden hatten!«
»Ich habe sie nicht losgelassen«, verteidigte ich mich. »Sie sind mir entkommen.« Bevor ich noch mehr sagen konnte, hatte ich ebenfalls eine Ohrfeige sitzen. »Lausebengels! Raus mit euch!«
Der Lärm brachte die Puffmutter herbei. Sie ließ sich von der empörten Fritzi die Sache erklären. Sie erkannte Willy auch sofort wieder. »Der Rote!« keuchte sie. Sie wog zweihundertvierzig Pfund und zitterte vor Lachen wie ein Berg von Gelee im Erdbeben.
»Und du! Heißt du nicht Ludwig?«
»Ja«, sagte Willy. »Aber wir sind jetzt Soldaten und haben ein Recht auf Geschlechtsverkehr.«
»So, ihr habt ein Recht!« Die Puffmutter schüttelte sich erneut. »Weißt du noch, Fritzi, wie er Angst hatte, daß sein Vater erfahren würde, er habe die Stinkbomben in der Religionsstunde geworfen? Jetzt hat er ein Recht auf Geschlechtsverkehr! Hohoho!«
Fritzi sah den Humor der Sache nicht. Sie war ehrlich wütend und beleidigt. »Als wenn mein eigener Sohn -«
Die Puffmutter mußte von zwei Mann aufrecht gehalten werden. Tränen strömten über ihr Gesicht. Speichelblasen formten sich an ihren Mundwinkeln. Sie hielt sich mit beiden Händen den schwabbelnden Bauch. »Limonade«, würgte sie heraus. »Waldmeisterlimonade! War das nicht«- Keuchen, Ersticken -»euer Lieblingsgetränk?«
»Jetzt trinken wir Schnaps und Bier«, erwiderte ich. »Jeder wird mal erwachsen.«
»Erwachsen!« Erneuter Erstickungsanfall der Puffmutter, Toben der beiden Doggen, die ihr gehörten und glaubten, sie würde attackiert. Wir zogen uns vorsichtig zurück. »Raus, ihr undankbaren Schweine!« rief Fritzi unversöhnlich.
»Schön«, sagte Willy an der Tür. »Dann gehen wir eben zur Rollstraße.«
Wir standen mit unseren Uniformen, unseren Mordwaffen und den Ohrfeigen draußen. Aber wir kamen nicht zur Rollstraße, zum zweiten Puff der Stadt. Es war ein Weg von über zwei Stunden, quer durch ganz Werdenbrück, und wir ließen uns lieber statt dessen rasieren. Auch das war das erstemal in unserem Leben, und da wir den Beischlaf nicht kannten, schien uns der Unterschied nicht so groß wie später, zumal uns auch der Friseur beleidigte und uns Radiergummi für unsere Barte empfahl. Nachher trafen wir dann weitere Bekannte, und bald hatten wir genug getrunken und vergaßen alles. So kam es, daß wir als Jungfrauen ins Feld fuhren und daß siebzehn von uns fielen, ohne je gewußt zu haben, was eine Frau ist. Willy und ich verloren unsere Jungfernschaft dann in Houthoulst in Flandern in einem Estaminet. Willy holte sich dabei einen Tripper, kam ins Lazarett und entging so der Flandernschlacht, in der die siebzehn Jungfrauen fielen. Wir sahen daran bereits damals, daß Tugend nicht immer belohnt wird.
Wir wandern durch die laue Sommernacht. Otto Bambuss hält sich an mich als den einzigen, der zugibt, den Puff zu kennen. Die anderen kennen ihn auch, tun aber unschuldig, und der einzige, der behauptet, ein fast täglicher Gast dort zu sein, der Dramatiker und Schöpfer des Monowerkes »Adam«, Paul Schneeweiß, lügt; er ist nie dort gewesen.
Ottos Hände schwitzen. Er erwartet Priesterinnen der Lust, Bacchantinnen und dämonische Raubtiere, und ist nicht ganz sicher, ob er nicht mit herausgerissener Leber oder zumindest ohne Hoden in Eduards Opel zurücktransportiert wird. Ich tröste ihn.
»Verletzungen kommen höchstens ein-, zweimal in der Woche vor, Otto! Und dann sind sie fast immer viel harmlosere Vorgestern wurde einem Gast von Fritzi ein Ohr abgerissen; aber soviel ich weiß, kann man Ohren wieder annähen oder durch Zelluloidohren von täuschender Ähnlichkeit ersetzen.«
»Ein Ohr?« Otto bleibt stehen.
»Es gibt natürlich Damen, die keine abreißen«, erwidere ich. »Aber die willst du ja nicht kennenlernen. Du willst doch das Urweib in seiner ganzen Pracht haben.«
»Ein Ohr ist ein ziemlich großes Opfer«, erklärt Otto, die schwitzende Bohnenstange, und reibt die Gläser seines Kneifers trocken.
»Die Poesie verlangt Opfer. Du würdest mit einem abgerissenen Ohr im wahrsten Sinne ein blutdurchströmter Lyriker sein. Komm!«
»Ja, aber ein Ohr! Etwas, was man so deutlich sieht!«
»Wenn ich die Wahl hätte«, sagt Hans Hungermann,»ich würde mir lieber ein Ohr abreißen lassen als kastriert zu werden, offen gestanden.«
»Was?« Otto bleibt wieder stehen. »Ihr macht Witze! Das kommt doch nicht vor!«
»Es kommt vor«, erklärt Hungermann. »Leidenschaft ist zu allem fähig. Aber beruhige dich, Otto: Kastration steht unter dem Strafgesetz. Die Frau bekommt dafür mindestens ein paar Monate Gefängnis – du wirst also gerächt.«
»Unsinn!« stammelt Bambuss, mühsam lächelnd. »Ihr macht eure blöden Witze mit mir!«
»Wozu sollen wir Witze machen?« sage ich. »Das wäre gemein. Ich empfehle dir gerade deswegen Fritzi. Sie ist Ohrenfetischistin. Wenn die Passion über sie kommt, hält sie sich mit beiden Händen krampfhaft an den Ohren ihres Partners fest. Du bist so absolut sicher, daß du nicht anderswo beschädigt wirst. Eine dritte Hand hat sie nicht.«
»Aber noch zwei Füße«, erklärt Hungermann. »Mit den Füßen verrichten sie manchmal wahre Wunder. Sie lassen die Nägel lang wachsen und schärfen sie.«
»Ihr schwindelt«, sagt Otto gequält. »Laßt doch den Unsinn!«
»Hör zu«, erwidere ich. »Ich will nicht, daß du verstümmelt wirst. Du würdest dann emotionell gewinnen, aber seelisch stark verlieren, und deine Lyrik würde schlecht dabei fahren. Ich habe hier eine Taschen-Nagelfeile, klein, handlich, gemacht für den adretten Lebemann, der immer elegant sein muß. Steck sie ein. Halte sie in der hohlen Hand verborgen oder verstecke sie in der Matratze, bevor es losgeht. Wenn du merkst, daß es zu gefährlich wird, genügt ein kleiner, ungefährlicher Stich in den Hintern Fritzis. Es braucht kein Blut dabei zu fließen. Jeder Mensch läßt los, wenn er gestochen wird, sogar von einer Mücke, und greift nach dem Orte des Stichs, das ist ein Grundgesetz der Welt. In der Zwischenzeit entkommst du.«
Ich nehme ein rotledernes Taschenetui hervor, in dem ein Kamm und eine Nagelfeile stecken. Es ist noch ein Geschenk Ernas, der Verräterin. Der Kamm ist aus simuliertem Schildpatt. Eine Welle später Wut steigt in mir auf, als ich ihn herausnehme. »Gib mir auch den Kamm«, sagt Otto.
»Damit kannst du nicht nach ihr hacken, du unschuldiger Satyr«, erklärt Hungermann. »Das ist keine Waffe im Kampf der Geschlechter. Er zerbricht an geballtem Mänadenfleisch.«
»Ich will damit nicht hacken. Ich will mich nachher damit kämmen.«
Hungermann und ich sehen uns an. Bambuss scheint uns nicht mehr zu glauben. »Hast du ein paar Verbandspäckchen bei dir?« fragt Hungermann mich.
»Die brauchen wir nicht. Die Puffmutter hat eine ganze Apotheke.«
Bambuss bleibt wieder stehen. »Das ist doch alles Unsinn! Aber wie ist es mit den Geschlechtskrankheiten?«
»Es ist heute Sonnabend. Alle Damen sind heute nachmittag untersucht worden. Keine Gefahr, Otto.«
»Ihr wißt alles, was?«
»Wir wissen das, was zum Leben nötig ist«, erwidert Hungermann. »Das ist gewöhnlich etwas ganz anderes, als man in Schulen und Erziehungsinstituten lehrt. Deshalb bist du so ein Unikum, Otto.«
»Ich bin zu fromm erzogen worden«, seufzt Bambuss. »Ich bin mit der Angst vor der Hölle und der Syphilis groß geworden. Wie kann man da bodenständige Lyrik entwickeln?«
»Du könntest heiraten.«
»Das ist mein dritter Komplex. Angst vor der Ehe. Meine Mutter hat meinen Vater kaputtgemacht. Durch nichts als Weinen. Ist das nicht merkwürdig?«
»Nein«, sagen Hungermann und ich unisono und schütteln uns darauf die Hand. Es bedeutet sieben weitere Jahre Leben. Schlecht oder gut, Leben ist Leben – das merkt man erst, wenn man gezwungen wird, es zu riskieren.
Bevor wir in das traulich wirkende Haus mit seinen Pappeln, der roten Laterne und den blühenden Geranien am Fenster eintreten, stärken wir uns durch ein paar Schlucke Schnaps. Wir haben eine Flasche mitgebracht und lassen sie reihum gehen. Sogar Eduard, der mit seinem Opel vorgefahren ist und auf uns gewartet hat, trinkt mit; es ist selten, daß er etwas umsonst bekommt, und so genießt er es. Der gleiche Schluck, den wir jetzt zu etwa zehntausend Mark Selbstkosten das Glas trinken, wird in einer Sekunde im Puff vierzigtausend kosten – deshalb haben wir die Flasche bei uns. Bis zur Türschwelle leben wir sparsam – danach sind wir in den Händen der Madame.
Otto ist anfangs stark enttäuscht. Er hat statt der Gaststube eine orientalische Szenerie erwartet, mit Leopardenfellen, Moschee-Ampeln und schwerem Parfüm; statt dessen sind die Damen zwar leicht bekleidet, nähern sich aber mehr dem Dienstmädchentyp. Er fragt mich leise, ob es keine Negerinnen oder Kreolinnen gäbe. Ich zeige auf ein dürres, schwarzhaariges Ding. »Die dort hat Kreolenblut. Sie kommt frisch aus dem Zuchthaus. Hat ihren Mann ermordet.«
Otto bezweifelt es. Er wird erst munter, als das Eiserne Pferd eintritt. Es ist eine imposante Erscheinung, mit hohen Schnürstiefeln, schwarzer Wäsche, einer Art Löwenbändigeruniform, einer grauen Astrachan-Fellkappe und einem Mund voller Goldzähne. Generationen junger Lyriker und Redakteure haben auf ihr das Examen des Lebens gemacht, und sie ist auch für Otto durch Vorstandsbeschluß bestimmt worden. Sie oder Fritzi. Wir haben darauf bestanden, daß sie in großer Aufmachung käme – und sie hat uns nicht im Stich gelassen. Sie stutzt, als wir sie mit Otto bekanntmachen. Sie hat wohl geglaubt, etwas Frischeres, Jüngeres vorgeworfen zu bekommen. Bambuss sieht papieren aus, blaß, dünn, mit Pickeln, einem dürftigen Schnurrbärtchen, und er ist bereits sechsundzwanzig Jahre alt. Außerdem schwitzt er im Augenblick wie ein Rettich im Salz. Das Eiserne Pferd reißt seinen goldenen Rachen zu einem gutmütigen Grinsen auf und pufft den erschauernden Bambuss in die Seite. »Komm, schmeiß einen Kognak«, sagt es friedlich.
»Was kostet ein Kognak?« fragt Otto das Serviermädchen.
»Sechzigtausend.«
»Was?« fragt Hungermann alarmiert. »Vierzigtausend, keinen Pfennig mehr!«
»Pfennig«, sagt die Puffmutter. »Das Wort habe ich lange nicht mehr gehört.«
»Vierzigtausend war gestern, Schatz«, erklärt das Eiserne Pferd.
»Vierzigtausend war heute morgen. Ich war heute morgen hier im Auftrage des Komitees.«
»Von was für einem Komitee?«
»Vom Komitee für die Erneuerung der Lyrik durch direkte Erfahrung.«
»Schatz«, sagt das Eiserne Pferd. »Das war vor dem Dollarkurs.«
»Es war nach dem Elf-Uhr-Dollarkurs.«
»Es war vor dem Nachmittagskurs«, erklärt die Puffmutter. »Seid nicht solche Geizhälse!«
»Sechzigtausend ist bereits nach dem Dollarkurs für übermorgen berechnet«, sage ich.
»Nach dem für morgen. Jede Stunde bist du etwas näher dran. Beruhige dich! Der Dollarkurs ist wie der Tod. Du kannst ihm nicht entgehen. Heißt du nicht Ludwig?«
»Rolf«, erwidere ich fest. »Ludwig ist nicht aus dem Kriege zurückgekommen.«
Hungermann wird plötzlich von einer bösen Ahnung ergriffen. »Und die Taxe?« fragt er. »Wie ist die? Zwei Millionen war abgemacht. Mit Ausziehen und einem halbstündigen Gespräch nachher. Das Gespräch ist wichtig für unseren Kandidaten.«
»Drei«, erwidert das Eiserne Pferd phlegmatisch. »Und das ist billig.«
»Kameraden, wir sind verraten!« schmettert Hungermann.
»Weißt du, was hohe Stiefel bis fast zum Hintern heute kosten?« fragt das Eiserne Pferd.
»Zwei Millionen und keinen Centime mehr. Wenn selbst hier Abmachungen nicht mehr gelten, was soll dann aus der Welt werden?«
»Abmachungen! Was sind Abmachungen, wenn der Kurs schwankt wie besoffen?«
Matthias Grund, der als Dichter des Buches vom Tode naturgemäß bis jetzt geschwiegen hat, erhebt sich. »Dies ist das erste Puff, das nationalsozialistisch verseucht ist«, erklärt er wütend. »Verträge sind Fetzen Papier, was?«
»Verträge und Geld«, erwidert das Eiserne Pferd unerschütterlich. »Aber hohe Stiefel sind hohe Stiefel, und schwarze Reizwäsche ist schwarze Reizwäsche. Nämlich blödsinnig teuer. Warum nehmt ihr keine mittlere Klasse für euren Konfirmanden? So wie bei Beerdigungen – da gibt’s auch mit und ohne Federbusch. Zweite Klasse genügt für den da!«
Dagegen ist nichts zu sagen. Die Diskussion hat einen toten Punkt erreicht. Plötzlich entdeckt Hungermann, daß Bambuss heimlich nicht nur seinen eigenen, sondern auch den Kognak des Eisernen Pferdes ausgetrunken hat.
»Wir sind verloren«, sagt er. »Wir müssen bezahlen, was diese Wallstreethyänen hier von uns verlangen. Das hättest du uns nicht antun sollen, Otto! Jetzt müssen wir deine Einführung ins Leben einfacher gestalten. Ohne Federbusch und nur mit einem gußeisernen Pferd.«
Zum Glück kommt Willy in diesem Moment herein. Er ist an Ottos Verwandlung zum Manne aus reiner Neugierde interessiert und zahlt, ohne mit der Wimper zu zucken, die Differenz. Dann bestellt er Schnaps für alle und erklärt, daß er heute fünfundzwanzig Millionen an seinen Aktien verdient habe. Einen Teil davon will er versaufen. »Fort mit dir nun, Knabe«, sagt er zu Otto.
»Und komm als Mann wieder!« Otto verschwindet.
Ich setze mich zu Fritzi. Die alten Dinge sind längst vergessen; sie betrachtet uns nicht mehr als halbe Kinder, seit ihr Sohn im Kriege gefallen ist. Er war Unteroffizier und erhielt seinen Schuß drei Tage vor dem Waffenstillstand. Wir unterhalten uns über die Zeiten vor dem Kriege. Sie erzählt mir, daß ihr Sohn in Leipzig Musik studiert habe. Er wollte Oboebläser werden. Neben uns döst die gewaltige Puffmutter, eine Dogge auf den Knien. Plötzlich ertönt von oben ein Schrei. Getöse folgt, und dann erscheint Otto in Unterhosen, verfolgt von dem wütenden Eisernen Pferd, das mit einer blechernen Waschschale auf ihn einschlägt. Otto hat einen schönen Stil im Laufen, er rast durch die Tür nach draußen, und wir halten zu dritt das Eiserne Pferd an. »Diese verdammte halbe Portion!« keucht es. »Sticht mit einem Messer auf mich los!«
»Es war kein Messer«, sage ich ahnungsvoll.
»Was?« Das Eiserne Pferd dreht sich um und deutet auf einen roten Fleck über der schwarzen Wäsche.
»Es blutet ja nicht. Es war nur eine Nagelfeile.«
»Eine Nagelfeile?« Das Pferd starrt mich an. »Das habe ich noch nicht gekannt! Und dieser Jammerprinz sticht mich, statt ich ihn! Habe ich meine hohen Stiefel umsonst? Habe ich meine Peitschensammlung für nichts? Ich will anständig sein und ihm als Zugabe eine leichte Probe von Sadismus geben, ziehe ihm nur so spielerisch einen kleinen Schlag über seine mageren Keulen, und die heimtückische Brillenschlange geht mit einer Taschenfeile auf mich los! Ein Sadist! Brauche ich Sadisten? Ich, der Traum der Masochisten? So eine Beleidigung!«
Wir beruhigen sie mit einem Doppelkümmel. Dann halten wir Ausschau nach Bambuss. Er steht hinter einem Fliederbusch und befühlt seinen Kopf.
»Komm, Otto, die Gefahr ist vorüber«, ruft Hungermann.
Bambuss weigert sich. Er verlangt, daß wir ihm seine Kleider rauswerfen. »Das gibt es nicht«, erklärt Hungermann. »Drei Millionen sind drei Millionen! Wir haben für dich bezahlt.«
»Verlangt das Geld zurück! Ich lasse mich nicht verhauen.«
»Geld verlangt ein Kavalier nie von einer Dame zurück. Und wir werden aus dir einen Kavalier machen, selbst wenn wir dir den Schädel einschlagen müssen. Der Peitschenhieb war eine Freundlichkeit. Das Eiserne Pferd ist eine Sadistin.«
»Was?«
»Eine strenge Masseuse. Wir haben nur vergessen, es dir zu sagen. Aber du solltest froh sein, so etwas zu erleben. Es ist selten in Kleinstädten!«
»Ich bin nicht froh. Werft mir meine Sachen rüber.«
Es gelingt uns, ihn wieder hereinzubekommen, nachdem er sich hinter dem Fliederbusch angezogen hatte. Wir geben ihm etwas zu trinken, aber er ist nicht zu bewegen, den Tisch zu verlassen. Er behauptet, die Stimmung sei weg. Hungermann macht schließlich einen Vertrag mit dem Eisernen Pferd und der Madame. Bambuss soll das Recht haben, innerhalb einer Woche wiederzukommen, ohne daß eine Nachzahlung verlangt wird.
Wir trinken weiter. Nach einiger Zeit merke ich, daß Otto trotz allem Feuer gefangen zu haben scheint. Er schielt jetzt ab und zu nach dem Eisernen Pferd hinüber und kümmert sich um keine der anderen Damen. Willy läßt weiteren Kümmel anfahren. Nach einer Weile vermissen wir Eduard. Er taucht eine halbe Stunde später schwitzend wieder auf und beteuert, spazierengegangen zu sein. Der Kümmel tut allmählich seine Wirkung.
Otto Bambuss zieht plötzlich Papier und Bleistift heraus und macht heimlich Notizen. Ich sehe ihm über die Schulter. »Die Tigerin«, lautet die Überschrift. »Willst du nicht noch etwas warten mit den freien Rhythmen und Hymnen?« frage ich.
Er schüttelt den Kopf. »Der frische erste Eindruck ist das Wichtigste.«
»Aber du hast doch nur eins mit der Peitsche über den Hintern gekriegt und dann ein paar mit der Waschschüssel über den Schädel! Was ist da Tigerisches dran?«
»Das überlaß nur mir!« Bambuss gießt einen Kümmel durch seinen zerfransten Schnurrbart. »Jetzt kommt die Macht der Phantasie! Ich blühe bereits von Versen wie ein Rosenbusch. Was heißt Rosenbusch? Wie eine Orchidee im Dschungel!«
»Du glaubst, du hättest schon Erfahrung genug?«
Otto schießt einen Blick voll Lust und Grausen zum Eisernen Pferd hinüber. »Das weiß ich nicht. Für ein kleines kartoniertes Bändchen aber sicher schon.«
»Sprich dich aus! Es sind drei Millionen für dich angelegt. Wenn du sie nicht brauchst, versaufen wir sie lieber.«
»Versaufen wir sie lieber.«
Bambuss schüttet wieder einen Kümmel in sich hinein. Es ist das erstemal, daß wir ihn so sehen. Er hat Alkohol vorher wie die Pest gemieden, vor allem Schnaps. Seine Lyrik gedieh bei Kaffee und Johannisbeerwein.
»Was sagst du zu Otto?« frage ich Hungermann. »Es waren die Schläge auf den Kopf mit der Blechschüssel.«
»Es war gar nichts«, erwidert Otto johlend. Er hat einen weiteren Doppelkümmel hinter sich und kneift das Eisere Pferd, das gerade vorübergeht, in den Hintern. Das Pferd bleibt wie vom Blitz getroffen stehen. Dann dreht es sich langsam um und besichtigt Otto wie ein seltenes Insekt. Wir strecken unsere Arme vor, um den Schlag abzuschwächen, den wir erwarten. Für Damen mit hohen Stiefeln ist ein Kniff dieser Art eine obszöne Beleidigung. Otto steht torkelnd auf, lächelt abwesend aus seinen kurzsichtigen Augen, geht um das Roß herum und knallt ihr unversehens noch einen saftigen Schlag auf die schwarze Reizwäsche.
Es wird still. Jeder erwartet Mord. Aber Otto setzt sich unbekümmert wieder hin, legt den Kopf auf die Arme und schläft augenblicklich ein. »Töte nie einen Schlafenden«, beschwört Hungermann das Roß. »Das elfte Gebot Gottes!«
Das Eiserne Pferd öffnet seinen mächtigen Mund zu einem lautlosen Grinsen. Alle seine Goldplomben schimmern. Dann streicht es über Ottos dünnes, weiches Haar.
»Menschenkinder«, sagt es,»noch einmal so jung und so dämlich sein können!«
Wir brechen auf. Hungermann und Bambuss werden von Eduard zur Stadt zurückgefahren. Die Pappeln rauschen. Die Doggen bellen. Das Eiserne Pferd steht im ersten Stock am Fenster und winkt mit der Kosakenmütze. Hinter dem Puff steht bleich der Mond. Matthias Grund, der Dichter des Buches vom Tode, arbeitet sich plötzlich vor uns aus einem Graben hervor. Er hatte geglaubt, er könne ihn überqueren wie Christus den See Genezareth. Es war ein Irrtum. Willy geht neben mir her. »Was für ein Leben!« sagt er träumerisch. »Und zu denken, daß man tatsächlich sein Geld im Schlafe verdient! Morgen ist der Dollar wieder weiter rauf, und die Aktien klettern wie muntere Affen hinterher!«
»Verdirb uns den Abend nicht. Wo ist dein Auto? Kriegt es auch Junge wie deine Aktien?«
»Renée hat es. Macht sich gut vor der Roten Mühle. Zwischen den Vorstellungen fährt sie Kollegen darin spazieren. Platzen vor Neid.«
»Heiratet ihr?«
»Wir sind verlobt«, erklärt Willy. »Wenn du weißt, was das heißt.«
»Ich kann es mir denken.«
»Komisch!« sagt Willy. »Sie erinnert mich jetzt oft auch stark an unsern Oberleutnant Helle, diesen verdammten Menschenschinder, der uns das Leben so schwer gemacht hat, bevor wir zum Heldentod zugelassen wurden. Genauso, im Dunkeln. Ein schauriger Hochgenuß, Helle am Genick zu haben und ihn zu schänden. Habe nie gewußt, daß mir das Spaß machen würde, das kannst du mir glauben!«
»Ich glaube es dir.«
Wir gehen durch die dunklen, blühenden Gärten. Geruch von unbekannten Blumen weht herüber. »Wie süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft«, sagt jemand und hebt sich wie ein Gespenst vom Boden auf.
Es ist Hungermann. Er ist naß wie Matthias Grund. »Was ist los?« frage ich. »Bei uns hat es nicht geregnet.«
»Eduard hat uns ausgesetzt. Wir sangen ihm zu laut. Der respektable Hotelwirt! Als ich Otto dann etwas erfrischen wollte, sind wir beide in den Bach gefallen.«
»Ihr auch? Wo ist Otto? Sucht er nach Matthias Grund?«
»Er fischt.«-»Was?«
»Verdammt!« sagt Hungermann. »Hoffentlich ist er nicht umgefallen. Er kann nicht schwimmen.«
»Unsinn. Der Bach ist doch nur einen Meter tief.«
»Otto könnte auch in einer Pfütze ertrinken. Er liebt seine Heimat.«
Wir finden Bambuss, wie er sich an einer Brücke über den Bach festhält und den Fischen predigt.
»Ist dir schlecht, Franziskus?« fragt Hungermann.
»Jawohl«, erwidert Bambuss und kichert, als wäre das irrsinnig komisch. Dann klappert er mit den Zähnen.
»Kalt«, stammelt er. »Ich bin kein Freiluftmensch.«
Willy zieht eine Flasche Kümmel aus der Tasche. »Wer rettet euch mal wieder? Onkel Willy, der Umsichtige. Rettet euch vor Lungenentzündung und kühlem Tod.«
»Schade, daß wir Eduard nicht dabei haben«, sagt Hungermann. »Sie könnten ihn dann auch retten und mit Herrn Valentin Busch ein Kompaniegeschäft aufmachen. Die Retter Eduards. Das würde ihn töten.«
»Lassen Sie die faulen Witze«, sagt Valentin, der hinter ihm steht. »Kapital sollte Ihnen heilig sein, oder sind Sie Kommunist? Ich teile mit niemandem. Eduard gehört mir.«
Wir trinken alle. Der Kümmel funkelt wie ein gelber Diamant im Mondlicht. »Wolltest du noch irgendwohin?« frage ich Willy.
»Zu Bodo Ledderhoses Gesangverein. Kommt mit. Ihr könnt euch da trocknen.«
»Großartig«, sagt Hungermann.
Es kommt keinem in den Sinn, daß es einfacher wäre, nach Hause zu gehen. Nicht einmal dem Dichter des Todes. Flüssigkeit scheint heute abend eine mächtige Anziehungskraft zu haben.
Wir gehen weiter, den Bach entlang. Der Mond schimmert im Wasser. Man kann ihn trinken – wer hat das noch irgendwann einmal gesagt?