XVIII

Der Sargtischler Wilke sieht die Frau verwundert an.

»Warum nehmen Sie nicht zwei kleine?« fragt er. »Es kostet nicht so viel mehr.« Die Frau schüttelt den Kopf.

»Sie sollen zusammenliegen.«

»Aber Sie können sie doch in einer Grabstelle beerdigen«, sage ich. »Dann sind sie zusammen.«

»Nein, nicht richtig.«

Wilke kratzt sich den Kopf. »Was meinen Sie dazu?« fragt er mich.

Die Frau hat zwei Kinder verloren. Beide sind am gleichen Tag gestorben. Sie will für sie nun nicht nur einen gemeinsamen Grabstein haben – sie will auch für beide nur einen Sarg haben, eine Art Doppelsarg. Deshalb habe ich Wilke ins Büro geholt.

»Für uns ist die Sache einfach«, sage ich. »Ein Grabstein mit zwei Inschriften kommt alle Tage vor. Es gibt sogar Familiengrabsteine mit sechs, acht Inschriften.«

Die Frau nickt. »So soll es sein! Sie sollen zusammenliegen. Sie waren immer zusammen.«

Wilke holt einen Zimmermannsbleistift aus seiner Westentasche. »Es würde merkwürdig aussehen. Der Sarg würde zu breit werden. Fast quadratisch; die Kinder sind ja noch sehr klein. Wie alt?«

»Viereinhalb.«

Wilke zeichnet. »Wie eine quadratische Kiste«, erklärt er dann. »Wollen Sie nicht doch -«

»Nein«, unterbricht die Frau. »Sie sollen zusammenbleiben. Es sind Zwillinge.«

»Man kann auch für Zwillinge sehr hübsche kleine Einzelsärge machen, weiß lackiert. Die Form ist gefälliger. Ein so kurzer Doppelsarg wirkt plump -«

»Das ist mir egal«, sagt die Frau störrisch. »Sie haben eine Doppelwiege gehabt und einen Doppelkinderwagen, und jetzt sollen sie auch einen Doppelsarg haben. Sie sollen beieinander bleiben.«

Wilke zeichnet wieder. Es kommt nichts anderes heraus als eine quadratische Kiste, selbst mit Ranken aus Efeu am Deckel. Bei Erwachsenen hätte er noch mehr Spielraum; aber Kinder sind zu kurz. »Ich weiß nicht einmal, ob es erlaubt ist«, versucht er als letztes.

»Warum soll es nicht erlaubt sein?«

»Es ist ungewöhnlich.«

»Es ist auch ungewöhnlich, daß zwei Kinder am selben Tage sterben«, sagt die Frau.

»Das ist wahr, besonders, wenn es Zwillinge sind.« Wilke ist plötzlich interessiert. »Haben sie auch dieselbe Krankheit gehabt?«

»Ja«, erwidert die Frau hart. »Dieselbe Krankheit. Geboren nach dem Kriege, als es nichts zu essen gab. Zwillinge – ich hatte nicht einmal Milch für einen -«

Wilke beugt sich vor. »Dieselbe Krankheit!« In seinen Augen flackert wissenschaftliche Neugier. »Man sagt ja, daß bei Zwillingen so etwas öfter vorkommt. Astrologisch -«

»Wie ist es mit dem Sarg?« frage ich. Die Frau sieht nicht so aus, als ob sie ein längeres Gespräch über dieses Wilke faszinierende Thema führen möchte.

»Ich kann es versuchen«, sagt Wilke. »Aber ich weiß nicht, ob es erlaubt ist. Wissen Sie es?« fragt er mich.

»Man kann beim Friedhofsamt anfragen.«

»Wie ist es mit den Priestern? Wie sind die Kinder getauft worden?«

Die Frau zögert. »Einer ist katholisch und einer evangelisch«, sagt sie dann. »Wir hatten das so abgemacht. Mein Mann ist katholisch; ich bin evangelisch. Da haben wir abgemacht, daß die Zwillinge geteilt würden.«

»Also haben Sie einen katholisch und den anderen evangelisch taufen lassen?« fragt Wilke.

»Ja.«

»Am selben Tag?«

»Am selben Tag.«

Wilkes Interesse an den Merkwürdigkeiten des Daseins ist aufs neue entfacht. »In zwei verschiedenen Kirchen natürlich?«

»Natürlich«, sage ich sehr ungeduldig. »Wo sonst? Und nun -«

»Aber wie konnten Sie sie auseinanderhalten?« unterbricht Wilke mich. »Ich meine, all die Zeit? Waren es ähnliche Zwillinge?«

»Ja«, sagt die Frau. »Wie ein Ei dem andern.«

»Das eben meine ich! Wie kann man das auseinanderhalten, besonders, wenn sie so klein sind? Konnten Sie das? Gerade in den ersten Tagen, wenn alles durcheinandergeht?«

Die Frau schweigt.

»Das ist doch jetzt egal«, erkläre ich und mache Wilke ein Zeichen, aufzuhören.

Doch Wilke hat die unsentimentale Neugier des Wissenschaftlers. »Das ist gar nicht egal«, erwidert er. »Sie müssen ja beerdigt werden! Der eine katholisch, der andere evangelisch. Wissen Sie, welcher katholisch ist?«

Die Frau schweigt. Wilke erhitzt sich an seinem Thema.

»Glauben Sie, daß Sie die Beerdigung zur gleichen Zeit machen dürfen? Wenn Sie einen Doppelsarg haben, müssen Sie das ja. Dann müßten ja auch zwei Pfarrer am Grabe sein, ein katholischer und ein evangelischer! Das machen die sicher nicht! Die sind eifersüchtiger auf den lieben Gott als wir auf unsere Frauen.«

»Wilke, das geht Sie doch alles nichts an«, sage ich und gebe ihm unter dem Tisch einen Fußtritt.

»Und die Zwillinge«, ruft Wilke, ohne mich zu beachten.

»Der katholische würde dann ja gleichzeitig evangelisch beerdigt werden und der evangelische katholisch! Stellen Sie sich das Durcheinander vor! Nein, Sie werden mit dem Doppelsarg nicht durchkommen! Zwei Einzelsärge, das wird es sein müssen! Dann hat jede Religion ihren. Die Geistlichen können einander dann den Rücken drehen und sie so einsegnen.«

Wilke stellt sich offenbar vor, daß eine Religion Gift für die andere sei. »Haben Sie schon mit den Priestern gesprochen?« fragt er.

»Das tut mein Mann«, sagt die Frau.

»Da bin ich doch wirklich neugierig -«

»Wollen Sie den Doppelsarg machen?« fragt die Frau.

»Machen schon, aber ich sage Ihnen -«

»Was kostet er?« fragt die Frau.

Wilke kratzt sich den Schädel. »Wann muß er fertig sein?«

»So bald wie möglich.«

»Dann muß ich die Nacht durcharbeiten. Überstunden. Er muß extra angefertigt werden.«

»Was kostet er?« fragt die Frau.

»Ich werde es Ihnen bei der Ablieferung sagen. Ich mache es billig, der Wissenschaft wegen. Ich kann ihn nur nicht zurücknehmen, wenn er Ihnen verboten wird.«

»Er wird nicht verboten.«

Wilke sieht die Frau erstaunt an. »Woher wissen Sie das?«

»Wenn die Priester sie so nicht einsegnen wollen, beerdigen wir sie ohne Priester«, sagt die Frau hart. »Sie waren immer zusammen, und sie sollen zusammen bleiben.«

Wilke nickt. »Abgemacht, also – der Sarg wird fest geliefert. Zurücknehmen kann ich ihn nicht.«

Die Frau zieht ein schwarzes Lederportemonnaie mit einem Nickelschnapper aus ihrer Handtasche. »Wollen Sie eine Anzahlung?«

»Es ist üblich. Für das Holz.«

Die Frau sieht Wilke an. »Eine Million«, sagt er etwas verlegen.

Die Frau gibt ihm die Scheine. Sie sind klein zusammengefaltet. »Die Adresse«, sagt sie.

»Ich gehe mit«, erklärt Wilke. »Ich nehme Maß. Sie sollen einen guten Sarg bekommen.«

Die Frau nickt und sieht mich an. »Und der Stein? Wann liefern Sie ihn?«

»Wann Sie wollen. Im allgemeinen wartet man damit bis ein paar Monate nach der Beerdigung.«

»Können wir ihn nicht gleich haben?«

»Das schon. Aber es ist besser, zu warten. Das Grab senkt sich nach einiger Zeit. Es ist zweckmäßiger, erst dann den Stein aufzustellen, sonst muß er noch einmal gesetzt werden.«

»Ach so«, sagt die Frau. Ihre Pupillen scheinen einen Augenblick zu zittern. »Wir möchten den Stein trotzdem gleich haben. Kann man ihn nicht – kann man ihn nicht so setzen, daß er nicht einsinkt?«

»Wir müssen dann ein Extra-Fundament machen. Eins für den Stein, vor der Beerdigung. Wollen Sie das?«

Die Frau nickt. »Sie sollen ihre Namen drauf haben«, sagt sie. »Sie sollen nicht einfach so daliegen. Es ist besser, wenn sie ihre Namen gleich darauf haben.«

Sie gibt mir die Nummer der Grabstelle. »Ich möchte das sofort bezahlen«, sagt sie. »Wieviel macht es?«

Sie öffnet das schwarze Lederportemonnaie wieder. Ich sage ihr, verlegen wie Wilke, den Preis. »Heute ist gleich alles in Millionen und Milliarden«, füge ich hinzu.

Es ist sonderbar, wie man manchmal schon an der Art, wie sie Geld zusammenfalten, sehen kann, ob Leute ordentlich und ehrlich sind oder nicht. Die Frau öffnet einen Schein nach dem anderen und legt ihn auf den Tisch neben die Granit- und Kalksteinmuster. »Wir hatten das Geld beiseitegelegt für die Schule«, sagt sie. »Es hätte jetzt längst nicht mehr gereicht – hierfür reicht es gerade noch -«

»Ausgeschlossen!« sagt Riesenfeld. »Haben Sie denn überhaupt eine Ahnung, was schwarzer schwedischer Granit kostet? Der kommt von Schweden, junger Mann, und kann nicht mit Wechseln auf deutsche Mark bezahlt werden! Der kostet Devisen! Schwedische Kronen! Wir haben nur noch ein paar Blöcke, für Freunde! Die letzten! Sie sind wie blau weiße Diamanten. Ich gebe euch einen für den Abend mit Madame Watzek – aber zwei! Sind Sie verrückt geworden? Ebenso könnte ich von Hindenburg verlangen, daß er Kommunist würde.«

»Welch ein Gedanke!«

»Na also! Nehmen Sie die Rarität und versuchen Sie nicht, mehr aus mir herauszuholen als Ihr Chef. Da Sie Laufjunge und Bürodirektor in einem sind, brauchen Sie sich ja nicht ums Avancement zu kümmern.«

»Das sicher nicht. Ich tue es aus reiner Liebe zum Granit. Aus platonischer Liebe sogar. Ich will ihn nicht einmal selbst verkaufen.«

»Nein?« fragt Riesenfeld und schenkt sich ein Glas Schnaps ein.

»Nein«, erwidere.ich. »Ich will nämlich meinen Beruf wechseln.«

»Schon wieder?« Riesenfeld schiebt seinen Sessel so, daß er Lisas Fenster vor sich hat.

»Dieses Mal wirklich.«

»Zurück zur Schulmeisterei?«

»Nein«, sage ich,»soviel Einfalt habe ich nicht mehr. Soviel Einbildung auch nicht. Wissen Sie nichts für mich? Sie kommen doch viel herum.«

»Was?« fragt Riesenfeld uninteressiert.

»Irgend etwas in einer großen Stadt. Laufjunge bei einer Zeitung meinetwegen.«

»Bleiben Sie hier«, sagt Riesenfeld. »Hier passen Sie her. Ich würde Sie vermissen. Warum wollen Sie weg?«

»Das kann ich Ihnen nicht genau erklären. Wenn ich es könnte, wäre es nicht so notwendig. Ich weiß es auch nicht immer; nur ab und zu. Dann aber weiß ich es verdammt klar.«

»Und jetzt wissen Sie es?«

»Jetzt weiß ich es.«

»Mein Gott!« sagt Riesenfeld. »Sie werden sich nochmal hierher zurücksehnen!«

»Bestimmt. Deshalb will ich fort.«

Riesenfeld zuckt plötzlich zusammen, als hätte er einen elektrischen Kontakt mit nassen Pfoten angefaßt. Lisa hat in ihrem Zimmer Licht gemacht und ist ans Fenster getreten. Sie scheint uns in unserm halbdunklen Büro nicht zu sehen und zieht sich gemächlich die Bluse aus. Unter der Bluse trägt sie nichts.

Riesenfeld schnauft laut. »Himmel, Donnerschlag, was für Brüste! Darauf kann man ja glatt ein Halblitermaß Bier stellen, und das Glas würde nicht ’runterfallen!«

»Auch ein Gedanke!« sage ich.

Riesenfelds Augen funkeln. »Macht Frau Watzek so was dauernd?«

»Sie ist ziemlich unbekümmert. Niemand kann sie sehen – außer uns hier, natürlich.«

»Mensch!« sagt Riesenfeld. »Und so eine Position wollen Sie aufgeben, Sie Riesenroß?«

»Ja«, sage ich und schweige, während Riesenfeld wie ein württembergischer Indianer zum Fenster schleicht, sein Glas in einer, die Flasche Korn in der andern Hand.

Lisa kämmt ihre Haare. »Ich wollte mal Bildhauer werden«, sagt Riesenfeld, ohne einen Blick von ihr zu lassen. »Bei so was hätte es sich gelohnt! Verflucht, was man alles versäumt hat!«

»Wollten Sie Bildhauer in Granit werden?«

»Was hat das damit zu tun?«

»Bei Granit werden die Modelle schneller älter, als die Kunstwerke fertig«, sage ich. »Er ist so hart. Bei Ihrem Temperament hätten Sie höchstens in Ton arbeiten können. Sonst hätten Sie nur unvollendete Werke hinterlassen.«

Riesenfeld stöhnt. Lisa hat den Rock ausgezogen, aber gleich darauf das Licht ausgedreht, um in ein anderes Zimmer zu gehen. Der Chef der Odenwald-Werke klebt noch eine Weile am Fenster, dann dreht er sich um. »Sie haben es leicht!« knurrt er. »Ihnen sitzt kein Dämon im Nacken. Höchstens ein Milchschaf.«

»Merci«, sage ich. »Bei Ihnen ist es auch kein Dämon, sondern ein Bock. Sonst noch was?«

»Ein Brief«, erklärt Riesenfeld. »Wollen Sie einen Brief von mir überbringen?«

»Wem?«

»Frau Watzek! Wem sonst?«- Ich schweige.

»Ich werde mich auch nach einer Position für Sie umsehen«, sagt Riesenfeld.

Ich schweige weiter und sehe den leicht schwitzenden verhinderten Bildhauer an. Ich halte Georg die Nibelungentreue, auch wenn es mich meine Zukunft kostet.

»Ich hätte das ohnehin getan«, erklärt Riesenfeld heuchlerisch.

»Das weiß ich«, sage ich. »Aber wozu wollen Sie schreiben? Schreiben hilft nie. Außerdem fahren Sie doch heute abend weg. Verschieben Sie die Sache, bis Sie zurückkommen.«

Riesenfeld trinkt seinen Korn aus. »Es mag Ihnen komisch vorkommen – aber Sachen solcher Art verschiebt man höchst ungern.«

In diesem Augenblick tritt Lisa aus ihrer Haustür. Sie trägt ein enganliegendes schwarzes Kostüm und Schuhe mit den höchsten Absätzen, die ich je gesehen habe. Riesenfeld erspäht sie zur gleichen Zeit wie ich. Er reißt seinen Hut vom Tisch und stürmt hinaus. »Dies ist der Augenblick!«

Ich sehe ihn die Straße hinunterschießen. Den Hut in der Hand, wandert er respektvoll neben Lisa her, die sich zweimal umsieht. Dann verschwinden beide um die Ecke. Ich wundere mich, wie das ausgehen wird. Georg Kroll wird es mir sicher berichten. Möglich, daß der Glückspilz dabei noch ein zweites Denkmal in schwedischem Granit herausholt.

Draußen kommt der Tischler Wilke über den Hof. »Wie wäre es mit einer Sitzung heute abend?« ruft er durchs Fenster.

Ich nicke. Ich habe schon erwartet, daß er das vorschlagen würde. »Kommt Bach auch?« frage ich.

»Klar. Ich hole gerade Zigaretten für ihn.«


Wir sitzen in der Werkstatt Wilkes zwischen Hobelspänen, Särgen, Blumentöpfen mit Geranien und Leimtöpfen. Es riecht nach Harz und frischgeschnittenem Tannenholz. Wilke hobelt den Deckel des Zwillingssarges zurecht. Er hat sich entschlossen, eine Blumengirlande umsonst dreinzugeben, sogar vergoldet, mit Blattgoldersatz. Wenn er interessiert ist, ist der Verdienst ihm gleichgültig. Und hier ist er interessiert.

Kurt Bach sitzt auf einem schwarzlackierten Sarg mit falschen Bronzebeschlägen; ich auf einem Prachtstück aus Natureiche, matt gebeizt. Wir haben Bier, Wurst, Brot, Käse und sind entschlossen, mit Wilke die Geisterstunde zu überstehen. Der Sargtischler wird nämlich gewöhnlich zwischen zwölf und ein Uhr nachts melancholisch, schläfrig und ängstlich. Es ist seine schwache Stunde. Man sollte es nicht glauben, aber er fürchtet sich dann vor Gespenstern, und der Kanarienvogel, den er in einem Papageienkäfig über seiner Hobelbank hängen hat, ist um diese Zeit nicht genug Gesellschaft für ihn. Er ist dann verzagt, spricht von der Zwecklosigkeit des Daseins und greift zum Schnaps. Wir haben ihn schon öfter morgens besoffen auf einem Bett von Hobelspänen schnarchend in seinem größten Sarg gefunden, mit dem er vor vier Jahren elend hereingefallen ist. Der Sarg war für den Riesen vom Zirkus Bleichfeld angefertigt worden, der plötzlich bei einem Gastspiel in Werdenbrück nach einer Mahlzeit von Limburger Käse, harten Eiern, Mettwurst, Kommißbrot und Schnaps gestorben war – scheinbar gestorben, denn während Wilke die Nacht durch, allen Gespenstern zum Trotz, an dem Sarg für den Riesen schuftete, hatte der sich plötzlich mit einem Seufzer vom Totenbett erhoben und anstatt, wie es anständig gewesen wäre, Wilke auf der Stelle zu verständigen, eine halbe Flasche Korn ausgesoffen, die noch übriggeblieben war, und sich schlafen gelegt. Am nächsten Morgen behauptete er, kein Geld zu haben und außerdem keinen Sarg für sich bestellt zu haben, ein Einwand, gegen den nichts zu machen war. Der Zirkus zog weiter, und da niemand den Sarg bestellt haben wollte, blieb Wilke damit sitzen und bekam dadurch für einige Zeit eine etwas bittere Weltanschauung. Besonders ärgerlich war er auf den jungen Arzt Wüllmann, den er für alles verantwortlich machte. Wüllmann hatte zwei Jahre als Feldunterarzt gedient und war dadurch abenteuerlich geworden. Er hatte so viele halbtote und dreivierteltote Muschkoten im Lazarett zur Behandlung gehabt, ohne daß ihn irgend jemand für ihren Tod oder ihre schiefgeheilten Knochen verantwortlich machte, daß er zum Schluß einen Haufen interessante Erfahrungen sammeln konnte. Deshalb war er nachts noch einmal zu dem Riesen geschlichen und hatte ihm irgendeine Spritze verabreicht – er hatte öfters im Lazarett gesehen, daß Tote wieder erwacht waren -, und der Riese war auch prompt wieder ins Leben zurückgewandert. Wilke hatte seitdem, ohne daß er es wollte, eine gewisse Abneigung gegen Wüllmann, die dieser später auch nicht dadurch aus der Welt schaffen konnte, daß er sich wie ein vernünftiger Arzt benahm und die Hinterbliebenen seiner Fälle zu Wilke schickte. Für Wilke war der Sarg des Riesen eine ständige Mahnung, nicht zu leichtgläubig zu sein, und ich glaube, das war auch der Grund, warum er mit der Zwillingsmutter in ihre Wohnung gegangen ist – er wollte sich selbst davon überzeugen, daß die Toten inzwischen nicht schon wieder auf Holzpferden herumritten. Es wäre für Wilkes Selbstachtung zuviel gewesen, neben dem unverkäuflichen Riesensarg auch noch mit dem quadratischen Zwillingssarg hängenzubleiben und so eine Art Barnum in der Zunft der Sargtischler darzustellen. Am meisten hatte ihn bei der Sache mit Wüllmann geärgert, daß er keine Gelegenheit gehabt hatte, mit dem Riesen ein längeres Privatgespräch zu führen. Er hätte ihm alles vergeben, wenn er mit ihm ein Interview über das Jenseits hätte haben können. Der Riese war schließlich einige Stunden lang so gut wie tot gewesen, und Wilke, als Amateurwissenschaftler und Gespensterfürchter, hätte viel darum gegeben, Auskunft über das Dasein auf der anderen Seite zu erhalten.

Kurt Bach ist für all das nicht zu haben. Der Sohn der Natur ist immer noch Mitglied der Freireligiösen Gemeinde Berlin, deren Wahlspruch ist:»Macht hier das Leben gut und schön, kein Jenseits gibt’s, kein Wiedersehn.« Es ist sonderbar, daß er trotzdem ein Bildhauer fürs Jenseits, mit Engeln, sterbenden Löwen und Adlern geworden ist, aber das war ja nicht immer seine Absicht. Als er jünger war, hielt er sich für eine Art Neffen von Michelangelo.

Der Kanarienvogel singt. Das Licht hält ihn wach. Wilkes Hobel macht ein zischendes Geräusch. Die Nacht steht vor dem offenen Fenster. »Wie fühlen Sie sich?« frage ich Wilke. »Klopft das Jenseits bereits?«

»Halb und halb. Es ist ja erst halb zwölf. Um die Zeit fühle ich mich, als ginge ich spazieren mit einem Vollbart in einem ausgeschnittenen Damenkleid. Unbehaglich.«

»Werden Sie Monist«, schlägt Kurt Bach vor. »Wenn man an nichts glaubt, fühlt man sich nie besonders schlecht. Auch nicht lächerlich.«

»Auch nicht gut«, sagt Wilke.

»Mag sein. Aber bestimmt nicht so, als hätte man einen Vollbart und trüge ein ausgeschnittenes Damenkleid. So fühle ich mich nur, wenn ich nachts aus dem Fenster sehe, und da ist der Himmel mit den Sternen und den Millionen Lichtjahren, und ich soll glauben, daß über all dem eine Art Übermensch sitzt, dem es wichtig sein soll, was aus Kurt Bach wird.«

Der Sohn der Natur schneidet sich behaglich ein Stück Wurst ab und verzehrt es. Wilke wird nervöser. Die Mitternacht ist schon zu nahe, und um diese Zeit liebt er solche Gespräche nicht. »Kalt, was?« sagt er. »Schon Herbst.«

»Lassen Sie das Fenster nur ruhig offen«, erwidere ich, als er es schließlich will. »Es nützt Ihnen nichts, Geister gehen durch Glas. Blicken Sie lieber auf die Akazie draußen! Sie ist die Lisa Watzek der Akazien. Hören Sie, wie der Wind in ihr rauscht! Wie ein Walzer in den seidenen Unterröcken einer jungen Frau. Eines Tages aber wird sie gefällt werden, und Sie werden Särge daraus machen -«

»Nicht aus Akazienholz. Särge macht man aus Eiche, Tanne, Mahagoni furniert -«

»Gut, gut, Wilke! Ist noch etwas Schnaps da?«

Kurt Bach reicht mir die Flasche herüber. Wilke zuckt plötzlich zusammen und hobelt sich fast einen Finger ab.

»Was war das?« fragt er erschreckt.

Ein Käfer ist gegen die Lampe geflogen. »Ruhig Blut, Alfred«, sage ich. »Keine Botschaft aus dem Jenseits. Lediglich ein schlichtes Drama der Tierwelt. Ein Mistkäfer, der zur Sonne strebt – verkörpert für ihn in einer Hundertwattbirne im Hinterhaus der Hakenstraße drei.«

Es ist eine Verabredung, daß wir von kurz vor Mitternacht bis zum Ende der Geisterstunde Wilke duzen. Er fühlt sich dadurch geschützter. Nach ein Uhr sind wir wieder formell.

»Ich verstehe nicht, wie man ohne Religion leben kann«, sagt Wilke zu Kurt Bach. »Was macht man da, wenn man nachts im Dunkeln aufwacht bei einem Gewitter?«

»Im Sommer?«

»Natürlich, im Sommer. Im Winter gibt’s keine Gewitter.«

»Man trinkt etwas Kaltes«, erwidert Kurt Bach. »Dann schläft man weiter.«

Wilke schüttelt den Kopf. Er wird um die Geisterstunde nicht nur ängstlich, sondern auch sehr religiös.

»Ich kannte jemand, der beim Gewitter ins Bordell ging«, sage ich. »Es zwang ihn direkt dazu. Er war sonst impotent; nur bei Gewitter änderte sich das. Eine Gewitterwolke sehen und zum Telefon greifen, um eine Reservation bei Fritzi zu machen, war eins für ihn. Der Sommer 1920 war sein schönstes Lebensjahr; da wimmelte es von Gewittern. Manchmal vier, fünf am Tage.«

»Was macht er jetzt?« fragt Wilke, der Amateur-Wissenschaftler, interessiert.

»Er ist tot«, sage ich. »Gestorben während der letzten großen Gewitter im Oktober 1920.«

Der Nachtwind wirft eine Tür im Hause gegenüber zu. Von den Türmen schlagen die Glocken. Es ist Mitternacht. Wilke kippt einen Schnaps herunter.

»Wie wäre es jetzt mit einem Spaziergang zum Friedhof?« fragt der manchmal etwas gefühlsrohe Gottesleugner Bach.

Wilkes Schnurrbart bebt vor Entsetzen im Winde, der durchs Fenster weht. »Und so was nennt man nun Freunde!« sagt er vorwurfsvoll. Gleich darauf erschrickt er wieder. »Was war das?«

»Ein Liebespaar, draußen. Mach jetzt eine Pause im Hobeln, Alfred. Iß! Gespenster lieben keine Menschen, die essen. Hast du keine Sprotten hier?«

Alfred wirft mir den Blick eines Hundes zu, den man tritt, während er gerade dem Ruf der Natur folgt. »Mußt du mich daran jetzt erinnern? An mein elendes Liebesleben und die Einsamkeit eines Mannes im besten Alter?«

»Du bist ein Opfer deines Berufs«, sage ich. »Nicht jeder kann das von sich sagen. Komm zum Souper! So nennt man diese Mahlzeit in der eleganten Welt.«

Wir greifen zu Wurst und Käse und öffnen die Bierflaschen. Der Kanarienvogel bekommt ein Salatblatt und bricht in Lebensjubel aus, ohne zu wissen, ob er Atheist ist oder nicht. Kurt Bach hebt das erdfarbene Gesicht und schnuppert. »Es riecht nach Sternen«, erklärt er.

»Was?« Wilke setzt seine Flasche in die Hobelspäne. »Was soll denn das nun wieder?«

»Um Mitternacht riecht die Welt nach Sternen.«

»Laß doch die Witze! Wie kann jemand nur leben wollen, wenn er an nichts glaubt und dann noch so redet?«

»Willst du mich bekehren?« fragt Kurt Bach. »Du Erbschleicher des Himmels?«

»Nein, nein! Oder ja, meinetwegen. Hat da nicht was geraschelt?«

»Ja«, sagt Kurt. »Die Liebe.«

Wir hören draußen wieder ein behutsames Schleichen. Ein zweites Liebespaar verschwindet im Denkmalswald. Man sieht den weißen Fleck des wandernden Mädchenkleides.

»Warum sehen eigentlich die Menschen so anders aus, wenn sie tot sind?« fragt Wilke. »Sogar Zwillinge.«

»Weil sie nicht mehr entstellt sind«, erwidert Kurt Bach. Wilke hält im Kauen inne. »Wieso denn das?«

»Vom Leben«, sagt der Monist.

Wilke klappt den Schnurrbart herunter und kaut weiter. »Um diese Zeit könntet ihr doch wohl mit dem Blödsinn aufhören! Ist euch denn nichts heilig?«

Kurt Bach lacht lautlos. »Du arme Ranke! Immer mußt du was haben, um dich dran festzuhalten.«

»Und du?«

»Ich auch.« Die Augen in dem Gesicht aus Lehm glänzen, als wären sie aus Glas. Der Sohn der Natur ist gewöhnlich verschlossen und nichts anderes als ein gescheiterter Bildhauer mit gescheiterten Träumen; aber manchmal brechen die Urbilder dieser Träume aus ihm heraus, so wie sie vor zwanzig Jahren waren, und dann ist er auf einmal ein verspäteter Faun mit Visionen.

Auf dem Hof knistert und flüstert und schleicht es wieder. »Vor vierzehn Tagen gab es draußen mal einen Streit«, sagt Wilke. »Ein Schlosser hatte vergessen, seine Werkzeuge aus der Tasche zu nehmen, und während des stürmischen Aktes müssen sie sich so unglücklich verlagert haben, daß die Dame plötzlich von einer spitzen Ahle gestochen wurde. Sie mit einem Sprung auf, ergreift einen kleinen Bronzekranz, schlägt ihn dem Mechaniker über den Schädel – haben Sie denn das nicht gehört?« fragt er mich.

»Nein.«

»Haut ihm also den Bronzekranz so über die Ohren, daß er ihn nicht herunterkriegen kann. Ich mache Licht, frage, was los ist. Der Kerl, voll Angst, galoppiert los, den Bronzekranz wie ein römischer Staatsmann um den Schädel – habt ihr denn den Bronzekranz nicht vermißt?«

»Nein.«

»So was!« Er also raus, als wenn ein Wespenschwarm hinter ihm wäre. Ich runter. Das Fräulein steht noch da, sieht auf ihre Hand. »Blut!« sagt sie. »Er hat mich gestochen! Und das in einem solchen Moment!«

Ich sehe am Boden die Ahle und reime mir zusammen, was passiert ist. Ich hebe die Ahle auf. »Das kann Blutvergiftung geben«, sage ich. »Sehr gefährlich! Einen Finger kann man abbinden; einen Hintern nicht. Selbst nicht einen so reizenden.« Sie errötet -

»Wie konntest du das im Dunkeln sehen?« fragt Kurt Bach. -»Es war Mond.«

»Bei Mond sieht man Erröten auch nicht.«

»Man fühlt es«, erklärt Wilke. »Sie errötet also, hält aber ihr Kleid immer weg vom Körper. Sie trug ein helles Kleid, und Blut macht Flecken, die schwer zu entfernen sind, deshalb. »Ich habe Jod und Heftpflaster«, sage ich. »Und ich bin diskret. Kommen Sie!« Sie kommt und erschrickt nicht einmal.« Wilke wendet sich mir zu. »Das ist das Schöne an eurem Hof«, sagt er begeistert. »Wer zwischen Denkmälern liebt, hat auch keine Angst vor Särgen. So kam es, daß nach Jod und Pflaster und einem Schluck Portwein-Verschnitt der Sarg des Riesen doch noch einen Zweck erfüllte.«

»Er wurde zur Liebeslaube?« frage ich, um sicher zu sein.

»Der Kavalier genießt und schweigt«, erwidert Wilke.

In diesem Augenblick tritt der Mond zwischen den Wolken hervor. Weiß leuchtet unten der Marmor, schwarz schimmern die Kreuze, und verstreut dazwischen sehen wir vier Liebespaare, zwei im Marmorlager, zwei im Granit. Einen Augenblick ist alles still und erstarrt in Überraschung – es gibt jetzt nur die Flucht oder das völlige Ignorieren der veränderten Situation. Flucht ist nicht so ungefährlich; man entkommt zwar im Augenblick, holt sich dafür aber einen solchen neurotischen Schock, daß er zur Impotenz führen kann. Ich weiß das von einem Gefreiten, der einmal von einem Vizefeldwebel der Pioniere im Wald mit einer Köchin überrascht wurde – er war erledigt fürs Leben, und seine Frau ließ sich zwei Jahre später von ihm scheiden.

Die Liebespaare tun das Richtige. Wie sichernde Hirsche werfen sie die Köpfe herum – dann, die Augen auf das einzige erleuchtete Fenster gerichtet, unseres, das ja auch schon vorher da war, verharren sie, als hätte Kurt Bach sie ausgehauen. Es ist ein Bild der Unschuld, höchstens etwas lächerlich, auch wie bei Bachs Skulpturen. Gleich darauf wischt ein Wolkenschatten den Mond so hinweg, daß dieser Teil des Gartens dunkel ist und nur der Obelisk noch Licht hat. Aber wer steht dort, ein glitzernder Springbrunnen? Der pissende Knopf, wie die Statue in Brüssel, die jeder Soldat kennt, der in Belgien Urlaub hatte.

Es ist zu weit, um etwas zu tun. Ich fühle mich heute auch nicht so. Wozu soll ich wie eine Hausfrau reagieren? Ich habe heute nachmittag beschlossen, diesen Platz zu verlassen, und darum strömt mir das Leben jetzt doppelt stark zu, ich fühle es überall, im Geruch der Hobelspäne und im Mond, im Huschen und Rascheln im Hof und in dem unsäglichen Wort September, in meinen Händen, die sich bewegen und es fassen können, und in meinen Augen, ohne die alle Museen der Welt leer wären, in Geistern, Gespenstern, Vergänglichkeit und der wilden Jagd der Erde vorbei an Cassiopeia und den Plejaden, in der Ahnung von endlosen fremden Gärten unter fremden Sternen, von Stellungen in großen fremden Zeitungen und von Rubinen, die jetzt in der Erde zu rotem Leuchten zusammenwachsen, ich fühle es, und das verhindert mich, eine leere Bierflasche in die Richtung der Dreißigsekundenfontäne Knopf zu werfen -

In diesem Augenblick schlagen die Uhren. Es ist eins. Die Geisterstunde ist vorüber, wir können zu Wilke wieder Sie sagen und uns entweder weiterbetrinken, oder in den Schlaf hinabsteigen wie in ein Bergwerk, in dem es Kohle, Leichen, weiße Salzpaläste und begrabene Diamanten gibt.

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