Es ist Sonntag früh. Die Glocken läuten von allen Türmen, und die Irrlichter des Abends sind zerstoben. Der Dollar steht immer noch auf sechsunddreißigtausend, die Zeit hält den Atem an, die Wärme hat den Kristall des Himmels noch nicht geschmolzen, und alles scheint klar und unendlich rein, es ist die eine Stunde am Morgen, wo man glaubt, daß selbst dem Mörder vergeben wird und daß gut und böse belanglose Worte sind.
Ich ziehe mich langsam an. Die kühle, sonnige Luft weht durch das offene Fenster. Schwalben blitzen stählern unter dem Torbogen durch. Mein Zimmer hat, wie das Büro darunter, zwei Fenster, eines zum Hof und eines zur Straße. Ich lehne einen Augenblick im Hoffenster und sehe in den Garten. Plötzlich tönt ein erstickter Schrei durch die Stille, dem ein Gurgeln und Stöhnen folgt. Es ist Heinrich Kroll, der im andern Flügel schläft. Er hat wieder einmal einen seiner Alpträume. 1918 ist er verschüttet worden, und heute, fünf Jahre später, träumt er immer noch ab und zu davon.
Ich koche auf meinem Spirituskocher Kaffee, in den ich einen Schluck Kirsch gieße. Ich habe das in Frankreich gelernt, und Schnaps habe ich trotz der Inflation immer noch. Mein Gehalt reicht zwar nie aus für einen neuen Anzug – ich kann dafür einfach das Geld nicht zusammensparen, es wird zu rasch wertlos -, aber für kleine Sachen genügt es, und darunter natürlich, als Trost, ab und zu für eine Flasche Schnaps.
Ich esse mein Brot mit Margarine und Pflaumenmarmelade. Die Marmelade ist gut, sie stammt aus den Vorräten von Mutter Kroll. Die Margarine ist ranzig, aber das macht nichts; im Kriege haben wir alle schlechter gegessen. Dann mustere ich meine Garderobe. Ich besitze zwei zu Zivilanzügen umgearbeitete Militäruniformen. Der eine ist blau, der andere schwarz gefärbt – viel mehr war mit dem graugrünen Stoff nicht zu machen. Außerdem habe ich noch einen Anzug aus der Zeit, bevor ich Soldat wurde. Er ist ausgewachsen, aber es ist ein richtiger Zivilanzug, kein umgearbeiteter oder gewendeter, und deshalb ziehe ich ihn heute an. Er paßt zu der Krawatte, die ich gestern nachmittag gekauft habe und die ich heute tragen will, damit Isabelle sie sieht.
Friedlich wandere ich durch die Straßen der Stadt. Werdenbrück ist eine alte Stadt von 60 000 Einwohnern, mit Holzhäusern und Barockbauten und scheußlichen neuen Vierteln dazwischen. Ich durchquere sie und gehe zur anderen Seite hinaus, eine Allee mit Roßkastanien entlang und dann einen kleinen Hügel hinauf, auf dem sich in einem großen Park die Irrenanstalt befindet. Sie liegt still und sonntäglich da, Vögel zwitschern in den Bäumen, und ich gehe hin, um in der kleinen Kirche der Anstalt für die Sonntagsmesse die Orgel zu spielen. Ich habe das während meiner Vorbereitungen zum Schulmeister gelernt und diese Stellung vor einem Jahr als Nebenberuf geschnappt. Ich habe mehrere solcher Nebenberufe. Einmal in der Woche erteile ich den Kindern des Schuhmachermeisters Karl Brill Klavierunterricht und bekomme dafür meine Schuhe besohlt und etwas Geld – und zweimal in der Woche gebe ich dem flegeligen Sohn des Buchhändlers Bauer Nachhilfestunden, ebenfalls für etwas Geld und das Recht, alle neuen Bücher zu lesen und Vorzugspreise zu bekommen, wenn ich welche kaufen will. Diese Vorzugspreise werden natürlich vom gesamten Dichterklub ausgenützt, sogar von Eduard Knobloch, der dann auf einmal mein Freund ist.
Die Messe beginnt um neun Uhr. Ich sitze an der Orgel und sehe die letzten Patienten hereinkommen; Sie kommen leise und verteilen sich auf die Bänke. Ein paar Wärter und Schwestern sitzen zwischen ihnen und an den Seiten. Alles geht sehr behutsam zu, viel lautloser als in den Bauernkirchen, in denen ich zur Zeit meiner Schulmeisterei gespielt habe. Man hört nur das Gleiten der Schuhe auf dem Steinboden; sie gleiten, sie trampeln nicht. Es ist das Geräusch der Schritte von Menschen, deren Gedanken weit weg sind.
Vor dem Altar sind die Kerzen angezündet. Durch das bunte Glas der Fenster fällt das Licht von draußen gedämpft herein und mischt sich mit dem Kerzenschein zu einem sanften, rot und blau überwehten Gold. Darin steht der Priester in seinem brokatenen Meßgewand, und auf den Stufen des Altars knien die Meßdiener in ihren roten Talaren mit den weißen Überwürfen.
Ich ziehe die Register der Flöten und der Vox humana und beginne. Mit einem Ruck wenden sich die Köpfe der Irren in den vorderen Reihen um, alle auf einmal, als würden sie an einer Schnur herumgezogen. Ihre bleichen Gesichter mit den dunklen Augenhöhlen starren ausdruckslos nach oben zur Orgel. Sie schweben wie flache helle Scheiben in dem dämmernden goldenen Licht, und manchmal, im Winter, im Dunkeln, sehen sie aus wie große Hostien, die darauf warten, daß der Heilige Geist in sie einkehre. Sie gewöhnen sich nicht an die Orgel; sie haben keine Vergangenheit und keine Erinnerung, und jeden Sonntag treffen die Flöten und Geigen und die Gamben ihre entfremdeten Gehirne unerwartet und neu. Dann beginnt der Priester am Altar, und sie wenden sich ihm zu.
Nicht alle Irren folgen der Messe. In den hinteren Reihen sitzen viele, die sich nicht bewegen. Sie sitzen da, als wären sie eingehüllt in eine furchtbare Trauer und um sie wäre nichts als Leere – aber vielleicht scheint einem das auch nur so. Vielleicht sind sie in ganz anderen Welten, in die kein Wort des gekreuzigten Heilands klingt, harmlos und ohne Verstehen einer Musik hingegeben, gegen die die Orgel blaß und grob klingt. Und vielleicht auch denken sie gar nichts – gleichgültig wie das Meer, das Leben und der Tod. Nur wir beseelen die Natur. Wie sie sein mag, wenn sie sie selbst ist – vielleicht wissen es die Köpfe da unten; aber sie können das Geheimnis nicht verraten. Was sie sehen, hat sie stumm gemacht. Manchmal ist es, als wären sie die letzten Abkommen der Turmbauer von Babel, ihre Sprache sei verwirrt und sie könnten nicht mehr mitteilen, was sie von der obersten Terrasse aus gesehen haben.
Ich spähe nach der ersten Reihe. An der rechten Seite, in einem Flirren von Rosa und Blau sehe ich den dunklen Kopf Isabelles. Sie kniet sehr gerade und schlank in der Bank. Ihr schmaler Kopf ist zur Seite geneigt wie bei einer gotischen Statue. Ich stoße die Gamben und die Register der Vox humana zurück und ziehe die Vox Celeste. Es ist das sanfteste und entrückteste Register der Orgel. Wir nähern uns der heiligen Wandlung. Brot und Wein werden in den Leib und das Blut Christi verwandelt. Es ist ein Wunder – ebenso wie jenes andere, daß aus Staub und Lehm der Mensch geworden sei. Riesenfeld behauptet, das dritte wäre, daß der Mensch mit diesem Wunder nicht viel mehr anzufangen gewußt habe, als seinesgleichen auf immer großzügigere Weise auszunutzen und umzubringen und die kurze Frist zwischen Geburt und Tod mit soviel Egoismus wie nur möglich vollzustopfen, obschon für jeden doch nur eines absolut sicher sei von Beginn: daß er sterben müsse. Das sagt Riesenfeld von den Odenwälder Granitwerken, einer der schärfsten Kalkulatoren und Draufgänger im Geschäft des Todes. Agnus Dei qui tollis peccata mundi.
Ich erhalte nach der Messe von den Schwestern der Anstalt ein Frühstück aus Eiern, Aufschnitt, Bouillon, Brot und Honig. Das gehört zu meinem Vertrag. Ich komme damit gut über das Mittagessen hinweg; denn sonntags gelten Eduards Eßkarten nicht. Außerdem erhalte ich tausend Mark, eine Summe, für die ich gerade mit der Straßenbahn hin- und zurückfahren kann, wenn ich will. Ich habe nie eine Erhöhung verlangt. Warum, weiß ich nicht; bei dem Schuster Karl Brill und den Nachhilfestunden für den Sohn des Buchhändlers Bauer kämpfe ich darum wie ein wilder Ziegenbock.
Nach dem Frühstück gehe ich in den Park der Anstalt. Es ist ein schönes, weitläufiges Gelände mit Bäumen, Blumen und Bänken, umgeben von einer hohen Mauer, und man könnte glauben, in einem Sanatorium zu sein, wenn man nicht die vergitterten Fenster sähe.
Ich liebe den Park, weil er still ist und weil ich hier mit niemand über Krieg, Politik und Inflation zu reden brauche. Ich kann ruhig sitzen und so altmodische Dinge tun wie auf den Wind lauschen, den Vögeln zuhören und das Licht beobachten, wie es durch das helle Grün der Baumkronen filtert.
Die Kranken, die ausgehen dürfen, wandern vorüber. Die meisten sind still, andere reden mit sich selbst, ein paar diskutieren lebhaft mit Besuchern und Wärtern, und viele hocken schweigend und allein, ohne sich zu rühren, mit gebeugten Köpfen, wie versteinert in der Sonne – bis sie wieder in ihre Zellen zurückgeschafft werden.
Es hat einige Zeit gedauert, ehe ich mich an den Anblick gewöhnt habe, und selbst heute kommt es ab und zu noch vor, daß ich die Irren anstarre wie zu Anfang: mit einem Gemisch aus Neugier, Grauen und etwas namenlosem dritten, das mich an den Augenblick erinnert, als ich meinen ersten Toten sah. Ich war damals zwölf Jahre alt, der Tote hieß Georg Hellmann, eine Woche vorher hatte ich mit ihm noch gespielt, und nun lag er da, zwischen Blumen und Kränzen, etwas unsagbar Fremdes aus gelbem Wachs, das in einer entsetzlichen Weise nichts mehr mit uns zu tun hatte, das fort war für ein unausdenkbares Immer und doch noch da, in einer stummen, seltsam kühlen Drohung. Später, im Kriege, habe ich dann unzählige Tote gesehen und kaum mehr dabei empfunden, als wäre ich in einem Schlachthause – aber diesen ersten habe ich nie vergessen, so wie man alles Erste nicht vergißt. Er war der Tod. Und es ist derselbe Tod, der mich manchmal aus den erloschenen Augen der Irren anblickt, ein lebendiger Tod, unbegreiflicher fast noch und rätselhafter als der andere, stille. Nur bei Isabelle ist das anders.
Ich sehe sie den Weg vom Pavillon für Frauen herankommen. Ein gelbes Kleid schwingt wie eine Glocke aus Shantungseide um ihre Beine, und in der Hand hält sie einen flachen, breiten Strohhut.
Ich stehe auf und gehe ihr entgegen. Ihr Gesicht ist schmal, und man sieht darin eigentlich nur die Augen und den Mund. Die Augen sind grau und grün und sehr durchsichtig, und der Mund ist rot wie der einer Lungenkranken oder als hätte sie ihn stark geschminkt. Die Augen können aber auch plötzlich flach, schieferfarben und klein werden und der Mund schmal und verbittert wie der einer alten Jungfer, die nie geheiratet worden ist. Wenn sie so ist, ist sie Jennie, eine mißtrauische, unangenehme Person, der man nichts recht machen kann – wenn sie anders ist, ist sie Isabelle. Beides sind Illusionen, denn in Wirklichkeit heißt sie Geneviève Terhoven und leidet an einer Krankheit, die den häßlichen und etwas gespenstischen Namen Schizophrenie führt – Teilung des Bewußtseins, Spaltung der Persönlichkeit, und das ist auch der Grund, warum sie sich für Isabelle oder Jennie hält – jemand andern, als sie wirklich ist. Sie ist eine der jüngsten Kranken der Anstalt. Ihre Mutter soll im Elsaß leben und ziemlich reich sein, sich aber wenig um sie kümmern – ich habe sie jedenfalls hier noch nicht gesehen, seit ich Geneviève kenne, und das ist schon sechs Wochen her.
Sie ist heute Isabelle, das sehe ich sofort. Sie lebt dann in einer Traumwelt, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, und ist leicht und schwerelos, und ich würde mich nicht wundern, wenn die Zitronenfalter, die überall herumspielen, sich ihr auf die Schultern setzten.
»Da bist du!« sagt sie strahlend. »Wo warst du all die Zeit?«
Wenn sie Isabelle ist, sagt sie du zu mir. Das ist keine besondere Auszeichnung; sie sagt dann du zu aller Welt.
»Wo warst du?« fragt sie noch einmal.
Ich mache eine Bewegung in die Richtung des Tores.
»Irgendwo – da draußen -«
Sie sieht mich einen Augenblick forschend an. »Draußen? Warum? Suchst du da etwas?«
»Ich glaube schon – wenn ich nur wüßte, was!«
Sie lacht. »Gib es auf, Rolf. Man findet nie etwas.«
Ich zucke zusammen unter dem Namen Rolf. Leider nennt sie mich öfter so, denn ebenso wie sich selbst hält sie auch mich für jemand andern, und auch nicht immer für denselben. Sie wechselt zwischen Rolf und Rudolf, und einmal kam auch ein gewisser Raoul auf. Rolf ist ein langweiliger Patron, den ich nicht ausstehen kann; Raoul scheint eine Art Verführer zu sein – am liebsten aber ist es mir, wenn sie mich Rudolf nennt, dann ist sie schwärmerisch und verliebt. Meinen wirklichen Namen, Ludwig Bodmer, ignoriert sie. Ich habe ihn ihr oft gesagt; aber sie nimmt ihn einfach nicht zur Kenntnis.
In den ersten Wochen war das alles ziemlich verwirrend für mich; aber jetzt bin ich daran gewöhnt. Damals hatte ich auch noch die landläufige Auffassung von Geisteskrankheiten und stellte mir darunter dauernde Tobsuchtsanfälle, Mordversuche und lallende Idioten vor – um so überraschender hob sich Geneviève davon ab. Ich konnte anfangs kaum glauben, daß sie überhaupt krank war, so spielerisch erschien mir die Verwechslung von Namen und Identität, und auch jetzt passiert mir das manchmal noch; dann aber begriff ich, daß hinter dieser fragilen Konstruktion trotzdem lautlos das Chaos wehte. Es war noch nicht da, aber es war nahe, und das gab Isabelle, zusammen damit, daß sie erst zwanzig Jahre alt und durch ihre Krankheit oft von einer fast tragischen Schönheit war, eine seltsame Anziehungskraft.
»Komm, Rolf«, sagt sie und nimmt meinen Arm.
Ich versuche noch einmal, dem verhaßten Namen zu entfliehen. »Ich bin nicht Rolf«, erkläre ich,»ich bin Rudolf.«
»Du bist nicht Rudolf.«
»Doch, ich bin Rudolf. Rudolf, das Einhorn.«
Sie hat mich einmal so genannt. Doch ich habe kein Glück. Sie lächelt, so wie man über ein störrisches Kind lächelt. »Du bist nicht Rudolf, und du bist nicht Rolf. Aber du bist auch nicht, was du denkst. Und nun komm, Rolf.«
Ich sehe sie an. Einen Moment habe ich wieder das Gefühl, als wäre sie nicht krank und verstelle sich nur.
»Sei nicht langweilig. Warum willst du immer derselbe sein?«
»Ja, warum?« erwidere ich überrascht. »Du hast recht! Warum will man das? Was ist schon an einem so dringend aufzubewahren? Und wozu nimmt man sich so wichtig?«
Sie nickt. »Du und der Doktor! Der Wind weht zum Schluß doch über alles. Warum wollt ihr es nicht zugeben?«
»Der Doktor auch?« frage ich.
»Ja, der, der sich so nennt. Was der alles von mir will! Dabei weiß er nichts. Nicht einmal, wie Gras aussieht, nachts, wenn man nicht hinsieht.«
»Wie kann das schon aussehen? Grau wahrscheinlich oder schwarz. Und silbern, wenn der Mond scheint.«
Isabelle lacht. »Das dachte ich mir! Du weißt es auch nicht. Genau wie der Doktor!«
»Wie sieht es denn aus?«
Sie bleibt stehen. Ein Windstoß treibt vorüber mit Bienen und dem Geruch von Blüten. Der gelbe Rock weht wie ein Segel. »Es ist gar nicht da«, sagt sie.
Wir gehen weiter. Eine alte Frau in Anstaltskleidern kommt in der Allee an uns vorüber. Ihr Gesicht ist rot und glänzt von Tränen. Zwei ratlose Angehörige gehen neben ihr her. »Was ist denn da, wenn das Gras nicht da ist?« frage ich.
»Nichts. Nur wenn man hinsieht, ist es da. Manchmal, wenn man sich sehr schnell umdreht, kann man es noch erwischen.«
»Was? Daß es nicht da ist?«
»Nein – aber wie es zurücksaust an seinen Platz – das Gras und alles, was hinter dir ist. Wie Dienstboten, die zum Tanz gegangen sind. Du mußt nur sehr rasch sein beim Umdrehen, dann erwischt du sie noch – sonst sind sie schon da und tun unschuldig, als wären sie nie fortgewesen.«
»Wer, Isabelle?« frage ich sehr behutsam.
»Die Dinge. Alles hinter dir. Es wartet doch nur darauf, daß du dich umdrehst, damit es verschwinden kann!«
Ich überlege mir das einen Augenblick. Das wäre ja, als hätte man dauernd einen Abgrund hinter sich, denke ich.
»Bin ich auch nicht mehr da, wenn du dich umdrehst?« frage ich.
»Du auch nicht. Nichts.«
»Ach so«, sage ich etwas bitter. »Für mich bin ich aber immerfort da. Auch wenn ich mich noch so rasch umdrehe.«
»Du drehst dich nach der falschen Seite um.«
»Gibt es da auch Seiten?«
»Für dich schon, Rolf.«
Ich zucke aufs neue zusammen unter dem verhaßten Namen. »Und für dich? Was ist mit dir?«
Sie sieht mich an und lächelt abwesend, als kenne sie mich nicht. »Ich? Ich bin doch gar nicht da!«
»So? Für mich bist du genug da.«
Ihr Ausdruck verändert sich. Sie erkennt mich wieder.
»Ist das wahr? Warum sagst du mir das nicht öfter?«
»Ich sage es dir doch immerfort.«
»Nicht genug.« Sie lehnt sich an mich. Ich fühle ihren Atem und ihre Brüste unter der dünnen Seide. »Nie genug«, sagt sie mit einem Seufzer. »Warum weiß das niemand? Ach, ihr Statuen!«
Statuen, denke ich. Was bleibt mir denn anders übrig? Ich sehe sie an, sie ist schön und aufregend, ich spüre sie, und jedesmal, wenn ich mit ihr zusammen bin, ist es, als telefonierten tausend Stimmen durch meine Adern, aber dann plötzlich bricht es ab, als hätten alle eine falsche Verbindung, ich finde mich nicht mehr zurecht, und es entsteht nichts als Verwirrung. Man kann eine Irre nicht begehren. Vielleicht kann man es; ich kann es nicht. Es ist, als wollte man eine automatische Puppe begehren. Oder jemand, der hypnotisiert ist. Das aber ändert nichts daran, daß man ihre Nähe nicht doch spürt.
Die grünen Schatten der Allee öffnen sich, und vor uns liegen die Beete der Tulpen und Narzissen in der vollen Sonne. »Du mußt deinen Hut aufsetzen, Isabelle«, sage ich. »Der Doktor will es so.«
Sie wirft den Hut in die Blüten. »Der Doktor! Was der alles will! Er will mich heiraten, aber sein Herz ist verhungert. Er ist eine Eule, die schwitzt.«
Ich glaube nicht, daß Eulen schwitzen können. Aber das Bild überzeugt trotzdem. Isabelle tritt wie eine Tänzerin zwischen die Tulpen und kauert sich nieder. »Hörst du die hier?«
»Natürlich«, sage ich erleichtert. »Jeder kann sie hören. Es sind Glocken. In Fis-Dur.«
»Was ist Fis-Dur?«
»Eine Tonart. Die süßeste von allen.«
Sie wirft ihren weiten Rock über die Blüten. »Läuten sie jetzt in mir?«
Ich nicke und sehe auf ihren schmalen Nacken. Alles läutet in dir, denke ich. Sie bricht eine Tulpe ab und betrachtet die offene Blüte und den fleischigen Stengel, aus dem der Saft quillt.
»Das hier ist nicht süß.«
»Gut – dann sind es Glocken in C-Dur.«
»Muß es Dur sein?«
»Es kann auch Moll sein.«
»Kann es nicht beides zugleich sein?«
»In der Musik nicht«, sage ich, in die Enge getrieben. »Es gibt da Prinzipien. Es kann nur eins oder das andere sein. Oder eins nach dem anderen.«
»Eins nach dem andern!« Isabelle sieht mich mit leichter Verachtung an. »Immer kommst du mit diesen Ausreden, Rolf. Warum?«
»Ich weiß es auch nicht. Ich wollte, es wäre anders.«
Sie richtet sich plötzlich auf und schleudert die Tulpe, die sie abgebrochen hat, von sich. Mit einem Sprung ist sie aus dem Beet heraus und schüttelt heftig ihr Kleid aus. Dann zieht sie es hoch und betrachtet ihre Beine. Ihr Gesicht ist von Ekel verzerrt.
»Was ist passiert?« frage ich erschreckt.
Sie zeigt auf das Beet. »Schlangen -«
Ich blicke auf die Blumen. »Da sind keine Schlangen, Isabelle.«
»Doch! Die da!« Sie deutet auf die Tulpen. »Siehst du nicht, was sie wollen? Ich habe es gespürt.«
»Sie wollen nichts. Es sind Blumen«, sage ich verständnislos.
»Sie haben mich angerührt!« Sie zittert vor Ekel und starrt immer noch auf die Tulpen.
Ich nehme sie bei den Armen und drehe sie so, daß sie das Beet nicht mehr sieht. »Jetzt hast du dich umgedreht«, sage ich. »Jetzt sind sie nicht mehr da.«
Sie atmet heftig. »Laß es nicht zu! Zertritt sie, Rudolf.«
»Sie sind nicht mehr da. Du hast dich umgedreht, und nun sind sie fort. Wie das Gras nachts und die Dinge.«
Sie lehnte sich an mich. Ich bin plötzlich nicht mehr Rolf für sie. Sie legt ihr Gesicht an meine Schulter. Sie braucht mir nichts zu erklären. Ich bin Rudolf und muß es wissen. »Bist du sicher?« fragt sie, und ich fühle ihr Herz neben meiner Hand schlagen.
»Ganz sicher. Sie sind weg. Wie Dienstboten am Sonntag.«
»Laß es nicht zu, Rudolf -«
»Ich lasse es nicht zu«, sage ich und weiß nicht recht, was sie meint. Doch das ist auch nicht notwendig. Sie beruhigt sich bereits.
Wir gehen langsam zurück. Sie wird fast ohne Übergang müde. Eine Schwester marschiert auf flachen Absätzen heran. »Sie müssen essen kommen, Mademoiselle.«
»Essen«, sagt Isabelle. »Wozu muß man immer essen, Rudolf?«
»Damit man nicht stirbt.«
»Du lügst schon wieder«, sagt sie müde, wie zu einem hoffnungslosen Kinde.
»Diesmal nicht. Diesmal ist es wahr.«
»So? Essen Steine auch?«
»Leben Steine denn?«
»Aber natürlich. Am stärksten von allem. So stark, daß sie ewig sind. Weißt du nicht, was ein Kristall ist?«
»Nur aus der Physikstunde. Das ist sicher falsch.«
»Reine Ekstase«, flüstert Isabelle. »Nicht, wie das da -« Sie macht eine Bewegung nach rückwärts zu den Beeten.
Die Wärterin nimmt ihren Arm. »Wo haben Sie Ihren Hut, Mademoiselle?« fragt sie nach ein paar Schritten und sieht sich um. »Warten Sie, ich hole ihn.«
Sie geht, um den Hut aus den Blumen zu fischen. Hinter ihr kommt Isabelle hastig, mit aufgelöstem Gesicht zu mir zurück.
»Verlaß mich nicht, Rudolf!« flüstert sie.
»Ich verlasse dich nicht.«
»Und geh nicht weg! Ich muß jetzt fort. Sie holen mich! Aber geh nicht weg!«
»Ich gehe nicht weg, Isabelle.«
Die Wärterin hat den Hut gerettet und marschiert nun auf ihren breiten Sohlen heran wie das Schicksal. Isabelle steht und sieht mich an. Es ist, als wäre es ein Abschied für immer. Es ist jedesmal mit ihr so, als wäre es ein Abschied für immer. Wer weiß, wie sie wiederkommt und ob sie mich dann überhaupt noch erkennt?
»Setzen Sie den Hut auf, Mademoiselle«, sagt die Wärterin.
Isabelle nimmt ihn und läßt ihn schlaff von ihrer Hand herunterhängen. Sie dreht sich um und geht zum Pavillon zurück. Sie sieht nicht zurück.
Es begann damit, daß Geneviève Anfang März plötzlich im Park auf mich zukam und anfing, mit mir zu sprechen, als kennten wir uns schon lange. Das war nichts Ungewöhnliches – in der Irrenanstalt braucht man einander nicht vorgestellt zu: erden; hier ist man jenseits von Formalitäten, man spricht miteinander, wenn man will, und braucht keine langen Einleitungen. Man spricht auch sofort über das, was einem in den Sinn kommt, und es stört nicht, wenn der andere es nicht versteht – das ist nebensächlich. Man will nicht überzeugen und nicht erklären: man ist da und man spricht, und oft sprechen zwei Leute über etwas ganz Verschiedenes miteinander und verstehen sich großartig, weil sie nicht auf das hören, was der andere sagt. Papst Gregor VII. zum Beispiel, ein kleines Männchen mit Säbelbeinen, diskutiert nicht. Er braucht niemand davon zu überzeugen, daß er Papst ist. Er ist es, und damit fertig, und er hat große Sorgen mit Heinrich dem Löwen, Canossa ist nicht fern, und darüber spricht er manchmal. Es stört ihn nicht, daß sein Gesprächspartner ein Mann ist, der glaubt, er wäre ganz aus Glas, und der jeden bittet, ihn nicht anzustoßen, weil er schon einen Sprung habe – die beiden sprechen miteinander, Gregor über den König, der im Hemd büßen soll, und der Glasmann darüber, daß er die Sonne nicht ertragen könne, weil sie sich in ihm spiegele – dann erteilt Gregor den päpstlichen Segen, der Glasmann nimmt das Tuch, das seinen durchsichtigen Kopf vor der Sonne behütet, einen Augenblick ab, und beide trennen sich mit der Höflichkeit vergangener Jahrhunderte. Ich war also nicht erstaunt, als Geneviève mich ansprach; ich war nur erstaunt darüber, wie schön sie war, denn sie war gerade Isabelle.
Sie sprach lange mit mir. Sie trug einen leichten hellen Pelzmantel, der mindestens zehn bis zwanzig Kreuzdenkmäler aus bestem schwedischem Granit wert war, und dazu ein Abendkleid und goldene Sandalen. Es war elf Uhr morgens, und in der Welt jenseits der Mauern wäre das unmöglich gewesen. Hier aber wirkte es nur aufregend; als wäre jemand mit einem Fallschirm von einem fremden Planeten herabgeweht worden.
Es war ein Tag mit Sonne, Regenschauern, Wind und plötzlicher Stille. Sie wirbelten durcheinander, eine Stunde war es März, die andere April, und dann fiel unvermittelt ein Stück Mai und Juni hinein. Dazu kam Isabelle, von irgendwoher, und es war wirklich von irgendwoher – von da, wo die Grenzen aufhören, wo das Licht der Vernunft nur noch verzerrt wie ein wehendes Nordlicht an Himmeln hängt, die keinen Tag und keine Nacht kennen – nur ihre eigenen Strahlen-Echos und die Echos der Echos und das fahle Licht des Jenseits und der zeitlosen Weite.
Sie verwirrte mich von Anfang an, und alle Vorteile waren auf ihrer Seite. Ich hatte zwar viele bürgerliche Begriffe im Kriege verloren, aber das hatte mich nur zynisch und etwas verzweifelt gemacht, aber nicht überlegen und frei. So saß ich da und starrte sie an, als wäre sie ohne Schwergewicht und schwebe, während ich ihr mühsam nachstolperte. Dazu kam, daß oft eine sonderbare Weisheit durch das schimmerte, was sie sagte; es war nur verschoben und gab dann überraschend einen Fernblick frei, der einem das Herz klopfen ließ; doch wenn man ihn halten wollte, wehten schon wieder Schleier und Nebel darüber, und sie war ganz woanders.
Sie küßte mich am ersten Tage, und sie tat es so selbstverständlich, daß es nichts zu bedeuten schien; aber das änderte nichts daran, daß ich es nicht spürte. Ich spürte es, er erregte mich, doch dann schlug es wie eine Welle gegen die Barriere eines Riffes – ich wußte, sie meinte mich gar nicht, sie meinte jemand anderen, eine Gestalt ihrer Phantasie, einen Rolf oder Rudolf, und vielleicht meinte sie auch die nicht, und es waren nur Namen, die aus dunklen, unterirdischen Strömen hochgeworfen wurden, ohne Wurzeln und ohne Zusammenhang.
Sie kam von da an fast jeden Sonntag in den Garten, und wenn es regnete, kam sie in die Kapelle. Ich hatte von der Oberin die Erlaubnis, nach der Messe Orgel zu üben, wenn ich wollte. Ich tat es bei schlechtem Wetter. Ich übte nicht wirklich, dafür spielte ich zu schlecht; ich tat nur dasselbe wie mit dem Klavier: ich spielte für mich, irgendwelche lauen Phantasien, so gut es ging, etwas Stimmung und Träumerei und Sehnsucht nach Ungewissem, nach Zukunft, nach Erfüllung und nach mir selbst, und man brauchte nicht besonders gut zu spielen, um das zu können. Isabelle kam manchmal mit mir und hörte zu. Sie saß dann im Halbdunkel unten, der Regen klatschte an die bunten Scheiben, und die Orgeltöne gingen über ihr dunkles Haupt dahin – ich wußte nicht, was sie dachte, und es war sonderbar und etwas sentimental, aber dahinter stand dann plötzlich die Frage nach dem Warum, der Schrei, die Angst und das Verstummen. Ich fühlte das alles, und ich fühlte auch etwas von der unfaßbaren Einsamkeit der Kreatur, wenn wir in der leeren Kirche mit der Dämmerung und den Orgellauten waren, nur wir beide, als wären wir die einzigen Menschen, zusammengehalten vom halben Licht, den Akkorden und dem Regen, und trotzdem für immer getrennt, ohne jede Brücke, ohne Verständnis, ohne Worte, nur mit dem merkwürdigen Glühen der kleinen Wachfeuer an den Grenzen des Lebens in uns, die wir sahen und mißverstanden, sie in ihrer, ich in meiner Weise, wie taubstumme Blinde, ohne taub und stumm und blind zu sein, und deshalb viel ärmer und beziehungsloser. Was war es, das in ihr machte, daß sie zu mir kam? Ich wußte es nicht und würde es nie wissen – es war begraben unter Schutt und einem Bergrutsch -, aber ich verstand auch nicht, warum diese sonderbare Beziehung mich trotzdem so verwirrte, ich wußte doch, was mit ihr war und daß sie mich nicht meinte, und trotzdem machte es mich sehnsüchtig nach etwas, das ich nicht kannte, und bestürzte mich und machte mich manchmal glücklich und unglücklich ohne Grund und ohne Sinn.
Eine kleine Schwester kommt auf mich zu. »Die Oberin möchte gern mit Ihnen sprechen.«
Ich stehe auf und folge ihr. Mir ist nicht ganz wohl zumute. Vielleicht hat eine der Schwestern spioniert und die Oberin will mir sagen, ich solle nur mit Kranken über sechzig sprechen, oder sie will mir sogar kündigen, obschon der Oberarzt erklärt hat, es sei gut, wenn Isabelle Gesellschaft habe.
Die Oberin empfängt mich in ihrem Besuchszimmer. Es riecht nach Bohnerwachs, Tugend und Seife. Kein Hauch vom Frühling ist hineingedrungen. Die Oberin, eine hagere, energische Frau, empfängt mich freundlich; sie hält mich für einen tadellosen Christen, der Gott liebt und an die Kirche glaubt. »Es ist bald Mai«, sagt sie und sieht mir gerade in die Augen.
»Ja«, erwidere ich und mustere die blütenweißen Gardinen und den kahlen, glänzenden Fußboden.
»Wir haben daran gedacht, ob wir nicht eine Mai-Andacht abhalten könnten.«
Ich schweige erleichtert. »In den Kirchen der Stadt ist im Mai jeden Abend um acht Uhr eine Andacht«, erklärt die Oberin.
Ich nicke. Ich kenne die Mai-Andachten. Weihrauch quillt in die Dämmerung, die Monstranz funkelt, und nach der Andacht treiben sich die jungen Leuten noch einige Zeit umher auf den Plätzen mit den alten Bäumen, wo die Maikäfer summen. Ich gehe zwar nie hin, aber ich weiß das noch aus der Zeit, bevor ich Soldat wurde. Damals begannen meine ersten Erlebnisse mit jungen Mädchen. Alles war sehr aufregend und heimlich und harmlos. Aber ich denke nicht daran, jetzt jeden Abend dieses Monats um acht Uhr hier anzutreten und Orgel zu spielen.
»Wir möchten wenigstens sonntags abends eine Andacht haben«, sagt die Oberin. »Eine festliche, mit Orgelmusik und Te Deum. Eine stille wird ohnehin für die Schwestern jeden Abend gehalten.«
Ich überlege. Sonntags abends ist es langweilig in der Stadt, und die Andacht dauert nur eine knappe Stunde.
»Wir können nur wenig zahlen«, erklärt die Oberin. »Soviel wie für die Messe. Das ist jetzt wohl nicht mehr viel, wie?«
»Nein«, sage ich. »Es ist nicht mehr viel. Wir haben draußen eine Inflation.«
»Ich weiß.« Sie steht unentschlossen. »Der Instanzenweg der Kirche ist leider dafür nicht eingerichtet. Sie denkt in Jahrhunderten. Wir müssen das hinnehmen. Man tut es ja schließlich für Gott und nicht für Geld. Oder nicht?«
»Man kann es für beides tun«, erwidere ich. »Das ist dann ein besonders glücklicher Zustand.«
Sie seufzt. »Wir sind gebunden an die Beschlüsse der Kirchenbehörden. Die werden einmal im Jahr gefaßt, und nicht öfter.«
»Auch für die Gehälter der Herren Pastoren, Domkapitulare und das des Herrn Bischofs?« frage ich.
»Das weiß ich nicht«, sagt sie und errötet etwas. »Aber ich glaube schon.«
Ich habe inzwischen meinen Entschluß gefaßt. »Heute abend habe ich keine Zeit«, erkläre ich. »Wir haben eine wichtige geschäftliche Sitzung.«
»Heute ist ja noch April. Aber nächsten Sonntag – oder, wenn Sie sonntags nicht können, vielleicht einmal in der Woche. Es wäre doch schön, ab und zu eine richtige Mai-Andacht zu haben. Die Muttergottes wird es Ihnen sicher lohnen.«
»Das bestimmt. Da ist nur die Schwierigkeit mit dem Abendessen. Acht Uhr liegt gerade so dazwischen. Hinterher ist es zu spät und vorher ist es eine Hetze.«
»Oh, was das betrifft – Sie könnten natürlich hier essen, wenn Sie wollen. Hochwürden ißt ja auch immer hier. Vielleicht ist das ein Ausweg.«
Es ist genau der Ausweg, den ich wollte. Das Essen hier ist fast so gut wie bei Eduard, und wenn ich mit dem Priester zusammen esse, gibt es bestimmt eine Flasche Wein dazu. Da Eduard sonntags das Abonnement gesperrt hat, ist das sogar ein hervorragender Ausweg.
»Gut«, sage ich. »Ich werde es versuchen. Über das Geld brauchen wir weiter nicht zu reden.«
Die Oberin atmet auf. »Gott wird es Ihnen lohnen.«
Ich gehe zurück. Die Wege im Garten sind leer. Ich warte noch eine Zeitlang auf das gelbe Segel aus Shantungseide. Dann läuten die Glocken aus der Stadt zu Mittag, und ich weiß, daß jetzt der Schlaf für Isabelle kommt und dann der Arzt, und vor vier Uhr ist nichts zu machen. Ich gehe durch das große Tor den Hügel hinunter. Unten liegt die Stadt mit ihren grün patinierten Türmen und den rauchenden Schornsteinen. Zu beiden Seiten der Kastanienallee breiten sich die Felder aus, in denen an den Wochentagen die ungefährlichen Irren arbeiten. Die Anstalt ist zum Teil öffentlich, zum Teil privat. Die Privatpatienten brauchen natürlich nicht zu arbeiten. Hinter den Feldern beginnt der Wald mit Bächen, Teichen und Lichtungen. Ich habe dort als Junge Fische, Molche und Schmetterlinge gefangen. Es ist erst zehn Jahre her; aber es scheint in einem anderen Leben gewesen zu sein, in einer verschollenen Zeit, in der das Dasein ruhig ablief und sich organisch entwickelte und in der alles zueinander gehörte, von der Kindheit an. Der Krieg hat das verändert; wir leben seit 1914 Fetzen aus einem und dann Fetzen aus einem zweiten und dritten Leben; sie gehören nicht zusammen und wir können sie auch nicht zusammenbringen. Deshalb ist es nicht einmal zu schwierig, Isabelle mit ihren verschiedenen Leben zu verstehen. Nur ist sie fast besser dran als wir; sie vergißt, wenn sie in einem ist, alle anderen. Bei uns aber gehen sie durcheinander – die Kindheit, die abgerissen wurde durch den Krieg, die Zeit des Hungers und die desSchwindels, die der Schützengräben und die der Lebensgier -, von allen ist etwas geblieben und macht unruhig. Man kann es nicht einfach beiseite schieben. Es taucht immer überraschend wieder auf und steht sich dann unversöhnlich gegenüber: der Himmel der Kindheit und die Kenntnis des Tötens, die verlorene Jugend und der Zynismus zu frühen Wissens.