Der Mann aus Glas steht bewegungslos in der milden Dämmerung vor einem Rosenbeet. Gregor der Siebente geht in der Kastanienallee spazieren. Eine ältere Schwester führt einen gebeugten Greis mit langen Haaren herum, der sie immer wieder in den kräftigen Hintern zu kneifen versucht und jedesmal fröhlich kichert. Neben mir auf einer Bank sitzen zwei Männer, von denen jeder dem anderen erklärt, warum der andere verrückt sei, ohne daß sie sich zuhören. Eine Gruppe von drei Frauen in gestreiften Kleidern begießt die Blumen; schweigend gleiten sie mit ihren Zinnkannen durch den Abend.
Ich hocke auf der Bank neben dem Rosenbeet. Alles ist hier friedlich und richtig. Niemand kümmert sich darum, daß der Dollar um zwanzigtausend Mark an einem Tag gestiegen ist. Niemand erhängt sich deswegen, wie in der Stadt gestern nacht ein altes Ehepaar, das heute morgen im Kleiderschrank gefunden wurde – jeder an einem Stück Wäscheleine. Außer den beiden war nichts mehr im Schrank; alles war verkauft und versetzt worden, auch das Bett und der Schrank selbst. Als der Käufer die Möbelstücke abholen wollte, entdeckte er die Toten. Sie hatten sich aneinander geklammert und streckten sich die geschwollenen blauen Zungen entgegen. Sie waren sehr leicht, und man konnte sie rasch abnehmen. Beide waren sauber gewaschen, die Haare waren gebürstet und die Kleider tadellos geflickt und sauber. Der Käufer, ein vollblütiger Möbelhändler, erbrach sich, als er sie sah, und erklärte, den Schrank nicht mehr haben zu wollen. Erst abends änderte er seine Meinung und ließ ihn abholen. Die Toten lagen um diese Zeit auf dem Bett und mußten auch da heruntergenommen werden, weil das Bett ebenfalls abgeholt wurde. Die Nachbarn liehen ein paar Tische, und die alten Leute wurden nun darauf aufgebahrt, die Köpfe mit Seidenpapier verhüllt. Das Seidenpapier war das einzige gewesen, was ihnen in der Wohnung noch gehört hatte. Sie hinterließen einen Brief, in dem sie erklärten, daß sie sich eigentlich durch Gas hätten töten wollen, aber die Gasgesellschaft hätte es abgestellt gehabt, weil es zu lange nicht bezahlt worden war. Deshalb entschuldigten sie sich bei dem Möbelhändler für die Umstände, die sie ihm machten.
Isabelle kommt heran. Sie trägt eine kurze blaue Hose, die die Knie frei läßt, eine gelbe Bluse und um den Hals eine Bernsteinkette. »Wo warst du?« fragt sie atemlos.
Ich habe sie ein paar Tage nicht gesehen. Jedesmal nach der Andacht bin ich aus der Kirche geschlüpft und nach Hause gegangen. Es war nicht leicht, auf das hervorragende Abendessen und den Wein mit Bodendiek und Wernicke zu verzichten; aber es war mir lieber, bei Butterbroten und Kartoffelsalat mit Gerda meine Ruhe zu haben.
»Wo warst du?« wiederholt Isabelle.
»Draußen« sage ich ablehnend. »Da, wo Geld die Hauptsache ist.«
Sie setzt sich auf die Lehne der Bank. Ihre Beine sind sehr braun, als hätte sie viel in der Sonne gelegen. Die beiden Männer neben mir sehen unmutig auf; dann erheben sie sich und gehen. Isabelle gleitet auf die Bank. »Wozu sterben Kinder, Rudolf?« fragt sie.
»Das weiß ich nicht.«
Ich sehe sie nicht an. Ich will nicht wieder von ihr eingefangen werden; es ist schon genug, wie sie dasitzt mit den langen Beinen und der Tennishose, als hätte sie geahnt, daß ich von jetzt an nach Georgs Rezept leben will.
»Wozu werden sie geboren, wenn sie gleich wieder sterben?«
»Das mußt du den Vikar Bodendiek fragen. Er behauptet, Gott führe Buch über jedes Haar, das von irgendeinem Kopfe fällt, und alles habe einen Sinn und eine Moral.«
Isabelle lacht. »Gott führt Buch? Über wen? Über sich selbst? Wozu? Er weiß doch alles.«
»Ja«, sage ich und bin plötzlich sehr ärgerlich, ohne zu wissen, warum. »Er ist allwissend, allgütig, gerecht und voll Liebe – und trotzdem sterben Kinder und Mütter, die sie brauchen, und niemand weiß, warum so viel Elend in der Welt ist.«
Isabelle wendet sich mir mit einem Ruck zu. Sie lacht nicht mehr. »Warum sind nicht alle Menschen einfach glücklich, Rudolf?« flüstert sie.
»Das weiß ich nicht. Vielleicht, weil Gott sich sonst langweilen würde.«
»Nein«, sagt sie rasch. »Nicht deshalb.«
»Warum denn?«
»Weil er Angst hat.«
»Angst? Wovor?«
»Wenn alle glücklich wären, brauchte man keinen Gott mehr.«
Ich sehe sie jetzt an. Ihre Augen sind sehr durchsichtig. Auch ihr Gesicht ist braun und schmaler als früher. »Er ist nur für das Unglück da«, sagt sie. »Dann braucht man ihn und betet. Deshalb macht er es.«
»Es gibt auch Menschen, die zu Gott beten, weil sie glücklich sind.«
»So?« Isabelle lächelt ungläubig. »Dann beten sie, weil sie Angst haben, daß sie es nicht bleiben werden. Alles ist Angst, Rudolf. Weißt du das nicht?«
Der fröhliche Greis wird von der kräftigen Schwester vorübergeführt. Aus einem Fenster vom Hauptgebäude kommt das hohe Summen eines Staubsaugers. Ich sehe mich um. Das Fenster ist offen, aber vergittert – ein schwarzes Loch, aus dem der Staubsauger schreit wie eine verdammte Seele.
»Alles ist Angst«, wiederholt Isabelle. »Hast du nie Angst?«
»Ich weiß es nicht«, erwidere ich, immer noch auf der Hut. »Ich glaube schon. Ich hatte sehr oft Angst im Kriege.«
»Das meine ich nicht. Das ist vernünftige Angst. Ich meine die ohne Namen.«
»Welche? Angst vor dem Leben?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Früher.«
»Vor dem Tode?«
Sie schüttelt wieder den Kopf. Ich frage nicht weiter. Ich will da nicht hinein. Schweigend sitzen wir eine Zeitlang in der Dämmerung. Wieder einmal habe ich das Gefühl, daß Isabelle nicht krank sei; aber ich lasse es nicht aufkommen. Wenn es aufkommt, ist die Verwirrung wieder da, und ich will sie nicht. Isabelle rührt sich schließlich.
»Warum sagst du nichts?« fragt sie.
»Was sind schon Worte?«
»Viel«, flüstert sie. »Alles. Hast du Angst davor?«
Ich denke nach. »Wahrscheinlich haben wir alle etwas Angst vor großen Worten. Es ist so entsetzlich viel damit gelogen worden. Vielleicht haben wir auch Angst vor unsern Gefühlen. Wir trauen ihnen nicht mehr.«
Isabelle zieht die Beine auf die Bank. »Man braucht sie aber, Liebster«, murmelt sie. »Wie kann man sonst leben?«
Der Staubsauger hat aufgehört zu summen. Es ist plötzlich sehr still. Kühl kommt von den Beeten der Hauch der feuchten Erde. Ein Vogel ruft in den Kastanien, immer denselben Ruf. Der Abend ist plötzlich eine Waage, die auf beiden Seiten gleich viel Welt trägt. Ich fühle sie, als balanciere sie ohne Schwere auf meiner Brust. Nichts kann mir geschehen, denke ich, solange ich so ruhig weiter atme.
»Hast du Angst vor mir?« flüstert Isabelle.
Nein, denke ich und schüttle den Kopf; du bist der einzige Mensch, vor dem ich keine Angst habe. Auch nicht mit Worten. Vor dir sind sie nie zu groß und nie lächerlich. Du verstehst sie immer, denn du lebst noch in der Welt, wo Worte und Gefühle eins und Lüge und Vision dasselbe sind.
»Warum sagst du nichts?« fragt sie.
Ich hebe die Schultern. »Manchmal kann man nichts sagen, Isabelle. Und es ist oft schwer, loszulassen.«
»Was loszulassen?«
»Sich selbst. Da sind viele Widerstände.«
»Ein Messer kann sich nicht selbst schneiden, Rudolf. Wozu hast du Angst?«
»Ich weiß es nicht, Isabelle.«
»Warte nicht zu lange, Liebster. Sonst ist es zu spät. Man braucht Worte«, murmelt sie.
Ich antworte nicht. »Gegen die Angst, Rudolf«, sagt sie. »Sie sind wie Lampen. Sie helfen. Siehst du, wie grau alles wird? Kein Blut ist jetzt mehr rot. Warum hilfst du mir nicht?«
Ich gebe meinen Widerstand endlich auf. »Du süßes, fremdes und geliebtes Herz«, sage ich. »Wenn ich dir nur helfen könnte!«
Sie beugt sich vor und legt die Arme um meine Schultern.
»Komm mit mir! Hilf mir! Sie rufen!«
»Wer ruft?«
»Hörst du sie nicht? Die Stimmen. Sie rufen immerfort!«
»Niemand ruft, Isabelle. Nur dein Herz. Aber was ruft es?«
Ich fühle ihren Atem über mein Gesicht wehen. »Liebe mich, dann ruft es nicht mehr«, sagt sie.
»Ich liebe dich.«
Sie läßt sich neben mich sinken. Ihre Augen sind jetzt geschlossen. Es wird dunkler, und ich sehe den Mann aus Glas langsam wieder vorüberstelzen. Eine Schwester sammelt ein paar alte Leute ein, die gebeugt und unbeweglich wie dunkle Bündel Trauer auf Bänken gesessen haben. »Es ist Zeit«, sagt sie in unsere Richtung.
Ich nicke und bleibe sitzen. »Sie rufen«, flüstert Isabelle. »Man kann sie nie finden. Wer hat so viele Tränen?«
»Niemand«, sage ich. »Niemand in der Welt, geliebtes Herz.«
Sie antwortet nicht. Sie atmet wie ein müdes Kind neben mir. Dann hebe ich sie auf und trage sie durch die Allee zum Pavillon zurück, in dem sie wohnt.
Als ich sie herunterlasse, stolpert sie und hält sich an mir fest. Sie murmelt etwas, das ich nicht verstehe, und läßt sich hineinführen. Der Eingang ist hell erleuchtet von einem schattenlosen, milchigen Licht. Ich setze sie in einen Korbstuhl in der Halle. Sie liegt mit geschlossenen Augen darin, als wäre sie von einem unsichtbaren Kreuz abgenommen. Zwei Schwestern in schwarzer Tracht kommen vorbei. Sie sind auf dem Wege zur Kapelle. Einen Augenblick sieht es aus, als wollten sie Isabelle abholen und begraben. Dann kommt die weiße Wärterin und nimmt sie mit.
Die Oberin hat uns eine zweite Flasche Mosel gegeben. Bodendiek ist zu meinem Erstaunen trotzdem gleich nach dem Essen verschwunden. Wernicke bleibt sitzen. Das Wetter ist beständig, und die Kranken sind so ruhig, wie sie sein können.
»Warum tötet man die nicht, die völlig hoffnungslos sind?« frage ich.
»Würden Sie sie töten?« fragt Wernicke zurück.
»Das weiß ich nicht. Es ist dieselbe Frage wie bei einem langsam hoffnungslos Sterbenden, von dem man weiß, daß er nur noch Schmerzen haben wird. Würden Sie ihm eine Spritze geben, damit er ein paar Tage weniger leide?«
Wernicke schweigt.
»Zum Glück ist Bodendiek nicht hier«, sage ich. »Wir können uns also die moralische und religiöse Erörterung schenken. Ich hatte einen Kameraden, dem der Bauch aufgerissen war wie ein Fleischerladen. Er flehte uns an, ihn zu erschießen. Wir brachten ihn zum Lazarett. Er schrie dort noch drei Tage; dann starb er. Drei Tage sind eine lange Zeit, wenn man vor Schmerzen brüllt. Ich habe viele Menschen krepieren sehen. Nicht sterben – krepieren. Allen hätte geholfen werden können mit einer Spritze. Meiner Mutter auch.«
Wernicke schweigt.
»Gut«, sage ich. »Ich weiß: Das Leben in einem Geschöpf zu beenden ist immer wie ein Mord. Seit ich im Kriege war, töte ich sogar ungern eine Fliege. Trotzdem hat mir das Stück Kalb heute abend gut geschmeckt, das man getötet hat, damit wir es essen. Das sind die alten Paradoxe und verhinderten Schlußfolgerungen. Das Leben ist ein Wunder, auch in einem Kalb und in einer Fliege. Besonders in einer Fliege – dieser Akrobatin mit ihren Tausenden von Augenfacetten. Es ist immer ein Wunder. Aber es wird immer beendet. Warum töten wir im Frieden einen kranken Hund und nicht einen wimmernden Menschen? Aber wir morden Millionen in nutzlosen Kriegen.«
Wernicke gibt immer noch keine Antwort. Ein großer Käfer summt um die Lampe. Er stößt gegen die Birne, fällt, krabbelt, fliegt wieder hoch und umkreist das Licht aufs neue. Seine Erfahrung benutzt er nicht.
»Bodendiek, der Beamte der Kirche, hat natürlich auf alles eine Antwort«, sage ich. »Tiere haben keine Seele, Menschen haben eine. Aber wo bleibt das Stück Seele, wenn eine Windung des Gehirns beschädigt wird? Wo ist das Stück, wenn jemand ein Idiot wird? Ist es schon im Himmel? Oder wartet es irgendwo auf den verkümmerten Rest, der einen Menschenkörper noch sabbern, essen und ausscheiden läßt? Ich habe einige Ihrer Fälle im geschlossenen Hause gesehen – Tiere sind dagegen Götter. Wo ist die Seele bei den Idioten geblieben? Läßt sie sich teilen? Oder hängt sie wie ein unsichtbarer Ballon über den armen murmelnden Schädeln?«
Wernicke macht eine Bewegung, als scheuche er ein Insekt fort.
»Gut«, sage ich. »Das ist eine Frage für Bodendiek, der sie mit Leichtigkeit lösen wird. Bodendiek kann alles lösen mit dem großen Unbekannten Gott, mit Himmel und Hölle, dem Lohn für die Leidenden und der Strafe für die Bösen. Niemand hat je einen Beweis dafür gehabt – nur der Glaube macht selig, nach Bodendiek. Wozu haben wir dann aber Verstand, Kritik und die Sucht nach Beweisen bekommen? Um sie nicht zu brauchen? Ein sonderbares Spiel für den großen Unbekannten! Und was ist die Ehrfurcht vor dem Leben? Angst vor dem Tode? Angst, immer Angst! Warum? Und warum können wir fragen, wenn es keine Antwort gibt?«
»Fertig?« fragt Wernicke.
»Nein – aber ich werde Sie nicht weiter fragen.«
»Gut. Ich kann Ihnen auch nicht antworten. Soviel wissen Sie ja wenigstens, oder nicht?«
»Natürlich. Warum sollten gerade Sie es können, wenn alle Bibliotheken der Welt nur Spekulationen als Antwort haben?«
Der Käfer ist auf seinem zweiten Rundflug abgestürzt. Er krabbelt wieder auf die Beine und beginnt den dritten. Seine Flügel sind wie polierter blauer Stahl. Er ist eine schöne Zweckmäßigkeitsmaschine; aber Licht gegenüber ist er wie ein Alkoholiker gegenüber einer Flasche Schnaps.
Wernicke gießt den Rest des Mosels in die Gläser. »Wie lange waren Sie im Kriege?«
»Drei Jahre.«
»Merkwürdig!«
Ich antworte nicht. Ich weiß ungefähr, was er meint, und habe keine Lust, das noch einmal durchzukauen. »Glauben Sie, daß der Verstand zur Seele gehört?« fragt Wernicke statt dessen.
»Das weiß ich nicht. Aber glauben Sie, daß die sich beschmutzenden Untertiere, die in der geschlossenen Abteilung herumkriechen, noch eine Seele haben?«
Wernicke greift nach seinem Glas. »Für mich ist das alles einfach«, sagt er. »Ich bin ein Mann der Wissenschaft. Ich glaube gar nichts. Ich beobachte nur. Bodendiek dagegen glaubt a piori! Dazwischen flattern Sie unsicher umher. Sehen Sie den Käfer da?«
Der Käfer ist bei seinem fünften Ansturm. Er wird bis zu seinem Tode so weitermachen. Wernicke dreht die Lampe ab. »So, dem wäre geholfen.«
Die Nacht kommt groß und blau durch die offenen Fenster. Sie weht herein mit dem Geruch der Erde, der Blumen und dem Funkeln der Sterne. Alles, was ich gesagt habe, erscheint mir sofort entsetzlich lächerlich. Der Käfer zieht noch eine brummende Runde und steuert dann sicher zum Fenster hinaus. »Chaos«, sagt Wernicke. »Ist es wirklich Chaos? Oder ist es nur eins für uns. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie die Welt wäre, wenn wir einen Sinn mehr hätten?«
»Nein.«
»Aber mit einem Sinn weniger?«
Ich denke nach. »Man wäre blind oder taub; oder könnte nichts schmecken. Es wäre ein großer Unterschied.«
»Und mit einem mehr? Warum sollen wir immer gerade auf fünf Sinne beschränkt bleiben? Warum können wir nicht vielleicht eines Tages sechs entwickeln? Oder acht? Oder zwölf? Würde die Welt dann nicht völlig anders sein? Vielleicht verschwände beim sechsten schon der Begriff Zeit. Oder der des Raumes. Oder der des Todes. Oder der des Schmerzes. Oder der der Moral. Sicher der des heutigen Lebensbegriffes. Wir wandern mit ziemlich beschränkten Organen durch unser Dasein. Ein Hund hört besser als jeder Mensch. Eine Fledermaus fühlt ihren Weg blind durch alle Hindernisse. Ein Schmetterling hat einen Radioempfänger in sich und fliegt damit über viele Kilometer direkt auf sein Weibchen zu. Zugvögel sind uns in der Orientierung weit überlegen. Schlangen hören mit der Haut. Die Naturwissenschaft weiß Hunderte solcher Beispiele. Wie können wir da irgend etwas bestimmt wissen? Eine Ausweitung eines Organs oder die Entwicklung eines neuen – und die Welt verändert sich, und der Gottbegriff verändert sich. Prost!«
Ich hebe mein Glas und trinke. Der Mosel ist herbe und erdig. »Es ist also besser, zu warten, bis wir einen sechsten Sinn haben, was?« sage ich.
»Nicht nötig. Sie können tun, was Sie wollen. Aber es ist gut zu wissen, daß ein Sinn mehr alle Schlüsse über den Haufen werfen würde. Tierischer Ernst schwindet davor dahin. Wie ist der Wein?«
»Gut. Wie ist es mit Fräulein Terhoven? Besser?«
»Schlechter. Ihre Mutter war hier – sie hat sie nicht erkannt.«
»Vielleicht hat sie es nicht gewollt.«
»Das ist fast dasselbe; sie hat sie nicht erkannt. Sie hat sie angeschrien, wegzugehen. Typischer Fall.«
»Warum?«
»Wollen Sie einen langen Vortrag über Schizophrenie, Elternkomplex, Flucht vor sich selbst und Schockwirkung hören?«
»Ja«, sage ich. »Heute ja.«
»Sie werden ihn nicht hören. Nur das Nötigste. Spaltpersönlichkeit ist gewöhnlich Flucht vor sich selbst.«
»Was ist man selbst?«
Wernicke sieht mich an. »Lassen wir das heute. Flucht in eine andere Persönlichkeit. Oder in mehrere. Meistens springt der Patient zwischendurch immer wieder für kurze oder längere Zeit in seine eigene zurück. Geneviéve nicht. Seit langem nicht mehr. Sie zum Beispiel kennen sie gar nicht so, wie sie wirklich ist.«
»Sie wirkt ganz vernünftig, so wie sie jetzt ist.«
Wernicke lacht. »Was ist Vernunft? Logisches Denken?«
Ich denke an die kommenden zwei neuen Sinne und antworte nicht. »Ist sie sehr krank?« frage ich.
»Nach unseren Begriffen, ja. Aber es gibt schnelle und oft überraschende Heilungen.«
»Heilungen – wovon?«
»Von ihrer Krankheit.« Wernicke zündet sich eine Zigarette an.
»Sie ist oft ganz glücklich. Warum lassen Sie sie nicht so, wie sie ist?«
»Weil ihre Mutter für die Behandlung zahlt«, erklärt Wernicke trocken. »Außerdem ist sie nicht glücklich.«
»Glauben Sie, daß sie glücklicher wäre, wenn sie gesund würde?«
»Wahrscheinlich nicht. Sie ist empfindlich, intelligent, anscheinend voll Phantasie und wohl erblich belastet. Eigenschaften, die nicht unbedingt glücklich machen. Wenn sie glücklich gewesen wäre, wäre sie kaum geflüchtet.«
»Warum läßt man sie denn nicht in Frieden?«
»Ja, warum nicht?« sagt Wernicke. »Das frage ich mich auch oft. Warum operiert man Kranke, von denen man weiß, daß die Operation doch nicht helfen wird? Wollen wir eine Liste der Warums aufstellen? Sie würde lang werden. Eines der Warums würde sein: Warum trinken Sie nicht Ihren Wein und halten endlich mal die Klappe? Und warum spüren Sie nicht die Nacht statt Ihr unausgewaschenes Gehirn? Warum reden Sie über das Leben, anstatt es zu fühlen?«
Er steht auf und dehnt sich. »Ich muß zur Nachtvisite zu den Geschlossenen. Wollen Sie mitkommen?«
»Ja.«
»Ziehen Sie einen weißen Kittel über. Ich nehme Sie mit in eine besondere Abteilung. Entweder kotzen Sie nachher, oder Sie sind fähig, Ihren Wein mit tiefer Dankbarkeit zu genießen.«
»Die Flasche ist leer.«
»Ich habe noch eine auf meiner Bude. Möglich, daß wir sie brauchen. Wissen Sie, was merkwürdig ist? Daß Sie für Ihre fünfundzwanzig Jahre schon eine erhebliche Menge Tod, Elend und menschliche Idiotie gesehen haben – und trotzdem nichts anderes daraus gelernt zu haben scheinen, als die dämlichsten Fragen zu stellen, die man sich denken kann. Aber das ist wohl der Lauf der Welt – wenn wir endlich wirklich was gelernt haben, sind wir zu alt, es anzuwenden – und so geht das weiter, Welle auf Welle, Generation auf Generation. Keine lernt das geringste von der anderen. Kommen Sie!«
Wir sitzen im Café Central – Georg, Willy und ich. Ich wollte heute nicht allein zu Hause bleiben. Wernicke hat mir eine Abteilung der Irrenanstalt gezeigt, die ich noch nicht kannte – die der Kriegsverletzten. Es sind die Kopfschüsse, die Verschütteten und die Zusammengebrochenen. Inmitten des milden Sommerabends stand diese Abteilung da wie ein finsterer Unterstand im Gesang der Nachtigallen ringsum. Der Krieg, der überall bereits fast vergessen ist, geht in diesen Räumen immer noch weiter. Die Explosionen der Granaten sind immer noch in diesen armen Ohren, die Augen spiegeln noch wie vor fünf Jahren das fassungslose Entsetzen, Bajonette bohren sich ohne Unterlaß weiter in weiche Bäuche, Tanks zermalmen jede Stunde schreiende Verwundete und pressen sie flach wie Flundern, das Donnern der Schlacht, das Krachen der Handgranaten, das Splittern der Schädel, das Röhren der Minen, das Ersticken in zusammenstürzenden Unterständen ist durch eine schreckliche schwarze Magie hier präserviert worden und tobt nun schweigend in diesem Pavillon zwischen Rosen und Sommer weiter. Befehle werden gegeben, und unhörbaren Befehlen wird gehorcht, die Betten sind Schützengräben und Unterstände, immer aufs neue werden sie verschüttet und ausgegraben, es wird gestorben und getötet, erwürgt und erstickt, Gas treibt durch die Räume, und Agonien von Angst lösen sich in Brüllen und Kriechen und entsetztem Röcheln und Weinen und oft nur in Kauern und Schweigen in einer Ecke, so klein geduckt wie nur möglich, das Gesicht zur Wand, fest angepreßt…
»Aufstehen!« brüllen plötzlich ein paar jugendliche Stimmen hinter uns. Eine Anzahl Gäste schnellt schneidig von den Tischen hoch. Die Cafékapelle spielt »Deutschland, Deutschland über alles«. Es ist das viertemal heute abend. Es ist nicht die Kapelle, die so nationalistisch ist; auch nicht der Wirt. Es ist eine Anzahl junger Radaubrüder, die sich wichtig machen wollen. Alle halbe Stunde geht einer zur Kapelle und bestellt die Nationalhymne. Er geht hin, als zöge er in die Schlacht. Die Kapelle wagt nicht, sich zu widersetzen, und so erklingt das Deutschlandlied anstatt der Ouvertüre zu »Dichter und Bauer«. »Aufstehen!« schallt es dann jedesmal von allen Seiten, denn beim Klang der Nationalhymne erhebt man sich von den Sitzen, besonders, wenn sie zwei Millionen Tote, einen verlorenen Krieg und die Inflation eingebracht hat.
»Aufstehen!« schreit mir ein etwa siebzehnjähriger Lümmel zu, der bei Ende des Krieges nicht mehr als zwölf Jahre alt gewesen sein kann.
»Leck mich am Arsch«, erwidere ich,»und geh zurück in die Schule.«
»Bolschewist!« schreit der Junge, der sicher noch nicht einmal weiß, was das ist. »Hier sind Bolschewisten, Kameraden!«
Es ist der Zweck dieser Flegel, Radau zu machen. Sie bestellen die Nationalhymne immer wieder, und immer wieder steht eine Anzahl Leute nicht auf, weil es ihnen zu dumm ist. Mit leuchtenden Augen stürzen die Schreihälse dann heran und suchen Streit. Irgendwo sitzen ein paar abgedankte Offiziere, dirigieren sie und fühlen sich patriotisch.
Ein Dutzend steht jetzt um unsern Tisch herum. »Aufstehen, oder es passiert was!«
»Was?« fragt Willy.
»Das werdet ihr bald sehen! Feiglinge! Vaterlandsverräter! Auf!«
»Geht vom Tisch weg«, sagt Georg ruhig. »Glaubt ihr, wir brauchen Befehle von Minderjährigen?«
Ein etwa dreißigjähriger Mann schiebt sich durch die Gesellschaft. »Haben Sie keinen Respekt vor Ihrer Nationalhymne?«
»Nicht in Kaffeehäusern, wenn damit Krach provoziert werden soll«, erwidert Georg. »Und nun lassen Sie uns mit Ihren Albernheiten in Ruhe!«
»Albernheiten? Sie nennen die heiligsten Gefühle eines Deutschen Albernheiten? Das werden Sie büßen müssen! Wo waren Sie im Kriege, Sie Drückeberger?«
»Im Schützengraben«, erwidert Georg. »Leider.«
»Das kann jeder sagen! Beweise!«
Willy steht auf. Er ist ein Riese. Die Musik schweigt gerade. »Beweise?« sagt Willy. »Hier!« Er lüftet ein Bein etwas an, dreht dem Frager leicht den Hintern zu, und ein Geräusch wie ein mittlerer Kanonenschuß erschallt.
»Das«, sagt Willy abschließend,»ist alles, was ich bei den Preußen gelernt habe. Vorher hatte ich nettere Manieren.«
Der Führer der Rotte ist unwillkürlich zurückgesprungen. »Sagten Sie nicht Feigling?« fragt Willy und grinst. »Sie scheinen selbst etwas schreckhaft zu sein!«
Der Wirt ist herangekommen mit drei stämmigen Kellnern. »Ruhe, meine Herrschaften, ich muß dringend bitten! Keine Auseinandersetzungen im Lokal!«
Die Kapelle spielt jetzt »Das Schwarzwaldmädel«. Die Hüter der Nationalhymne ziehen sich unter dunklen Drohungen zurück. Es ist möglich, daß sie draußen über uns herfallen wollen. Wir schätzen sie ab; sie hocken in der Nähe der Tür. Es sind etwa zwanzig. Der Kampf wird ziemlich aussichtslos für uns sein.
Doch auf einmal kommt unerwartet Hilfe. Ein vertrockneter kleiner Mann tritt an unseren Tisch. Es ist Bodo Lederhose, ein Händler in Häuten und altem Eisen. Wir haben mit ihm in Frankreich gelegen. »Kinder«, sagt er. »Habe gerade gesehen, was los ist. Bin mit meinem Verein hier. Drüben hinter der Säule. Wir sind ein gutes Dutzend. Werden euch helfen, wenn die Arschgesichter was wollen. Gemacht?«
»Gemacht, Bodo. Du bist von Gott gesandt worden.«
»Das nicht. Aber dies ist kein Platz für vernünftige Leute. Wir sind nur für ein Glas Bier hereingekommen. Leider hat der Wirt hier das beste Bier in der ganzen Stadt. Sonst ist er ein charakterloses Arschloch.«
Ich finde, daß Bodo ziemlich weitgeht, in diesen Zeiten selbst von einem so einfachen menschlichen Organ noch Charakter zu verlangen; aber es ist trotzdem erhebend, gerade deswegen. In faulen Zeiten soll man unmögliche Ansprüche stellen.
»Wir gehen bald«, sagt Bodo noch. »Ihr auch?«
»Sofort.«
Wir zahlen und erheben uns. Bevor wir an der Tür sind, sind die Hüter der Nationalhymne bereits draußen. Sie haben wie durch Zauber auf einmal Knüppel, Steine und Schlagringe in den Händen. Im Halbkreis stehen sie vor dem Eingang.
Bodo ist plötzlich zwischen uns. Er schiebt uns zur Seite, und seine zwölf Mann gehen vor uns durch die Tür. Sie bleiben draußen stehen. »Irgendwelche Wünsche, Ihr Rotzköpfe?« fragt Bodo.
Die Hüter des Reiches starren uns an. »Feiglinge!« sagt schließlich der Befehlshaber, der mit zwanzig Mann über uns drei herfallen wollte. »Wir werden euch schon noch erwischen!«
»Sicher«, sagt Willy. »Dafür haben wir ein paar Jahre im Schützengraben gelegen. Seht aber zu, daß ihr immer drei- oder viermal so viele seid. Übermacht gibt Patrioten Zuversicht.«
Wir gehen mit Bodos Verein die Große Straße hinunter. Die Sterne stehen am Himmel. In den Läden brennt Licht. Manchmal, wenn man mit Kameraden vom Kriege zusammen ist, erscheint einem das immer noch sonderbar und herrlich und atemberaubend und unbegreiflich: daß man so dahinschlendern kann und frei ist und lebt. Ich verstehe plötzlich, was Wernicke gemeint hat mit der Dankbarkeit. Es ist eine Dankbarkeit, die sich nicht an jemand richtet – einfach die, davongekommen zu sein für etwas mehr Zeit – denn wirklich davon kommt natürlich keiner.
»Ihr müßt ein anderes Café haben«, sagt Bodo. »Wie ist es mit unserem? Da gibt es keine solchen Brüllaffen. Kommt mit, wir zeigen es euch!«
Sie zeigen es uns. Unten gibt es Kaffee, Selters, Bier und Eis – oben sind die Versammlungsräume. Bodos Verein ist ein Gesangsverein. Die Stadt wimmelt von Vereinen, die alle ihre Vereinsabende, ihre Statuten, ihre Tagesordnungen haben und sich sehr wichtig und ernst nehmen. Bodos Verein tagt donnerstags im ersten Stock.
»Wir haben einen schönen vierstimmigen Männerchor«, sagt er. »Nur im ersten Tenor sind wir etwas schwach. Komisch, es sind wohl sehr viele erste Tenöre im Kriege gefallen. Und der Nachwuchs ist erst im Stimmbruch.«
»Willy ist ein erster Tenor«, erkläre ich.
»Tatsächlich?« Bodo sieht ihn interessiert an. »Sing mal diesen Ton nach, Willy.«
Bodo flötet wie eine Drossel. Willy flötet nach. »Gutes Material«, sagt Bodo. »Nun diesen!«
Willy schafft auch den zweiten. »Werde Mitglied«, drängt Bodo jetzt. »Wenn es dir nicht paßt, kannst du ja immer wieder austreten.«
Willy ziert sich etwas, aber zu unserem Erstaunen beißt er an. Er wird sofort zum Schatzmeister des Klubs ernannt. Dafür zahlt er eine doppelte Lage Bier und Schnaps und fügt für alle Erbsensuppe und Eisbein hinzu. Bodos Verein ist politisch demokratisch; nur im ersten Tenor haben sie einen konservativen Spielwarenhändler und einen halbkommunistischen Schuster; aber bei ersten Tenören kann man eben nicht wählerisch sein, es gibt zu wenige. Bei der dritten Lage erzählt Willy, daß er eine Dame kenne, die ebenfalls ersten Tenor singen könne und sogar Baß. Der Verein schweigt, kaut Eisbein und zweifelt. Georg und ich greifen ein und erklären die Duettfähigkeit Renée de la Tours. Willy schwört, daß sie kein wirklicher Baß sei, sondern von Geburt reiner Tenor. Darauf wird mit mächtigem Beifall geantwortet. Renée wird in Abwesenheit zum Mitglied und sofort zum Ehrenmitglied ernannt. Willy spendet die Runden dafür. Bodo träumt von mysteriösen Sopraneinlagen, wodurch andere Gesangvereine bei Sängerfesten wahnsinnig werden sollen, weil sie glauben müssen, daß Bodos Klub einen Eunuchen bei sich habe, zumal Renée natürlich in Männerkleidung auftreten muß, da der Verein sonst als gemischter Chor klassifiziert würde.
»Ich werde es ihr heute abend noch sagen«, erklärt Willy. »Kinder, wird sie lachen! In allen Stimmlagen!«
Georg und ich gehen schließlich. Willy bewacht vom ersten Stock aus den Platz; er rechnet, als alter Soldat, noch mit einem Hinterhalt der Hüter der Nationalhymne. Aber nichts geschieht. Der Marktplatz liegt ruhig unter den Sternen. Rundum stehen die Fenster der Kneipen offen. Gewaltig dringt es aus Bodos Vereinslokal:»Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben«?
»Sag mal, Georg«, frage ich, als wir in die Hakenstraße einbiegen. »Bist du eigentlich glücklich?«
Georg Kroll lüftet seinen Hut vor etwas Unsichtbarem in der Nacht. »Eine andere Frage!« sagt er. »Wie lange kann man auf einer Nadelspitze sitzen?«