In der Allee kommt mir eine junge Dame entgegen. Es ist Sonntag morgen, und ich habe sie bereits in der Kirche gesehen. Sie trägt ein hellgraues, gut sitzendes Jackenkleid, einen kleinen Filzhut, graue Wildlederschuhe, heißt Geneviève Terhoven und ist mir sonderbar fremd.
Sie war mit ihrer Mutter in der Kirche. Ich habe sie gesehen, und ich habe Bodendiek gesehen und auch Wernicke, dem der Erfolg nur so von den Mundwinkeln trieft. Ich habe den Garten umkreist und auf nichts mehr gehofft, und nun kommt Isabelle plötzlich allein durch die Allee, die schon fast kahl ist. Ich bleibe stehen. Sie kommt, schmal und leicht und elegant, und mit ihr kommt auf einmal alle Sehnsucht wieder, der Himmel und mein eigenes Blut. Ich kann nicht sprechen. Ich weiß von Wernicke, daß sie gesund ist, daß die Schatten verweht sind, und ich spüre es selbst; sie ist auf einmal da, anders als früher, aber ganz da, nichts von Krankheit steht mehr zwischen uns, voll springt die Liebe aus meinen Händen und Augen, und ein Schwindel steigt wie ein lautloser Wirbelsturm die Adern empor ins Gehirn. Sie sieht mich an.
»Isabelle«, sage ich.
Sie sieht mich wieder an, eine schmale Falte zwischen den Brauen. »Ja?« fragt sie.
Ich fasse es nicht sofort. Ich glaube, ich müsse sie erinnern.
»Isabelle«, wiederhole ich. »Erkennst du mich nicht? Ich bin doch Rudolf.
»Rudolf?« wiederholt sie. »Rudolf – wie, bitte?«
Ich starre sie an. »Wir haben oft miteinander gesprochen«, sage ich dann.
Sie nickt. »Ja, ich war lange hier. Ich habe vieles davon vergessen, entschuldigen Sie. Sind Sie auch schon lange hier?«
»Ich? Ich war doch nie hier oben! Ich habe hier doch nur Orgel gespielt. Und dann -«
»Orgel, ja, so«, erwidert Geneviève Terhoven höflich. »In der Kapelle. Ja, ich erinnere mich. Entschuldigen Sie, daß es mir im Augenblick entfallen war. Sie haben sehr schön gespielt. Vielen Dank.«
Ich stehe da wie ein Idiot. Ich verstehe nicht, warum ich nicht gehe. Geneviève versteht es offenbar auch nicht.
»Verzeihen Sie«, sagt sie. »Ich habe noch viel zu tun; ich reise bald.«
»Sie reisen bald?«
»Ja«, erwidert sie erstaunt.
»Und Sie erinnern sich an nichts? Nicht an die Namen, die in der Nacht abfallen und an die Blumen, die Stimmen haben?«
Isabelle hebt verständnislos die Schultern. »Gedichte«, erklärt sie dann lächelnd. »Ich habe sie immer geliebt. Aber es gibt so viele! Man kann sich nicht an alle erinnern.«
Ich gebe auf. Es ist so, wie ich es geahnt habe! Sie ist gesund geworden, und ich bin aus ihren Händen geglitten wie aus den Händen einer schlafenden Bäuerin eine Zeitung. Sie erinnert sich an nichts mehr. Es ist, als wäre sie aus einer Narkose erwacht. Die Zeit hier oben ist aus ihrem Gedächtnis entschwunden. Sie hat alles vergessen. Sie ist Geneviève Terhoven und weiß nicht mehr, wer Isabelle war. Sie lügt nicht, das sehe ich. Ich habe sie verloren, nicht so, wie ich fürchtete, weil sie einem anderen Kreise als ich entstammt und in ihn zurückgeht, sondern schlimmer, gründlicher und unabänderlicher. Sie ist gestorben. Sie lebt und atmet noch und ist schön, aber in dem Augenblick, wo die Fremde der Krankheit weggenommen wurde, ist sie gestorben, ertrunken für immer. Isabelle, deren Herz flog und blühte, ist ertrunken in Geneviève Terhoven, einem wohlerzogenen Mädchen besserer Kreise, das sicher einmal wohlhabend heiraten und sogar eine gute Mutter sein wird.
»Ich muß fort«, sagt sie. »Vielen Dank noch einmal für das Orgelspiel.«
»Nun?« fragt mich Wernicke. »Was sagen Sie dazu?«
»Wozu?«
»Stellen Sie sich nicht so dumm. Zu Fräulein Terhoven. Sie müssen doch zugeben, daß sie in den drei Wochen, die Sie sie nicht gesehen haben, ein ganz anderer Mensch geworden ist. Voller Erfolg!«
»So was nennen Sie Erfolg?«
»Was denn sonst? Sie kehrt ins Leben zurück, alles ist in Ordnung, die Zeit vorher ist versunken wie ein böser Traum, sie ist wieder ein Mensch geworden, was wollen Sie mehr? Sie haben sie ja gesehen. Nun?«
»Ja«, sage ich. »Nun?«
Eine Schwester mit einem roten Bauerngesicht bringt eine Flasche Wein und Gläser. »Haben wir auch noch die Freude, Seine Hochwürden, Herrn Vikar Bodendiek zu sehen?« frage ich. »Ich weiß nicht, ob Fräulein Terhoven katholisch getauft ist, nehme es aber an, da sie aus dem Elsaß kommt, da wird Seine Hochwürden doch auch voller Jubel sein, daß Sie ein Schäflein für seine Herde zurückgefischt haben aus dem großen Chaos!«
Wernicke feixt. »Seine Hochwürden haben bereits ihrer Befriedigung Ausdruck gegeben. Fräulein Terhoven besucht seit einer Woche täglich die heilige Messe.«
Isabelle! denke ich. Sie wußte einmal, daß Gott immer noch am Kreuze hing und daß nicht nur die Ungläubigen ihn marterten. Sie kannte und verachtete auch die satten Gläubigen, die aus seinem Leiden eine fette Sinekure machten. »Hat sie auch schon gebeichtet?« frage ich.
»Das weiß ich nicht. Es ist möglich. Muß eigentlich jemand das, was er getan hat, während er geisteskrank war, beichten? Es wäre eine interessante Frage für mich unaufgeklärten Protestanten.«
»Es kommt darauf an, was man unter Geisteskrankheiten versteht«, sage ich bitter und schaue zu, wie der Seeleninstallateur ein Glas Schloß Reinhardtshauser heruntergießt. »Wir haben da zweifellos verschiedene Auffassungen. Im übrigen: Wie kann man beichten, was man vergessen hat? Denn vergessen hat Fräulein Terhoven ja wohl manches plötzlich.«
Wernicke schenkt sich und mir ein Glas ein. »Trinken wir den, bevor Hochwürden erscheint. Weihrauchduft mag heilig sein, aber er verdirbt die Blume eines solchen Weines.« Er nimmt einen Schluck, rollt die Augen und sagt:»Plötzlich vergessen? War es so plötzlich? Es kündigte sich doch schon länger an.«
Er hat recht. Ich habe es auch schon früher gemerkt. Es waren manchmal Augenblicke da, wo Isabelle mich nicht zu erkennen schien. Ich erinnere mich an das letzte Mal und trinke wütend den Wein aus. Er schmeckt mir heute nicht.
»Das ist wie ein unterirdisches Beben«, erklärt der erfolgstrotzende Wernicke. »Ein Seebeben. Inseln, sogar Kontinente, die vorher da waren, verschwinden, und andere tauchen wieder auf.«
»Und wie ist es mit einem zweiten Seebeben? Geht es dann umgekehrt?«
»Es kann auch das vorkommen. Aber das sind dann fast immer andere Fälle; solche, die mit zunehmender Verblödung Hand in Hand gehen. Sie haben ja die Beispiele davon hier gesehen. Wünschen Sie das für Fräulein Terhoven?«
»Ich wünsche ihr das Beste«, sage ich.
»Na, also!«
Wernicke schenkt den Rest des Weines ein. Ich denke an die trostlosen Kranken, die in den Ecken herumstehen und -liegen, denen der Speichel aus dem Munde läuft und die sich beschmutzen. »Natürlich wünsche ich ihr, daß sie nie wieder krank wird«, sage ich.
»Es ist nicht anzunehmen. Wir hatten bei ihr einen der Fälle vor uns, die geheilt werden können, wenn die Ursachen beseitigt worden sind. Alles ging sehr gut. Mutter und Tochter haben das Gefühl, das manchmal durch den Tod in solchen Situationen entsteht: in einer fernen Weise betrogen worden zu sein, und so sind beide wie verwaist und dadurch enger zusammen als je vorher.«
Ich starre Wernicke an. So poetisch habe ich ihn noch nie gehört. Er meint es auch nicht ganz ernst. »Sie haben heute mittag Gelegenheit, sich davon zu überzeugen«, erklärt er. »Mutter und Tochter kommen zu Tisch.«
Ich will weggehen; aber etwas zwingt mich, zu bleiben. Wenn der Mensch sich selbst quälen kann, versäumt er so leicht keine Gelegenheit dazu. Bodendiek erscheint und ist überraschend menschlich. Dann kommen Mutter und Tochter, und es beginnt ein plattes, zivilisiertes Gespräch. Die Mutter ist etwa fünfundvierzig Jahre alt, etwas voll, belanglos hübsch und angefüllt mit leichten, runden Phrasen, die sie mühelos verteilt. Sie weiß auf alles sofort eine Antwort, ohne nachzudenken.
Ich betrachte Geneviève. Manchmal, ganz kurz, glaube ich in ihren Zügen wie eine Ertrinkende das geliebte, wilde und verstörte andere Gesicht auftauchen zu sehen; aber es verschwimmt gleich wieder im Plätschern des Gespräches über die moderne Anlage des Sanatoriums, beide Damen gebrauchen kein anderes Wort, die hübsche Aussicht, die alte Stadt, verschiedene Onkel und Tanten in Straßburg und in Holland, über die schwere Zeit, die Notwendigkeit, zu glauben, die Qualität der Lothringer Weine und das schöne Elsaß. Nicht ein Wort von dem, was mich einst so bestürzt und erregt hat. Es ist versunken, als wäre es nie dagewesen.
Ich verabschiede mich bald. »Leben Sie wohl, Fräulein Terhoven«, sage ich. »Wie ich höre, reisen Sie diese Woche.«
Sie nickt. »Kommen Sie heute abend nicht noch einmal?« fragt Wernicke mich.
»Ja, zur Abendandacht.«
»Dann kommen Sie doch auf einen kleinen Trunk herüber zu mir. Nicht wahr, meine Damen?«
»Gerne«, erwidert Isabelles Mutter. »Wir gehen ohnehin zur Abendandacht.«
Der Abend ist noch schlimmer als der Mittag. Das weiche Licht trügt. Ich habe in der Kapelle Isabelle gesehen. Der Schein der Kerzen wehte über ihr Haar. Sie bewegte sich kaum. Die Gesichter der Kranken kamen beim Klang der Orgel herum wie helle, flache Monde. Isabelle betete; sie war gesund.
Nachher wird es nicht besser. Es gelingt mir, Geneviève am Ausgang der Kapelle zu treffen und mit ihr ein Stück allein vorauszugehen. Wir kommen durch die Allee. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Geneviève zieht ihren Mantel um sich.
»Wie kalt es abends schon ist.«
»Ja. Fahren Sie diese Woche ab?«
»Ich möchte schon. Ich war lange nicht zu Hause.«
»Freuen Sie sich?«-»Gewiß.«
Es ist nichts mehr zu sagen. Aber ich kann mir nicht helfen, der Schritt ist derselbe, das Gesicht im Dunkel, die weiche Ahnung. »Isabelle«, sage ich, bevor wir aus der Allee treten.
»Wie, bitte?« fragt sie erstaunt.
»Ach«, sage ich. »Es war nur ein Name.«
Sie verhält einen Augenblick den Schritt. »Sie müssen sich irren«, erwidert sie dann. »Mein Vorname ist Geneviève.«
»Ja, natürlich. Isabelle war nur der Name für jemand anderen. Wir haben manchmal darüber gesprochen.«
»So? Vielleicht. Man spricht über so vieles«, erklärt sie entschuldigend. »Da vergißt man dies und jenes.«
»O ja.«
»War es jemand, den Sie kannten?«
»Ja, so ungefähr.«
Sie lacht leise. »Wie romantisch. Verzeihen Sie, daß ich mich nicht gleich erinnerte. Jetzt fällt es mir ein.«
Ich starre sie an. Sie erinnert sich an nichts, ich sehe es. Sie lügt, um nicht unhöflich zu sein. »Es ist so viel in den letzten Wochen vorgefallen«, sagt sie leicht und etwas überlegen. »Da geht einem alles ein wenig durcheinander.« Und dann, um die Unhöflichkeit wieder gutzumachen, fragt sie:»Wie ist es denn weiter geworden in der letzten Zeit?«
»Was?«
»Das, was Sie von Isabelle erzählt haben.«
»Oh, das! Nichts weiter! Sie ist gestorben.«
Sie bleibt erschreckt stehen. »Gestorben? Wie leid mir das tut! Verzeihen Sie, ich wußte nicht…«
»Das macht nichts. Ich kannte sie auch nur flüchtig.«
»Plötzlich gestorben?«
»Ja«, erwidere ich. »Aber so, daß sie es gar nicht gemerkt hat. Das ist ja auch etwas wert.«
»Natürlich«, sie reicht mir die Hand. »Es tut mir aufrichtig leid.«
Ihre Hand ist fest und schmal und kühl. Sie fiebert nicht mehr. Es ist die Hand einer jungen Dame, die einen kleinen Fauxpas gemacht und wieder geordnet hat. »Ein schöner Name, Isabelle«, sagt sie. »Ich habe meinen eigenen Namen früher immer gehaßt.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Nein«, erwidert Geneviève freundlich.
Sie bleibt es auch weiter. Es ist die fatale Höflichkeit, die man für Leute in einer kleineren Stadt hat, die man vorübergehend trifft und bald wieder vergessen wird. Ich spüre auf einmal, daß ich einen schlecht sitzenden, umgearbeiteten Militäranzug trage, den der Schneider Sulzblick aus einer alten Uniform angefertigt hat. Geneviève dagegen ist sehr gut angezogen. Sie war es immer; aber es ist mir nie so sehr aufgefallen. Geneviève und ihre Mutter haben beschlossen, zuerst einmal nach Berlin zu fahren für einige Wochen. Die Mutter ist ganz verbindliche Herzlichkeit. »Die Theater! Und die Konzerte! Man lebt immer so auf, wenn man in eine wirkliche Großstadt kommt. Und die Geschäfte! Die neuen Moden!«
Sie tätschelt Genevièves Hand. »Wir werden uns da einmal gründlich verwöhnen, wie?«
Geneviève nickt. Wernicke strahlt. Sie haben sie zur Strecke gebracht. Aber was ist es, das sie zur Strecke gebracht haben? denke ich. Ist es vielleicht in jedem von uns, verschüttet, verborgen, und was ist es wirklich? Ist es dann nicht auch in mir? Und ist es da auch schon zur Strecke gebracht worden, oder war es nie frei? Ist es da, ist es etwas, das vor mir da war, das nach mir da sein wird, etwas, das wichtiger ist als ich? Oder ist alles nur ein bißchen tiefgründig scheinendes Durcheinander, eine Verschiebung der Sinne, eine Täuschung, Unsinn, der wie Tiefsinn aussieht, wie Wernicke behauptet? Aber warum habe ich es dann geliebt, warum hat es mich angesprungen wie ein Leopard einen Ochsen, warum kann ich es nicht vergessen? War es nicht trotz Wernicke, als ob in einem geschlossenen Raum eine Tür geöffnet worden wäre, und man hätte Regen und Blitze und Sterne gesehen?
Ich stehe auf. »Was ist los mit Ihnen?« fragt Wernicke. »Sie sind ja unruhig wie -« Er hält ein und fährt dann fort:»Wie der Dollarkurs.«
»Ach der Dollar«, sagt Genevièves Mutter und seufzt.
»Ein Unglück! Zum Glück hat Onkel Gaston -«
Ich höre nicht mehr, was Onkel Gaston getan hat. Ich bin plötzlich draußen und weiß nur noch, daß ich zu Isabelle gesagt habe:»Danke, für alles«, und sie verwundert gefragt hat:»Aber wofür nur?«
Ich gehe langsam den Hügel hinunter. Gute Nacht, du süßes, wildes Herz, denke ich. Leb wohl, Isabelle! Du bist nicht ertrunken, ich weiß das plötzlich. Du bist nicht untergegangen und nicht gestorben! Du hast dich nur zurückgezogen, du bist fortgeflogen, und nicht einmal das: du bist plötzlich unsichtbar geworden wie die alten Götter, eine Wellenlänge hat sich geändert, du bist noch da, aber du bist nicht mehr zu fassen, du bist immer da, und du wirst nie untergehen, alles ist immer da, nichts geht jemals unter, Licht und Schatten nur ziehen darüber hin, es ist immer da, das Antlitz vor der Geburt und nach dem Tode, und manchmal scheint es durch in dem, was wir für Leben halten, und blendet uns eine Sekunde, und wir sind nie ganz dieselben danach!
Ich merke, daß ich rascher gehe. Ich atme tief, und dann laufe ich. Ich bin naß von Schweiß, mein Rücken ist naß, ich komme zum Tor und gehe wieder zurück, ich habe immer noch das Gefühl, es ist wie eine mächtige Befreiung, alle Achsen laufen plötzlich durch mein Herz, Geburt und Tod sind nur Worte, die wilden Gänse über mir fliegen seit dem Beginn der Welt, es gibt keine Fragen und keine Antworten mehr! Leb wohl, Isabelle! Sei gegrüßt, Isabelle! Leb wohl, Leben! Sei gegrüßt, Leben!
Viel später merke ich, daß es regnet. Ich hebe mein Gesicht gegen die Tropfen und schmecke sie. Dann gehe ich zum Tor. Nach Wein und Weihrauch duftend wartet dort eine große Gestalt.
Wir gehen zusammen durchs Tor. Der Wärter schließt es hinter uns. »Nun?« fragt Bodendiek. »Wo kommen Sie her? Haben Sie Gott gesucht?«
»Nein. Ich habe ihn gefunden.«
Er blinzelt argwöhnisch unter seinem Schlapphut hervor.
»Wo? In der Natur?«
»Ich weiß nicht einmal, wo. Ist er an bestimmten Plätzen zu finden?«
»Am Altar«, brummt Bodendiek und deutet nach rechts. »Ich gehe diesen Weg. Und Sie?«
»Jeden«, erwidere ich. »Jeden, Herr Vikar.«
»So viel haben Sie doch gar nicht getrunken«, knurrt er etwas überrascht hinter mir her.
Ich komme nach Hause. Hinter der Tür springt jemand auf mich los. »Habe ich dich endlich, du Schweinehund?«
Ich schüttle ihn ab und glaube an irgendeinen Witz. Aber er ist im Augenblick wieder hoch und rennt mir den Kopf gegen den Magen. Ich falle gegen den Obelisken, kann dem Angreifer aber gerade noch einen Tritt in den Bauch geben. Der Tritt ist nicht kräftig genug, da ich schon im Fallen bin. Der Mann stürzt sich wieder auf mich, und ich erkenne den Pferdeschlächter Watzek.
»Sie sind verrückt geworden?« frage ich. »Sehen Sie nicht, wen Sie anfallen?«
»Ich sehe es schon!« Watzek packt mich an der Kehle. »Ich sehe dich Aas schon! Aber mit dir ist jetzt Schluß.«
Ich weiß nicht, ob er besoffen ist. Ich habe auch keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Watzek ist kleiner als ich, aber er hat Muskeln wie ein Bulle. Es gelingt mir, mich nach rückwärts zu überschlagen und ihn gegen den Obelisken zu drücken. Er läßt halb los, ich werfe mich mit ihm zur Seite und schlage seinen Kopf dabei gegen den Sockel des Obelisken. Watzek läßt ganz los. Ich gebe ihm zur Sicherheit noch einen Stoß mit der Schulter unter das Kinn, stehe auf, gehe zum Tor und mache Licht. »Und was soll das alles?« sage ich.
Watzek erhebt sich langsam. Er ist noch etwas betäubt und schüttelt den Kopf. Ich beobachte ihn. Plötzlich rennt er wieder mit dem Kopf voran auf meinen Magen los. Ich trete zur Seite, stelle ihm ein Bein, und er schlägt mit einem dumpfen Aufschlag aufs neue gegen den Obelisken, diesmal gegen den polierten Zwischensockel. Jeder andere wäre bewußtlos gewesen; Watzek taumelt kaum. Er dreht sich um und hat ein Messer in der Hand. Es ist ein langes scharfes Schlachtermesser, das sehe ich im elektrischen Licht. Er hat es aus dem Stiefel gezogen und rennt auf mich los. Ich versuche keine unnötigen Heldentaten; gegen einen Mann, der mit einem Messer umzugehen weiß wie ein Pferdeschlächter, wäre das Selbstmord. Ich springe hinter den Obelisken; Watzek mir nach. Zum Glück bin ich schneller und behender als er.
»Sind Sie verrückt?« zische ich. »Wollen Sie für Mord gehängt werden?«
»Ich werde dir beibringen, mit meiner Frau zu schlafen!« keucht Watzek. »Blut muß fließen!«
Jetzt weiß ich endlich, was los ist. »Watzek!« rufe ich. »Sie begehen einen Justizmord!«
»Scheiße! Die Gurgel werde ich dir durchschneiden!«
Wir sausen um den Obelisken herum. Mir kommt nicht der Gedanke, um Hilfe zu rufen; es geht alles zu schnell; wer kann mir da schon wirklich helfen?»Sie sind belogen worden!« rufe ich unterdrückt. »Was geht mich Ihre Frau an?«
»Du schläfst mit ihr, du Satan!«
Wir rennen weiter, einmal rechts, einmal links herum. Watzek, in seinen Stiefeln, ist schwerfälliger als ich. Verdammt! denke ich. Wo ist Georg? Ich werde hier für ihn geschlachtet, und er hockt mit Lisa in seiner Bude. »Fragen Sie doch Ihre Frau, Sie Idiot!« keuche ich.
»Hinschlachten werde ich dich!«
Ich sehe mich nach einer Waffe um. Nichts ist da. Bevor ich einen kleinen Hügelstein anheben könnte, hätte Watzek mir längst die Kehle durchgeschnitten. Plötzlich sehe ich ein Stück Marmor, etwa faustgroß, auf der Fensterbank schimmern. Ich reiße es an mich, tanze um den Obelisken und werfe es Watzek an den Schädel. Es trifft ihn links. Er blutet sofort über dem Auge und kann nur noch mit einem Auge sehen. »Watzek! Sie irren sich!« rufe ich. »Ich habe nichts mit Ihrer Frau! Ich schwöre es Ihnen!«
Watzek ist jetzt langsamer; aber er ist immer noch gefährlich. »Und das einem Kameraden!« faucht er. »So eine Gemeinheit!«
Er macht einen Ausfall wie ein Miniaturbulle. Ich springe beiseite, erwische das Stück Marmor wieder und werfe es zum zweitenmal nach ihm. Leider verfehlt es ihn und landet in einem Fliederbusch. »Ihre Frau ist mir scheißegal!« zische ich. »Verstehen Sie das, Mensch! Scheißegal!«
Watzek rennt stumm weiter. Er blutet jetzt links stark, und ich laufe deshalb nach links. Er sieht mich so nicht so gut, und ich kann ihm in einem gefährlichen Augenblick einen schönen Fußtritt gegen das Knie geben. Er sticht im selben Moment zu, aber streift nur meine Sohle. Der Fußtritt hilft. Watzek steht still, blutend, das Messer bereit. »Hören Sie zu!« sage ich. »Bleiben Sie da stehen! Machen wir eine Minute Waffenstillstand! Sie können ja gleich wieder loslegen, dann werde ich Ihnen das andere Auge ausschlagen! Passen Sie auf, Mensch! Ruhe, Sie Kaffer!« Ich starre Watzek an, als wollte ich ihn hypnotisieren. »Ich – habe – mit – Ihrer Frau – nichts«, skandiere ich scharf und langsam. »Sie interessiert mich nicht! Halt!« zische ich, als Watzek eine Bewegung macht. »Ich habe selbst eine Frau -«
»Um so schlimmer, du Bock!«
Watzek stürmt los, stößt sich aber am Sockel des Obelisken, da er die Kurve zu eng nimmt, taumelt, und ich gebe ihm wieder einen Fußtritt, diesmal gegen das Schienbein. Er trägt zwar Stiefel, aber auch dieser Tritt wirkt. Watzek steht wieder still, die Beine breit auseinander, leider immer noch mit dem Messer in der Hand. »Hören Sie zu, Sie Esel!« sage ich mit eindringlicher Hypnotiseurstimme. »Ich bin verliebt in eine ganz andere Frau! Warten Sie! Ich zeige sie Ihnen! Ich habe ein Foto hier!«
Watzek macht einen schweigenden Ausfall. Wir umkreisen den Obelisken in einer halben Runde. Ich kann meine Brieftasche herausholen. Gerda hat mir zum Abschied ein Bild von sich gegeben. Rasch fühle ich danach. Ein paar Milliarden Mark flattern bunt zu Boden; dann habe ich das Foto. »Hier!« sage ich und strecke es ihm an dem Obelisken vorbei vorsichtig so weit entgegen, daß er mir nicht in die Hand hacken kann. »Ist das Ihre Frau? Sehen Sie sich das an! Lesen Sie die Unterschrift!«
Watzek schielt mich mit dem gesunden Auge an. Ich lege das Bild Gerdas auf den Sockel des Obelisken.» So, da haben Sie es! Ist das Ihre Frau?«
Watzek macht einen trübseligen Versuch, mich zu erwischen. »Sie Kamel!« sage ich. »Sehen Sie sich doch das Foto an! Wer so jemand hat, soll hinter Ihrer Frau herlaufen?«
Ich bin fast zu weit gegangen. Watzek macht einen lebhaften Beleidigungsausfall. Dann steht er still. »Einer schläft mit ihr!« erklärt er unentschlossen.
»Unsinn!« sage ich. »Ihre Frau ist Ihnen treu!«
»Was tut sie dann dauernd hier?«
»Wo?«
»Hier!«
»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen«, sage ich. »Sie mag ein paarmal telefoniert haben, das kann sein. Frauen telefonieren gern, besonders, wenn sie viel allein sind. Kaufen Sie ihr doch ein Telefon!«
»Sie ist auch nachts hier!« sagt Watzek.
Wir stehen uns immer noch gegenüber, den Obelisken zwischen uns. »Sie war neulich nachts ein paar Minuten hier, als man den Feldwebel Knopf schwerkrank nach Hause brachte«, erwidere ich. »Sonst arbeitet sie doch nachts in der Roten Mühle.«
»Das sagte sie, aber -«
Das Messer hängt herab. Ich nehme das Foto Gerdas auf und trete um den Obelisken zu Watzek heran. »So«, sage ich. »Jetzt können Sie auf mich losstechen, soviel Sie wollen. Wir können aber auch miteinander reden. Was wollen Sie? Einen Unbeteiligten erstechen?«
»Das nicht«, erwidert Watzek nach einer Pause. »Aber -«
Es stellt sich heraus, daß die Witwe Konersmann ihn aufgeklärt hat. Es schmeichelt mir leicht, daß sie geglaubt hat, nur ich könne im ganzen Hause der Verbrecher sein. »Mann«, sage ich zu Watzek. »Wenn Sie wüßten, wonach mir der Kopf steht! Sie würden mich nicht verdächtigen. Und übrigens, vergleichen Sie einmal die Figur. Fällt Ihnen was auf?«
Watzek glotzt auf das Foto von Gerda, auf dem steht:
»Für Ludwig in Liebe von Gerda.« Was soll ihm mit seinem einen Auge schon auffallen?»Ähnlich der Ihrer Frau«, sage ich. »Gleiche Größe. Übrigens, hat Ihre Frau vielleicht einen rostroten weiten Mantel, ungefähr wie ein Cape?«
»Klar«, erwidert Watzek, wieder gefährlich. »Hat sie. Wieso?«
»Diese Dame hat auch einen. Man kann sie in allen Größen bei Max Klein an der Großen Straße kaufen. Sind gerade jetzt Mode. Na, und die alte Konersmann ist ja halb blind, da haben wir die Lösung.«
Die alte Konersmann hat Sinne wie ein Habicht; aber was glaubt ein Hahnrei nicht alles, wenn er es glauben will. »Sie hat sie verwechselt«, sage ich. »Diese Dame hier ist nämlich ein paarmal gekommen, um mich zu besuchen. Und dazu hat sie ja wohl noch das Recht, oder nicht?«
Ich mache es Watzek leicht. Er braucht nur ja oder nein zu antworten. Diesmal braucht er sogar nur zu nicken.
»Gut«, sage ich. »Und deshalb wird man nachts fast erstochen.«
Watzek läßt sich mühsam auf die Treppenstufen nieder.
»Kamerad, du hast mir auch schwer zugesetzt. Sieh mich an.«
»Das Auge ist noch da.«
Watzek betastet das trocknende schwarze Blut. »Sie werden bald im Zuchthaus sitzen, wenn Sie so weitermachen«, sage ich.
»Was soll ich tun? Es ist meine Natur.«
»Erstechen Sie sich selbst, wenn Sie schon erstechen müssen. Das erspart Ihnen eine Menge Unannehmlichkeiten.«
»Manchmal möchte man das schon! Kamerad, was soll ich machen? Ich bin verrückt nach der Frau. Und sie kann mich nicht ausstehen.«
Ich fühle mich plötzlich gerührt und müde und lasse mich neben Watzek auf der Treppe nieder. »Es ist der Beruf«, sagt er verzweifelt. »Sie haßt den Geruch, Kamerad. Aber man riecht doch nach Blut, wenn man dauernd Pferde schlachtet.«
»Haben Sie keinen zweiten Anzug? Einen, den Sie anziehen können, wenn Sie vom Schlachthof weggehen?«
»Das geht schlecht. Die anderen Schlächter würden denken, ich wolle besser sein als sie. Der Geruch geht auch durch.
»Wie ist es mit Baden?«
»Baden?« fragt Watzek. »Wo? Im Städtischen Hallenbad? Das ist doch geschlossen, wenn ich um sechs Uhr früh vom Schlachthof komme.«
»Gibt es keine Duschen auf dem Schlachthof?«
Watzek schüttelt den Kopf. »Nur Schläuche, um den Boden abzuspülen. Um darunter zu gehen, ist es jetzt schon zu herbstlich.«
Ich sehe das ein. Eiskaltes Wasser im November ist kein Vergnügen. Wenn Watzek Karl Brill wäre, hätte er allerdings da keine Sorgen. Karl ist der Mann, der im Winter das Eis des Flusses aufhackt und mit seinem Klub darin schwimmt. »Wie ist es mit Toilettenwasser?« frage ich.
»Das kann ich nicht versuchen. Die anderen würden mich für einen schwulen Bruder halten. Sie kennen die Leute vom Schlachthof nicht!«
»Wie wäre es, wenn Sie Ihren Beruf änderten?«
»Ich kann nichts anderes«, sagt Watzek trübe.
»Pferdehändler«, schlage ich vor. »Das ist so ähnlich.«
Watzek winkt ab. Wir sitzen eine Weile. Was geht mich das an? denke ich. Und wie kann man ihm schon helfen? Lisa liebt die Rote Mühle. Es ist nicht sosehr Georg; es ist der Drang über ihren Pferdeschlächter hinaus. »Sie müssen ein Kavalier werden«, sage ich schließlich. »Verdienen Sie gut?«
»Nicht schlecht.«
»Dann haben Sie Chancen. Alle zwei Tage ins Stadtbad, und einen neuen Anzug, den Sie nur zu Hause anziehen. Ein paar Hemden, eine oder zwei Krawatten, können Sie das schaffen?«
Watzek grübelt darüber nach. »Sie meinen, das könnte helfen?«
Ich denke an meinen Abend unter den prüfenden Augen von Frau Terhoven. »Man fühlt sich besser in einem neuen Anzug«, erwidere ich. »Ich habe das selbst erfahren.«
»Tatsächlich?«
»Tatsächlich.«
Watzek sieht mit Interesse auf. »Aber Sie sind doch tadellos in Schale.«
»Das kommt darauf an. Für Sie. Für andere Leute nicht. Ich habe das gemerkt.«
»Wirklich? Kürzlich?«
»Heute«, sage ich.
Watzek reißt das Maul auf. »So was! Da sind wir ja fast wie Brüder. Da staunt man!«
»Ich habe mal irgendwo gelesen, alle Menschen wären Brüder. Da staunt man noch mehr, wenn man sich die Welt ansieht.«
»Und wir hätten uns fast erschlagen«, sagt Watzek glücklich.
»Das tun Brüder häufig.«
Watzek erhebt sich. »Ich gehe morgen baden.« Er tastet nach dem linken Auge. »Eigentlich wollte ich mir ja eine SA-Uniform bestellen. Die sind gerade herausgekommen in München.«
»Ein flotter, zweireihiger, dunkelgrauer Anzug ist besser. Ihre Uniform hat keine Zukunft.«
»Vielen Dank«, sagt Watzek. »Aber vielleicht schaffe ich beides. Und nimm’s nicht übel, Kamerad, daß ich dich abstechen wollte. Morgen schicke ich dir dafür auch eine schöne Portion erstklassiger Pferdewurst.«