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In jedem Club gibt es ein Mitglied, das allen anderen auf die Nerven geht. Der Coronation Club bildete da keine Ausnahme, und dass gerade ein Luftangriff im Gange war, änderte nichts an der Tatsache.

Major Porter, ehemaliger Offizier der Indischen Armee, raschelte mit seiner Zeitung und räusperte sich, Aufmerksamkeit heischend. Die Anwesenden hüteten sich ängstlich, seinem Blick zu begegnen, aber die Maßnahme erwies sich als zwecklos.

»Die Times bringt eine Anzeige zum Tod von Gordon Cloade, sehe ich eben«, hub der Major an. »Sehr diskret aufgemacht, selbstverständlich. ›Am 5. Oktober starb infolge einer feindlichen Aktion‹ und so weiter. Keine nähere Bezeichnung des Schauplatzes. Zufällig ereignete sich die Geschichte unweit meines eigenen Hauses. In einem dieser großen Häuser oben auf Campden Hill. Ehrlich gesagt, die Sache ging mir ziemlich nahe. Ich bin dem Luftschutz zugeteilt, verstehen Sie. Cloade war gerade aus den Staaten zurückgekommen, hatte drüben im Auftrag der Regierung Einkäufe tätigen müssen und während dieser Zeit geheiratet. Eine junge Witwe, jung genug, um seine Tochter sein zu können. Eine gewisse Mrs Underhay. Zufälligerweise kannte ich ihren ersten Mann von Nigeria her.«

Major Porter schaltete eine Pause ein. Niemand legte Interesse an den Tag oder bat ihn sogar, in seiner Erzählung fortzufahren. Im Gegenteil, die Köpfe versteckten sich hinter krampfhaft hochgehaltenen Zeitungen. Doch hätte es drastischerer Mittel bedurft, um Major Porter zu entmutigen. Er liebte es, weitschweifige Geschichten zu erzählen von Leuten, die niemand kannte.

»Interessant«, murmelte er unverdrossen vor sich hin, den Blick geistesabwesend auf ein Paar auffallend spitzer Lackschuhe gerichtet – eine Art Fußbekleidung, die er zutiefst verabscheute. »Interessant, wie das Haus getroffen wurde. Der Einschlag drückte das Untergeschoss ein und fegte das Dach buchstäblich weg; das erste Stockwerk blieb so gut wie unberührt. Sechs Leute befanden sich im Haus. Drei Dienstboten – ein Ehepaar und ein Mädchen – und Gordon Cloade, seine Frau und deren Bruder. Dieser Bruder war der einzige, der mit ein paar Schrammen davonkam. Die anderen hielten sich alle im Untergeschoss auf, er war gerade in seinem Zimmer im ersten Stock. Die Dienstboten waren auf der Stelle tot. Gordon Cloade wurde aus dem Schutt gegraben. Er lebte noch, starb aber auf dem Transport ins Krankenhaus. Seine Frau erlitt schwere Verletzungen. Die Explosion hatte ihr die Kleider vom Leib gerissen. Man hofft aber, sie retten zu können. Sie wird eine reiche Witwe sein. Gordon Cloade war sicher eine Million schwer.«

Abermals schaltete der Major eine Pause ein. Sein Blick wanderte von den spitzen Lackschuhen empor über ein Paar gestreifte Hosen und eine schwarze Jacke zu einem eiförmigen Kopf mit imposantem Schnurrbart. Ein Ausländer – natürlich! Das erklärte auch die Schuhe. Schrecklich! schoss es dem Major durch den Kopf. Nicht einmal mehr hier im Club ist man vor diesen Ausländern sicher.

Die Tatsache, dass der missbilligend betrachtete Ausländer als einziger der Erzählung des alten Offiziers ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, erschütterte Porters Abneigung in keiner Weise.

»Fünfundzwanzig Jahre alt wird sie sein, kaum mehr«, fuhr er in seinem unerwünschten Bericht fort. »Und zum zweiten Mal Witwe, zumindest glaubt sie das.«

In der Hoffnung, mit dieser letzten Bemerkung Neugierde erweckt zu haben, hielt er inne. Als auch dieses Mal keinerlei Reaktion erfolgte, redete er unerbittlich weiter.

»Ich habe da so meine eigenen Ideen in dieser Sache. Ich kannte zufällig ihren ersten Mann, wie ich schon sagte; Underhay. Ein netter Bursche, war Distriktskommissar in Nigeria zu jener Zeit. Sehr pflichtbewusster Mensch, ausgezeichneter Beamter. Das Mädchen heiratete er damals in Kapstadt, wo sie mit einer Theatertruppe auftauchte. Es ging ihr nicht besonders, hatte Pech gehabt, fühlte sich einsam und verlassen, na… und ein hübsches Ding war sie. Sie hörte dem guten Underhay zu, wie er von seinem Distrikt und der wunderbaren Natur schwärmte, und flüsterte selig: ›Ach, wie herrlich!‹ und ›Wie gern würde ich in solcher Weltabgeschiedenheit leben‹, und der Schluss von der Geschichte war, dass sie ihn heiratete und mit ihm in die viel gepriesene Weltabgeschiedenheit zog. Aber aus der Nähe besehen war die Abgeschiedenheit nicht mehr so erfreulich. Er war bis über beide Ohren in sie verliebt, der arme Kerl. Sie hasste den Urwald, hatte Angst vor den Eingeborenen und langweilte sich zu Tode. Sie wollte ins Theater gehen können, mit Leuten schwatzen und abgelenkt sein. Solitude à deux im Urwald entsprach eben doch nicht so ganz ihrem Geschmack. Ich habe sie nie kennen gelernt, das alles weiß ich nur von dem armen Kerl, dem Underhay. Es machte ihm schwer zu schaffen, aber er benahm sich grundanständig. Er schickte sie heim und willigte in die Trennung ein. Kurz danach traf ich ihn. Er war völlig am Ende mit seinen Nerven und in der Verfassung, in der ein Mann seinem Herzen Luft machen muss. Er war ein komischer Kauz, ein altmodischer Geselle, römisch-katholisch und prinzipiell gegen Scheidung. ›Es gibt noch andere Möglichkeiten, einer Frau ihre Freiheit zurückzugeben‹, sagte er mir damals. Machen Sie keine Dummheiten, mein Lieben, versuchte ich ihm gut zuzureden. ›Keine Frau der Welt ist’s wert, dass man sich ihretwegen eine Kugel durch den Kopf jagt.‹

Das wäre auch gar nicht seine Absicht, meinte er. Aber er stünde ganz allein da, hätte keine Verwandten, die sich seinetwegen Sorgen machen könnten. Wenn ein Rapport seinen Tod melde, sei Rosaleen Witwe, und das sei alles, was sie sich wünsche. ›Und was soll aus Ihnen werden?‹, fragte ich ihn unverblümt. ›Wer weiß‹, erwiderte er. ›Vielleicht taucht irgendwo tausend Meilen von hier ein Mr Enoch Arden auf und beginnt ein neues Leben.‹ – ›Das kann aber eines Tages für Rosaleen unangenehme Folgen haben‹, wandte ich ein. ›Keine Spur. Ich würde die Sache durchziehen. Underhay wäre ein für alle Mal tot‹, gab er darauf zurück.

Ich vergaß die Geschichte wieder, bis ich so ungefähr sechs Monate darauf hörte, Underhay sei irgendwo im Urwald am Fieber gestorben. Die Eingeborenen, die bei ihm gewesen waren – alles vertrauenswürdige Burschen –, kamen mit einer bis in alle Einzelheiten glaubwürdig klingenden Geschichte zur nächsten Siedlung. Sie brachten sogar einen Wisch mit – ein paar von Underhay hingekritzelte Zeilen –, der besagte, dass es mit ihm zu Ende gehe und seine Leute für ihn getan hätten, was sie nur hätten tun können. Einen Eingeborenen, der seine rechte Hand und ihm ganz besonders ergeben gewesen war, pries er in den höchsten Tönen. Dieser Mann hing an Underhay, und die anderen gehorchten diesem Burschen bedingungslos. Sie hätten bestimmt beschworen, was er sie zu beschwören hieß. So steht die Sache… Möglich, dass Underhay irgendwo in Afrika begraben liegt, ebenso gut möglich aber auch, dass dem nicht so ist, und wenn’s so wäre, könnte es passieren, dass Mrs Gordon Cloade eines Tages eine böse Überraschung erlebt. Ehrlich gestanden, geschähe ihr da gar nicht so unrecht. Ich hab zwar nie das Vergnügen gehabt, die Dame persönlich kennen zu lernen, aber ich hab eine gute Witterung für diese Art Glücksritter.«

Major Porter sah sich abermals Anerkennung heischend um, aber er begegnete nur dem gelangweilten und etwas glasigen Blick des jungen Mr Mellow und der unverändert höflichen Aufmerksamkeit Monsieur Hercule Poirots.

In diesem Augenblick raschelte eine Zeitung; aus dem Sessel beim Kamin erhob sich ein grauhaariger Herr mit betont ausdruckslosem Gesicht und verließ den Raum.

Der Major starrte dem Verschwundenen entsetzt nach, und der junge Mellow stieß einen leisen Pfiff aus.

»Schöne Geschichte haben Sie sich da geleistet«, meinte er schadenfroh. »Wissen Sie, wer das war?«

»Gott im Himmel!«, stieß der Major hervor. »Natürlich weiß ich’s. Wir sind nicht gerade befreundet, aber wir kennen uns. Jeremy Cloade… Gordon Cloades Bruder! Sehr peinlich, wirklich sehr peinlich. Wenn ich nur eine Ahnung gehabt hätte…«

»Er ist Rechtsanwalt«, stellte der junge Mellow fest und fügte ohne große Anteilnahme hinzu: »Das trägt Ihnen aller Voraussicht nach eine Klage wegen Verleumdung, Kreditschädigung und übler Nachrede ein.«

»Sehr peinlich! Wirklich außerordentlich peinlich!«, war alles, was der Major darauf zu erwidern wusste.

»Heute Abend wird ganz Warmsley Heath im Bilde sein«, fuhr Mr Mellow junior ungerührt fort. »Das ist die Residenz der Cloadeschen Sippschaft. Vermutlich versammeln sie sich heute noch dort, um ein gemeinsames Vorgehen zu besprechen.«

Da in diesem Augenblick die Sirene das Ende des Alarms anzeigte, verzichtete Mr Mellow darauf, den armen Major weiter mit Andeutungen über etwaige Rachepläne der Familie Cloade zu ängstigen, und strebte mit seinem Freund Hercule Poirot dem Ausgang zu.

»Scheußliche Atmosphäre in diesen Clubs«, meinte er. »Und eine verrückte Mischung komischer Käuze trifft sich da. Dieser Porter ist der allgemeine Clubschrecken. Wenn er anfängt, den indischen Seiltrick zu schildern, dauert das endlos, und er kennt jeden, dessen Mutter, Großmutter oder Schwester sich’s jemals einfallen ließ, durch Poona zu reisen.«

Dies ereignete sich im Herbst 1944. Im Spätfrühling des Jahres 1946 empfing Hercule Poirot einen Besuch.

Hercule Poirot saß an einem heiteren Maimorgen vor seinem aufgeräumten Schreibtisch, als sein Diener George sich näherte und mit ehrerbietig leiser Stimme meldete:

»Eine Dame wünscht Sie zu sprechen, Sir.«

»Was für eine Art Dame?«, erkundigte sich Poirot, den die minuziösen Schilderungen Georges stets amüsierten.

»Sie dürfte zwischen vierzig und fünfzig sein, Sir, nicht sehr elegant, mit einem sozusagen künstlerischen Anflug in der Erscheinung. Derbe Halbschuhe, ein Tweedkostüm, aber eine Spitzenbluse. Um den Hals eine exotische, mehrreihige Kette und überdies einen pastellblauen Seidenschal.«

Poirot schüttelte sich leicht.

»Ich spüre kein großes Verlangen, diese Dame zu sehen«, erklärte er.

»Soll ich sagen, Sie fühlten sich nicht wohl?«, erkundigte sich George.

Poirot musterte seinen Diener nachdenklich.

»Sie haben ihr doch vermutlich bereits angedeutet, dass ich in eine äußerst wichtige Arbeit vertieft bin und keinesfalls gestört werden darf, wie ich Sie kenne, George.«

George hüstelte und verzichtete auf jede direkte Antwort.

»Sie käme extra vom Land herein, sagte sie, und es mache ihr nichts aus zu warten.«

Poirot seufzte.

»Gegen das Unvermeidliche zu kämpfen, ist sinnlos«, beschied er. »Wenn eine Dame fortgeschrittenen Alters und geschmückt mit exotischen Halsketten es sich in den Kopf gesetzt hat, den berühmten Hercule Poirot zu sprechen, und zu diesem Zweck extra eine Reise unternommen hat, wird nichts sie hindern können, ihr Vorhaben auszuführen. Sie wird in der Halle sitzen und sich nicht vom Fleck rühren. Also führen Sie sie lieber gleich herein.«

George zog sich zurück und kam gleich darauf wieder, um würdevoll zu verkünden:

»Mrs Cloade.«

Mit wehendem Schal, die Ketten bunter Perlen in klirrender Bewegung, fegte eine Gestalt in abgetragenem Tweedkostüm zur Tür herein, Hercule Poirot beide Hände entgegenstreckend.

»Monsieur Poirot, spiritistische Erleuchtung hat mir den Weg zu Ihnen gewiesen«, verkündete sie, ohne zu zögern.

Poirot blinzelte leicht irritiert.

»Vielleicht nehmen Sie erst einmal Platz, meine Verehrteste, und sagen mir – « Er kam nicht weiter.

»Durch automatisches Schreiben, Monsieur Poirot, und durch Klopfzeichen. Madame Elvary (Ach, was für eine wundervolle Person sie ist!) und ich, wir befragten gestern den Tisch. Und immer wieder kamen die gleichen Buchstaben. H. P. H. P. H. P. Natürlich begriff ich nicht sofort die Bedeutung. Das geht nicht so im Handumdrehen. Leider ist uns armen Wesen in diesem Erdental der wahre Durchblick nicht gegeben. Ich zerbrach mir den Kopf, was diese Initialen bedeuten könnten, auf wen in meinem Bekanntenkreis sie passten. Natürlich musste eine bestimmte Verbindung mit unserer letzten Sitzung vorhanden sein, ach, und was für eine wichtige und aufregende Sitzung das war! Ich kaufte mir die Picture Post, und da haben Sie wieder ein untrügliches Zeichen spiritistischer Eingebung, denn sonst kaufe ich immer den New Statesman, und kaum hatte ich die Zeitung aufgeschlagen, sah ich Ihr Bild! Ihr Bild und eine genaue Beschreibung Ihrer außerordentlichen Erfolge. Ist es nicht wunderbar, wie alles, alles in diesem Leben einen bestimmten Zweck verfolgt? Sind Sie nicht auch dieser Meinung? Ganz offensichtlich haben die Geister Sie dazu auserkoren, Licht in diese Angelegenheit zu bringen.«

Poirot beobachtete seinen seltsamen Besuch nachdenklich. Was sonderbarerweise seine Aufmerksamkeit am meisten fesselte, waren die schlauen Äuglein der Frau. Sie verliehen dem wirren Gerede einen beklemmenden Nachdruck.

»Darf ich fragen, Mrs Cloade – «, hub Poirot an und hielt dann stirnrunzelnd inne. »Mir ist, als hätte ich den Namen schon einmal gehört.«

Sie nickte lebhaft.

»Natürlich. Mein armer Schwager – Gordon. Wahnsinnig reich und sehr oft in den Zeitungen erwähnt. Er starb infolge eines Luftangriffs vor gut anderthalb Jahren. Es war ein schrecklicher Schlag für uns alle. Mein Mann ist ein jüngerer Bruder von Gordon. Er ist Arzt, Dr. Lionel Cloade…« Sie fuhr mit verhaltener Stimme fort. »Er hat natürlich keine Ahnung davon, dass ich Sie aufsuche. Er wäre sehr dagegen. Ärzte neigen im Allgemeinen zu einer mehr materialistischen Einstellung. Spiritismus scheint ihnen völlig wesensfremd zu sein. Sie vertrauen ihr Schicksal der Wissenschaft an. Aber was – frage ich – kann die Wissenschaft schon? Was ist die Wissenschaft überhaupt?«

Auf diese Frage schien es für Hercule Poirot keine andere Antwort zu geben, als Mrs Cloade einen ausführlichen Vortrag zu halten über das Leben und Wirken so großer Persönlichkeiten wie Pasteur, Lister, Koch, Edison und über die wohltuende Annehmlichkeit des elektrischen Lichts wie hundert anderer nicht minder Epoche machender Erfindungen. Doch das war selbstverständlich nicht die Antwort, die Mrs Lionel Cloade zu hören wünschte. Genau betrachtet erheischte ihre Frage, wie so viele Fragen, überhaupt keine Antwort. Sie war rein rhetorisch.

Hercule Poirot begnügte sich daher mit der nüchternen Erkundigung:

»Und in welcher Angelegenheit suchen Sie meine Hilfe, Mrs Cloade?«

»Glauben Sie an das Vorhandensein einer Geisterwelt, Monsieur Poirot?«

»Ich bin ein guter Katholik«, erwiderte Poirot ausweichend.

Mrs Cloade tat den katholischen Glauben mit einem nachsichtigen Lächeln ab.

»Blind!«, stellte sie fest. »Die Kirche ist blind, in Vorurteilen befangen und nicht imstande, die Schönheit jener Welt, die jenseits unseres Erdendaseins unser harrt, zu erkennen.«

»Um zwölf Uhr habe ich eine wichtige Besprechung«, bemerkte Hercule Poirot.

Mrs Cloade lehnte sich vor; sie hatte den Hinweis verstanden.

»Ich will zur Sache kommen. Wäre es Ihnen möglich, eine verschollene Person aufzuspüren, Monsieur Poirot?«

Poirots Brauen schoben sich in die Höhe.

»Vielleicht«, erwiderte er vorsichtig. »Nur kann die Polizei in solchen Fällen von weit größerer Hilfe sein als ich. Ihr steht der nötige Apparat zur Verfügung.«

Mrs Cloade tat die Polizei mit dem gleichen nachsichtigen Lächeln ab, das sie für die katholische Kirche übrig gehabt hatte.

»Nein, Monsieur Poirot. Die Stimmen aus der Geisterwelt haben mich zu Ihnen geführt, nicht zur Polizei. Hören Sie gut zu. Ein paar Wochen vor seinem Tod hat mein Schwager geheiratet. Eine junge Witwe, eine gewisse Mrs Underhay. Der erste Mann dieser Mrs Underhay soll in Afrika gestorben sein. Schrecklich für die junge Frau, finden Sie nicht? Sie erhielt aus Afrika einen Bericht über den Tod ihres Mannes. Ein geheimnisvolles Land – Afrika.«

»Ein geheimnisvoller Erdteil«, berichtigte Poirot sachlich. »Welcher Teil Afrikas war – «

»Zentralafrika«, fiel Mrs Cloade eifrig ein. »Wo die Voodoos und die Zombies – «

»Die Zombies sind in Westindien beheimatet«, wandte Poirot ein, doch nahm Mrs Cloade hiervon keine Notiz.

»– die schwarze Magie, seltsame Sitten und Gebräuche daheim sind«, fuhr sie mit dramatisch erhobener Stimme fort. »Ein von Geheimnissen umwobenes Land, in dem ein Mann untertauchen könnte, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.«

»Möglich, möglich«, gab Poirot zu. »Aber das Gleiche trifft auch auf Piccadilly Circus zu.«

Mrs Cloade tat Piccadilly als nicht zur Sache gehörig ab.

»Zweimal haben wir in jüngster Zeit die Botschaft eines Geistes erhalten, der sich selbst Robert nennt. Nicht tot… Die Botschaft stürzte uns zunächst in schreckliche Verwirrung. Wir konnten uns an keinen Robert erinnern. Wir baten um einen helfenden Hinweis, und da wurden uns die Buchstaben R. U. übermittelt. Erzähle R. hieß es weiter. Wir sollen Robert berichten?, erkundigten wir uns. Nein, hieß es, ihr sollt von Robert berichten. Wir standen noch immer vor einem Rätsel. Was soll denn das U bedeuten? forschten wir. Und da vernahmen wir den Takt einer Melodie. Ta-ta-ta tatata, ta-ta-ta tatata. Verstehen Sie?«

»Nein, ich verstehe kein Wort.«

Mrs Cloade betrachtete ihn mitleidig.

»Kennen Sie nicht das Kinderlied: Unter einem Heustock, unter einem Heustock… schläft ein kleiner Bub. Unter dem Heustock… begreifen Sie nun? Unter dem Heu, das bedeutet doch ganz offensichtlich Underhay.«

Poirot fand dies nicht ganz so offensichtlich, doch verzichtete er darauf, sich zu erkundigen, wieso der Name Underhay nicht buchstabiert werden konnte, wenn sich das Kunststück mit dem Namen Robert hatte vollführen lassen, und warum der Geist plötzlich zu einer Art primitivem Geheimdienst-Jargon seine Zuflucht nehmen musste.

»Und der Name meiner Schwägerin ist Rosaleen«, beendete Mrs Cloade triumphierend ihre Erzählung. »Diese vielen Rs sind natürlich ein wenig verwirrend, aber die Bedeutung liegt auf der Hand: Berichte Rosaleen, dass Robert Underhay nicht tot ist.«

»Und haben Sie es ihr berichtet?«

Die unverblümte Frage brachte Mrs Cloade etwas aus der Fassung, aber sie hatte sich gleich wieder im Griff.

»Tja, sehen Sie… das ist so… die Menschen neigen im Allgemeinen dazu, alles Unerwartete skeptisch zu betrachten. Ich war überzeugt, Rosaleen würde sehr skeptisch sein. Und außerdem würde es doch eine furchtbare Aufregung für sie bedeuten. Die Arme! Sie würde beunruhigt sein und wissen wollen, wo ihr früherer Mann steckt und was er treibt.«

»Was er treibt, abgesehen davon, seine Stimme durch den Äther zu senden, meinen Sie? Eine ungewöhnliche Methode, über den Stand des eigenen Befindens zu berichten, das muss man allerdings sagen.«

»Ach, Monsieur Poirot, Sie leben nicht in Verbindung mit der Geisterwelt. Und woher sollen wir wissen, welche Umstände ihn zu diesem Vorgehen veranlassten? Der arme Captain Underhay – oder ist er Major? – schmachtet vielleicht irgendwo im finsteren Afrika in grässlicher Gefangenschaft! Doch wenn man ihn aufspüren könnte? Wenn es gelänge, ihn in die Arme seiner geliebten Rosaleen zurückzuführen! Stellen Sie sich das Glück der jungen Frau vor, Monsieur Poirot! Oh, Monsieur Poirot, eine höhere Macht hat mich zu Ihnen geführt. Sie werden doch einen Auftrag aus der Geisterwelt nicht zurückweisen?«

Poirot betrachtete die exaltierte Dame kühl.

»Mein Honorar ist sehr hoch«, erklärte er höflich. »Man kann sogar sagen: außerordentlich hoch. Und die mir zugedachte Aufgabe scheint mir sehr schwierig.«

»Ach, du meine Güte… das ist wirklich unangenehm… wir befinden uns leider in etwas beschränkten Verhältnissen, schlechten Verhältnissen kann man ruhig sagen, schlechteren sogar, als mein Mann überhaupt ahnt. Ich habe nämlich Aktien erworben – einer spiritistischen Eingebung folgend –, und bis jetzt hat sich diese Eingebung als sehr wenig nutzbringend erwiesen, eher besorgniserregend, um die Dinge beim richtigen Namen zu nennen. Kaum hatte ich die Aktien gekauft, fielen sie, und im Augenblick stehen sie so niedrig, dass sie praktisch unverkäuflich sind.«

Sie blickte Poirot mit einem bangen Ausdruck an, als erwarte sie einen tröstlichen Rat von ihm.

»Ich habe bisher noch nicht den Mut gehabt, meinem Mann mein Pech einzugestehen. Ich habe es Ihnen nur erzählt, um Ihnen die Situation zu erklären, in der ich mich befinde. Aber denken Sie doch, mein lieber Monsieur Poirot, welch edelmütige Tat es wäre, ein junges Paar wieder zusammenzubringen.«

»Edelmut, chère madame, wird leider weder bei der Eisenbahn noch bei Fluggesellschaften oder Schifffahrtslinien in Zahlung genommen, und genauso wenig kann man damit Telegrammspesen decken.«

»Aber sobald er gefunden wird – ich meine, sobald Captain Underhay lebend gefunden wird –, steht es wirklich ganz außer Frage, dass Ihnen alle Auslagen ersetzt werden und Sie ein gutes Honorar bekommen.«

»Ah, er ist also reich, dieser Captain Underhay?«

»Nein, das nicht«, beeilte sich Mrs Cloade zu erwidern. »Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass es dann nicht die geringsten Schwierigkeiten bereiten wird, allen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen.«

Poirot schüttelte bedächtig den Kopf.

»Ich bedaure unendlich, Madame, aber meine Antwort lautet: nein.«

Es war nicht ganz einfach, die spiritistisch erleuchtete Dame dazu zu bringen, sich mit diesem abschlägigen Bescheid zu begnügen.

Als sie endlich gegangen war, blieb Poirot einen Moment lang sinnend stehen. Er erinnerte sich an das Gerede Major Porters im Club an jenem Tag, als man durch den Fliegeralarm dort festgehalten worden war. Die Geschichte des Majors, der niemand Aufmerksamkeit schenkte, hatte sich um einen Mann namens Cloade gedreht. Poirot erinnerte sich auch an das Zeitungsrascheln, das Aufstehen eines Herrn und die damit verbundene Bestürzung des Majors.

Doch mehr noch als diese Erinnerung beschäftigte ihn die sonderbare Dame, die ihn soeben verlassen hatte und über die er sich absolut nicht schlüssig werden konnte. Die spiritistische Ader, das teils forsche, teils vage Geplapper, der wehende Schal und die klirrenden Ketten und Armbänder voller Amulette, dazu das plötzliche schlaue Glitzern in den blassblauen Augen – das alles schien so gar nicht zusammenzupassen.

»Warum ist sie nur zu mir gekommen?«, fragte er sich. »Und was hat sich wohl in« – er warf einen Blick auf die Visitenkarte auf dem Tisch –, »in Warmsley Vale zugetragen?«

Genau fünf Tage nach dem seltsamen Besuch fiel Hercule Poirot eine Zeitungsnotiz ins Auge, die besagte, dass in Warmsley Vale, einem bescheidenen Dorf unweit der bekannten Warmsley-Heath-Golfanlage, ein Mann namens Enoch Arden tot aufgefunden worden war.

Und zum zweiten Mal fragte Poirot sich:

»Was hat sich wohl in Warmsley Vale zugetragen?«



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