Es war bereits acht Uhr vorbei, als Poirot wieder im »Hirschen«, eintraf. Er fand eine Botschaft von Frances Cloade vor, in der sie ihn bat, sie aufzusuchen. Er machte sich sogleich auf den Weg.
Frances Cloade empfing ihren Besucher im Salon.
»Sie haben mir prophezeit, dass ich Sie brauchen würde, Monsieur Poirot, und Sie haben Recht behalten. Es gibt etwas, was ich jemandem anvertrauen muss, und ich glaube, Sie sind die am ehesten geeignete Persönlichkeit, meine Geschichte zu hören.«
»Es ist stets leichter, Madame, sich jemandem anzuvertrauen, der mehr oder weniger ahnt, worum es geht.«
»Sie wissen, worüber ich reden will?«
Poirot nickte langsam.
»Und seit wann?«
»Seit ich die Fotografie Ihres Herrn Vater gesehen habe. Sie sehen sich sehr ähnlich. Ihre Verwandtschaft ist offenkundig. Und diese Familienähnlichkeit fand sich ebenso stark bei dem Fremden, der im ›Hirschen‹ ein Zimmer nahm und sich als Enoch Arden ins Fremdenbuch eintrug.«
Frances stieß einen bedrückten Seufzer aus.
»Sie haben es erraten. Obwohl der arme Charles einen Bart trug. Er war ein Vetter zweiten Grades von mir, Monsieur Poirot. Sehr nahe haben wir uns nie gestanden. Er war das schwarze Schaf der Familie. Und ich bin schuld an seinem Tod.«
Sie verfiel für einen Augenblick in Schweigen. Poirot drängte sanft:
»Wollen Sie mir nicht erzählen?«
Frances riss sich zusammen.
»Ja, es muss sein. Wir brauchten furchtbar dringend Geld. Damit begann alles. Mein Mann befindet sich in Schwierigkeiten, in sehr schlimmen Schwierigkeiten. Wir fürchteten, es könnte zu einer Verhaftung kommen. Aber eines möchte ich von vornherein klarmachen, Monsieur Poirot. Der Plan stammte von mir. Ich dachte ihn mir aus, und ich führte ihn durch. Meinem Mann wäre das alles viel zu riskant gewesen. Aber ich will der Reihe nach berichten.
Zuerst wandte ich mich an Rosaleen Cloade wegen eines Darlehens. Ich weiß nicht, ob sie es nicht gegeben hätte, aber ihr Bruder trat dazwischen. Er war an jenem Morgen besonders schlechter Laune und benahm sich ausfallender als gewöhnlich. Ausgesprochen frech, um es deutlich zu sagen. Und als mir später die Möglichkeit dieses Planes in den Sinn kam, hatte ich keine Bedenken, ihn auszuführen.
Ich überlegte, dass Zweifel am Tod Robert Underhays bestanden und dass man mit diesem Zweifel vielleicht etwas anfangen könnte. Mein Vetter Charles war mal wieder im Lande. Er war so ziemlich am Ende, hatte sogar im Gefängnis gesessen, glaube ich. Ich machte ihm meinen Vorschlag. Es war Erpressung, nichts anderes. Aber wir dachten, es würde uns gelingen. Schlimmstenfalls, überlegten wir, würde David Hunter eben nicht die verlangte Summe zahlen. Dass er zur Polizei gehen könnte, hielten wir für ausgeschlossen. Leute seines Schlages halten wenig von der Polizei und wollen lieber nichts mit ihr zu tun haben.
Es lief alles gut. Besser, als wir gehofft hatten. David kroch ihm auf den Leim. Charles gab sich natürlich nicht direkt als Robert Underhay aus. Rosaleen hätte ihn ja jeden Moment entlarven können. Aber als sie zu unserem Glück nach London fuhr, wagte Charles es, ein bisschen deutlicher zu werden und die Möglichkeit anzudeuten, er sei vielleicht selbst Robert Underhay. Wie gesagt: David ging auf die Erpressung ein. Er versprach, am Dienstagabend mit dem Geld zu kommen. Stattdessen…«
Ihre Stimme brach zitternd ab.
»Wir hätten uns klarmachen müssen, dass David ein gefährlicher Mensch ist. Hätte ich nicht diese unglückselige Idee gehabt, wäre Charles noch am Leben. Nun ist er tot… ermordet, und ich bin schuld.«
»Immerhin packten Sie eine weitere Gelegenheit beim Schopf, die Komödie bis zum Ende zu führen. Sie überredeten Major Porter, Ihren Vetter als Robert Underhay zu ›erkennen‹.«
Frances fuhr heftig auf.
»Ich schwöre Ihnen, damit habe ich nichts zu tun. Niemand war erstaunter als ich… was heißt: erstaunter! Aus allen Wolken fielen wir, als Major Porter öffentlich erklärte, Charles – mein Vetter Charles! – sei Robert Underhay. Ich begriff es einfach nicht. Ich begreife es immer noch nicht.«
»Aber jemand muss Major Porter aufgesucht und überredet haben. Jemand hat ihn bestochen, den Toten als Robert Underhay zu identifizieren. Wissen Sie übrigens, dass Major Porter sich heute Nachmittag erschossen hat?«
»Nein!« Frances fuhr zurück, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen. »Nein! O Gott!«
»Leider ist es so, Madame. Major Porter war im Grunde ein anständiger Mensch. Er befand sich in finanziellen Schwierigkeiten, und als die Versuchung an ihn herantrat, war er, wie so viele, zu schwach, ihr zu widerstehen. Wie wenig wohl er sich bei seiner Aussage vor Gericht fühlte, war ihm anzumerken. So weit hatte er sich bringen lassen. Doch nun sah die Situation anders aus. Ein Mensch war des Mordes angeklagt. Und von seiner Aussage über die Identität des Ermordeten hing vielleicht das Schicksal des Angeklagten ab.
Er kehrte heim in seine Wohnung und schlug den Ausweg ein, der ihm als einziger möglich schien.«
Frances erhob sich und trat ans Fenster.
»Da stehen wir also wieder am Anfang«, meinte sie langsam.