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Das offizielle Verhör der Voruntersuchung hatte begonnen. Der Coroner, Mr Pebmarsh, blinzelte hinter seinen Brillengläsern und war offensichtlich von der Wichtigkeit seiner Person zutiefst überzeugt.

Neben ihm saß breit und behäbig Inspektor Spence. Etwas abseits saß ein untersetzter, dunkelhaariger, fremdländisch anmutender Herr mit gepflegtem schwarzem Schnurrbart. Weiter waren die Cloades zugegen. Jeremy Cloade mit Frau, Lionel Cloade mit Frau, Rowley Cloade, Mrs Marchmont, Lynn – sie saßen alle beieinander. Etwas entfernt hatte sich Major Porter niedergelassen. Er machte den Eindruck eines Menschen, dem nicht ganz wohl ist in seiner Haut. David und Rosaleen betraten den Raum als Letzte. Sie suchten ihre Plätze abseits von den anderen.

Mr Pebmarsh räusperte sich Achtung gebietend und musterte ernst die neun Geschworenen, alles ehrenwerte Bürger der Gegend. Dann begannen die Verhöre.

Dr. Lionel Cloade wurde als erster aufgerufen.

»Sie befanden sich in Ausübung Ihrer beruflichen Tätigkeit im ›Hirschen‹, als Gladys Aitkin sich an Sie wendete. Was sagte sie?«

»Sie sagte, dass der Herr aus Nummer 5 tot am Boden läge.«

»Worauf Sie sich in Zimmer Nummer 5 hinaufbegaben?«

»Jawohl.«

»Beschreiben Sie, was Sie dort vorfanden.«

Dr. Cloade kam der Aufforderung nach. Leiche eines Mannes auf dem Boden… Verletzungen am Kopf… Schädeldecke eingeschlagen… Feuerzange…

»Und Sie waren der Meinung, dass die Verletzungen von Schlägen mit der Feuerzange stammten?«

»Einige rührten ohne Zweifel von der Feuerzange her.«

»Der Mann war tot?«

»Daran konnte kein Zweifel bestehen.«

»Was können Sie über den Zeitpunkt seines Todes sagen?«

»Ich möchte mich nicht auf einen allzu genauen Zeitpunkt festlegen. Es waren mindestens elf Stunden, möglicherweise aber auch dreizehn oder vierzehn Stunden seither vergangen. Der Tod muss zwischen halb acht und halb elf des vorangegangenen Abends eingetreten sein.«

Als Nächster wurde der Gerichtsmediziner um seine Meinung befragt. Der Mord sei mit brutaler Wildheit ausgeführt worden, erklärte er, doch sei nicht unbedingt große Körperkraft dazu nötig gewesen, da als Schlaginstrument die Feuerzange gedient habe. Der schwere eiserne Knauf mache die Feuerzange, mit beiden Händen an der Zangenseite gepackt, zu einer gefährlichen Waffe. Selbst eine Person von mittlerer Körperkraft könne, angetrieben von einem plötzlichen Wutausbruch, wuchtige Schläge damit austeilen.

Beatrice Lippincott schilderte das Eintreffen des Fremden im »Hirschen«. Er habe sich als Enoch Arden aus Kapstadt eingetragen.

»Händigte der Gast Ihnen seine Lebensmittelkarte aus?«

»Nein.«

»Fragten Sie ihn danach?«

»Nicht gleich. Ich wusste ja nicht, wie lange er zu bleiben beabsichtigte.«

»Aber später fragten Sie ihn danach?«

»Ja. Er kam am Freitag an, und am Sonnabend sagte ich ihm, falls er länger als fünf Tage bliebe, müsste ich ihn um seine Lebensmittelkarte bitten.«

»Und was antwortete er darauf?«

»Er sagte, er würde sie mir geben.«

»Aber er gab sie Ihnen nicht?«

»Nein. Er würde sie heraussuchen und mir geben, sagte er.«

»Haben Sie am Sonnabend Abend eine Unterhaltung zwischen dem Fremden und einer anderen Person mit angehört?«

Mit wortreichen Erklärungen der absoluten Notwendigkeit, zu der bewussten Zeit in Zimmer Nummer 4 die Wäsche gewechselt haben zu müssen, begründete Beatrice Lippincott mit leicht geröteten Wangen ihre Anwesenheit im Nebenzimmer und erging sich dann in einer nicht minder wortreichen Wiederholung der bewussten Unterhaltung.

»Erwähnten Sie das Gespräch zwischen den beiden Männern einem Dritten gegenüber?«

»Ja, ich weihte Mr Rowley Cloade ein.«

Einer der Geschworenen hatte eine Frage.

»Erwähnte der Ermordete in dem Gespräch irgendwann einmal, dass er selbst Robert Underhay sei?«

»Nein… nein, das habe ich nicht gehört.«

»Er sprach also von Robert Underhay, als ob dieser Robert Underhay ein anderer sei?«

»Ja, so war es.«

»Danke, ich wollte mir über diesen Punkt nur Klarheit verschaffen.«

Beatrice Lippincott wurde in Gnaden aus dem Zeugenstand entlassen, und Rowley Cloade trat an ihre Stelle.

Er bestätigte, dass Beatrice Lippincott ihm von der Unterhaltung zwischen den beiden Männern berichtet hatte. Dann schilderte er seine eigene Unterredung mit dem Ermordeten.

»Seine letzten Worte zu Ihnen waren also: ›Ohne meine Mithilfe werden Sie kaum jemals einen Beweis liefern können‹, und das bezog sich auf einen Beweis dafür, dass Robert Underhay noch am Leben sei?«

Mr Pebmarsh blickte Rowley streng an.

»Jawohl, das waren seine Worte. Und er lachte dazu.«

»Um welche Zeit verließen Sie Mr Arden?«

»Es muss etwa fünf Minuten vor neun gewesen sein.«

»Woher wissen Sie die Zeit so genau?«

»Als ich den ›Hirschen‹ verließ und am Haus entlangging, hörte ich durchs Fenster gerade den Glockenton, der immer vor den Nachrichten durchgegeben wird.«

»Erwähnte Mr Arden, zu welcher Zeit er den anderen Besucher erwartete?«

»Nein, er sprach nur vom gleichen Abend.«

»Ein Name fiel nicht?«

»Nein.«

Als Nächster wurde David Hunter aufgerufen. Alle Köpfe reckten sich, als der trotzig dreinblickende junge Mann den Zeugenstand betrat.

Die stets gleichen Fragen nach Name, Stand, Alter und Wohnort waren schnell beantwortet.

»Sie suchten den Ermordeten am Sonnabend Abend auf?«

»Ja. Er wandte sich brieflich an mich, behauptete, dass er meinen verstorbenen Schwager in Afrika gekannt habe, und bat um Unterstützung.«

»Haben Sie diesen Brief bei sich?«

»Ich habe ihn überhaupt nicht mehr. Ich hebe niemals Briefe auf.«

»Sie haben Beatrice Lippincotts Schilderung Ihres Gesprächs mit dem Fremden gehört. Entspricht diese Wiedergabe der Wahrheit?«

»Absolut nicht. Der Fremde behauptete, meinen verstorbenen Schwager gekannt zu haben, klagte im Übrigen über sein Pech und bat um eine Unterstützung, die er – das sagen sie ja alle – ganz bestimmt zurückzahlen werde.«

»Teilte er Ihnen mit, dass Robert Underhay noch am Leben sei?«

David lächelte.

»Im Gegenteil. Er sagte: ›Wenn Robert noch am Leben wäre, würde er mir helfen. Das weiß ich genau.‹«

»Ihre Wiedergabe unterscheidet sich aber wesentlich von Miss Lippincotts Schilderung des Gesprächs.«

»Lauscher fangen gewöhnlich nur einen Teil des Gesprächs auf, verstehen dann nicht recht, worum es geht, und füllen die Lücken mit Produkten der eigenen blühenden Phantasie.«

»Das ist doch…«, fuhr Beatrice wütend auf, doch der Coroner ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Ruhe im Saal!«, donnerte er.

»Suchten Sie den Fremden am Dienstagabend noch mal auf, Mr Hunter?«, ging das Verhör weiter.

»Nein.«

»Sie haben gehört, dass Mr Rowley Cloade ausgesagt hat, Mr Arden habe noch einen Besucher erwartet.«

»Sehr gut möglich, aber ich war dieser Besucher nicht. Ich hatte ihm schon eine Fünfernote gegeben und fand, damit sei die Sache erledigt. Schließlich hatte ich nicht einmal einen Beweis dafür, dass er meinen Schwager Underhay überhaupt gekannt hat. Seit meine Schwester das Vermögen ihres zweiten Gatten geerbt hat, ist sie die Zielscheibe sämtlicher Bittsteller dieser Gegend gewesen.«

Mit viel sagender Langsamkeit ließ er seinen Blick über die versammelten Cloades wandern.

»Wo befanden Sie sich am Dienstagabend, Mr Hunter?«

»Finden Sie es heraus, wenn Sie es wissen wollen«, war die patzige Antwort.

»Mr Hunter!« Der Coroner klopfte auf den Tisch. »Wenn Sie diese Haltung einnehmen, so lassen Sie sich gesagt sein, dass Sie unter Umständen sehr bald vor einem Gericht stehen werden, dem Sie Antwort zu erteilen gesetzlich verpflichtet sind.«

Ärgerlich griff Mr Pebmarsh nach dem Feuerzeug vor sich. »Kennen Sie das?«, fragte er barsch.

David beugte sich vor und nahm das Feuerzeug entgegen. Er betrachtete es einen Augenblick verwirrt und gab es dann wieder zurück.

»Es gehört mir«, gab er zu.

»Wo und wann hatten Sie es zuletzt?«

»Ich vermisste es – «

Er stutzte mitten im Satz.

»Ja?«, drängte der Richter.

»Am Freitag benutzte ich es zum letzten Mal, soweit ich mich erinnere. Freitagmorgen. Seither habe ich es nicht mehr in Händen gehabt.«

Major Porter war der nächste. Mit steifen Beinen stelzte er vor und stellte sich mit durchgedrückter Brust in Positur, durch und durch eine soldatische Erscheinung. Nur die Art, wie er wiederholt die Lippen mit der Zunge befeuchtete, verriet seine Nervosität.

Den Beginn der Einvernahme machte wie jedes Mal die Frage nach den Personalien.

»Wo und wann lernten Sie Robert Underhay kennen?«

Major Porter bellte seine Antwort in militärischer Knappheit heraus.

»Sie haben die Leiche in Augenschein genommen?«

»Jawohl.«

»Sind Sie imstande, die Leiche zu identifizieren?«

»Jawohl. Der Tote ist Robert Underhay.«

Ein Raunen ging durch den Saal.

»Sie hegen nicht den geringsten Zweifel?«

»Nicht den geringsten Zweifel«, echote der Major.

»Ein Irrtum ist ausgeschlossen?«

»Ausgeschlossen.«

»Danke, Major Porter. Und nun Mrs Gordon Cloade, bitte.«

Rosaleen erhob sich. Als der Major und sie aneinander Vorbeigingen, würdigte sie ihn keines Blickes, während er sie neugierig betrachtete.

»Sie haben in Gegenwart von Inspektor Spence die Leiche in Augenschein genommen, Mrs Cloade?«

»Ja.«

Ein Schauder rann über Rosaleens Körper.

»Sie erklärten, der Mann sei Ihnen unbekannt.«

»Ja.«

»Möchten Sie nach Major Porters eben gemachter Aussage Ihre Erklärung berichtigen oder zurückziehen?«

»Nein.«

»Sie bleiben dabei, dass es sich bei dem Toten nicht um Ihren ersten Mann, Robert Underhay, handelt?«

»Es war nicht mein Mann. Es war ein völlig Fremder.«

»Aber wie ist das möglich, wo Major Porter in dem Toten seinen Freund Robert Underhay erkannt hat?«

»Major Porter irrt sich«, erwiderte Rosaleen ruhig und ohne jede sichtbare Gemütsbewegung.

»Sie stehen nicht unter Eid, Mrs Cloade, aber voraussichtlich werden Sie binnen kurzem vor einem anderen Gerichtshof unter Eid aussagen müssen. Sind Sie bereit zu schwören, dass es sich bei dem Ermordeten um einen Ihnen gänzlich unbekannten Mann und nicht um Ihren ersten Gatten handelt?«

»Ich bin bereit zu beschwören, dass es nicht die Leiche meines ersten Gatten, sondern die eines mir völlig unbekannten Mannes ist«, bestätigte Rosaleen ausdruckslos.

Sie sprach klar und ohne zu zögern. Ihre Augen wichen dem Blick des Coroners nicht aus.

Mr Pebmarsh nahm die Brille von der Nase. Er hieß Rosaleen, sich wieder zu setzen, und wandte sich den Geschworenen zu.

Über die Todesart des Mannes bestand kein Zweifel. Es war weder Selbstmord noch Unfall. Hier liegt glatter Mord vor. Umstritten war nur noch die Person des Toten. Ein Mann von untadeligem Charakter und tadellosem Ruf, ein Mann, auf dessen Wort man sich verlassen konnte, hatte erklärt, es handle sich um Robert Underhay. Andrerseits hatten die Behörden seinerzeit den Tod Robert Underhays als genügend bewiesen erachtet und nicht gezögert, sein Hinscheiden in die amtlichen Bücher einzutragen. Im Widerspruch zu Major Porters Aussage behauptet die Witwe Robert Underhays, die jetzige Mrs Gordon Cloade, dass der Tote ein Fremder und nicht ihr erster Ehemann sei. Aussage stand also gegen Aussage. Abgesehen von der Frage der Identität des Mannes würde es den Geschworenen nun obliegen, darüber zu entscheiden, wer als Täter in Betracht kam. Man dürfe sich nicht von gefühlsmäßigen Eindrücken beeinflussen lassen, erklärte Pebmarsh. Zu einer Anklageerhebung gehörten Indizien der Täterschaft, Motive und Nachweis der Gelegenheit zur Vollbringung der Tat. Falls sich weder durch Zeugenaussagen noch andere Hinweise die Schuld einer bestimmten Person erhärten ließ, müsste man zu dem Schluss kommen: Mord, begangen von einem Unbekannten. Ein so lautendes Verdikt überließ es der Polizei, den Täter aufzuspüren.

Nach erfolgter Belehrung zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück. Sie brauchten nur eine Dreiviertelstunde.

Ihr Spruch lautete: Anklage gegen David Hunter wegen vorsätzlichen Mordes.

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