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»Da bist du ja, Lynn, ich habe dich gar nicht hereinkommen hören.« Adelas Stimme klang erleichtert. Sie plätscherte beruhigt fort: »Bist du schon lange da?«

»Ewigkeiten«, erwiderte Lynn ausweichend. »Ich war oben.«

»Ach, mir wäre es lieber, du würdest mir sagen, wenn du heimkommst. Ich bin immer unruhig, wenn ich dich nach Einbruch der Dunkelheit draußen herumstreifen weiß.«

»Das ist doch weiß Gott übertrieben, Mama. Meinst du nicht, ich bin imstande, auf mich selbst Acht zu geben?«

»Man liest aber immer so furchtbare Sachen in der Zeitung. Was in letzter Zeit alles passiert! Und die vielen entlassenen Soldaten… sie belästigen Frauen und Mädchen.«

»Wahrscheinlich wollen die Frauen und Mädchen belästigt werden.«

Lynn musste wider Willen lächeln, aber es war kein frohes Lächeln.

Sehnten die Frauen sich insgeheim nicht nach Gefahren?

Wer wollte letzten Endes denn schon sicher sein…?

»Lynn! Du hörst mir überhaupt nicht zu.«

Lynn riss sich zusammen. Sie hatte wirklich nicht zugehört.

»Ja, Mama? Was hast du gesagt?«

»Ich sagte gerade, hoffentlich haben deine Brautjungfern genügend Kupons, um sich Kleider für die Hochzeit machen lassen zu können. Ein Glück, dass du bei der Entlassung deine Kupons nachträglich bekommen hast. Die armen Mädchen, die heiraten müssen mit den paar Textilkupons, die einem gewöhnlich zustehen, tun mir schrecklich leid. Sie können sich überhaupt nichts Neues anschaffen. Ich meine, keine neuen Kleider. Die Unterwäsche ist meist in einem solchen Zustand nach diesen Kriegsjahren, wo nichts ersetzt werden konnte, dass man zuerst einmal daran denken muss, nun, und da bleibt für ein Hochzeitskleid nichts mehr übrig. Du hast großes Glück, Lynn.«

»Ja – großes Glück.«

Sie bewegte sich durch das Zimmer, nahm hier etwas auf, legte es ein paar Schritte weiter wieder ab und stand keine Minute still.

»Du bist so entsetzlich rastlos, meine Liebe«, klagte Adela. »Ist etwas los?«

»Was soll denn los sein?« Lynns Ton war scharf.

»Spring mir nicht gleich an die Kehle. Aber, um auf die Brautjungfern zurückzukommen: Ich finde, du solltest unbedingt Joan Macrae bitten. Ihre Mutter war meine beste Freundin, und sie wäre gekränkt, wenn – «

»Aber ich hasse Joan Macrae! Ich konnte sie nie ausstehen.«

»Ich weiß, Liebste, aber das ist doch nicht so wichtig. Marjorie wäre außer sich – «

»Schließlich ist es doch meine Hochzeit, Mama.«

»Natürlich, Lynn, natürlich, aber ich dachte – «

»Wenn es überhaupt zu einer Hochzeit kommt.«

Die Worte waren ihr entschlüpft, bevor sie sich überlegte, was sie da sagte. Nun war es zu spät. Sie ließen sich nicht mehr zurücknehmen. Adela Marchmont starrte ihre Tochter fassungslos an.

»Was soll das heißen, Lynn?«

»Ach, nichts, Mama.«

»Du hast dich doch nicht etwa mit Rowley gestritten?«

»Aber nein, Mama, reg dich nicht auf und sieh keine Gespenster. Es ist nichts.«

Doch Adela ließ sich nicht so leicht abspeisen. Sie spürte den Sturm der widerstreitenden Gefühle, dem ihre Tochter ausgesetzt war.

»An der Seite Rowleys wärst du geborgen und sicher«, bemerkte sie zögernd. »Der Überzeugung war ich immer.«

»Wer will schon sicher sein?«, fragte Lynn abweisend. Sie blieb plötzlich stehen und horchte.

»War das das Telefon?«

»Nein. Erwartest du einen Anruf?«

Lynn schüttelte verneinend den Kopf. Wie demütigend es war, auf einen Anruf zu warten! Er hatte gesagt, er würde sie noch heute Abend anrufen. Er musste sein Versprechen halten. Du bist verrückt, schalt sie sich gleich darauf.

Was war es nur, das ihr so gut gefiel an David Hunter? Sein dunkles, unfrohes Gesicht erschien vor ihren Augen. Sie versuchte es zu verscheuchen und sich an seiner Stelle den stets freundlichen, gutmütigen Rowley vorzustellen. Wieder fragte sie sich, ob Rowley sie wirklich liebte. Wie hatte er ihr dann die Bitte abschlagen können, ihr fünfhundert Pfund zu beschaffen? Er hätte sie verstehen müssen, anstatt mit Vernunftsgründen und sachlichen Einwänden zu argumentieren. Wie würde das sein, wenn sie Rowley heiratete, mit ihm auf der Farm lebte, für immer und ewig an die gleiche Scholle gebunden; nie mehr fremde Länder sehen, nie mehr fremden Menschen begegnen, nie mehr eine fremde Atmosphäre erleben, nie mehr Freiheit in vollen Zügen genießen…

Das Telefon schrillte.

Lynn holte tief Atem, dann ging sie quer durch die Halle und nahm den Hörer ab.

Wie ein unerwarteter heftiger Schlag traf der Klang von Tante Kathies Stimme ihr Ohr.

»Bist du’s, Lynn? Ach, bin ich froh, dass du da bist. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Ich glaube, ich habe wegen der Versammlung im Institut ein unverzeihliches Durcheinander angerichtet. Nämlich – « Und die Stimme plätscherte ohne Pause fort.

Lynn hörte zu, warf die von ihr erwarteten Bemerkungen ein, redete zu, nahm höflich überschwänglichen Dank entgegen.

»Ich begreife gar nicht, was das ist«, fuhr Tante Kathie fort. »Jedes Mal, wenn ich etwas organisiere, kommt ein Durcheinander heraus.«

Lynn begriff es ebenso wenig, aber eines stand fest: Zum Durcheinanderbringen selbst der einfachsten Dinge besaß Tante Kathie eine geradezu geniale Begabung.

»Und mein Pech ist, dass immer alles Unangenehme zusammentrifft. Unser Telefon ist kaputt, und ich musste zu einer Telefonzelle gehen. Und wie ich meine Tasche aufmache, sehe ich, dass ich keine Münzen habe. Ich musste erst jemanden fragen, ob er mir vielleicht wechseln könnte…«

Es folgte eine lange Geschichte all der Nöte, die Tante Kathie hatte durchstehen müssen. Endlich konnte Lynn den Hörer wieder auflegen. Langsam kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.

»War das –?«, begann Mrs Marchmont forschend, brach jedoch dann ab.

»Tante Kathie«, gab Lynn müde Auskunft.

»Was wollte sie denn?«

»Ach, ihr Leid klagen wie üblich. Sie hat wieder irgendetwas durcheinander gebracht und weiß sich keinen Rat.«

Lynn nahm ein Buch zur Hand und setzte sich. Verstohlen blickte sie auf die Uhr. Es würde kein Anruf mehr kommen. Doch fünf Minuten nach elf Uhr läutete das Telefon. Ohne jede Eile begab sie sich in die Halle. Vermutlich war es wieder Tante Kathie.

»Ist dort Warmsley Vale 34? Voranmeldung für Miss Lynn Marchmont aus London.«

Ihr Herz klopfte erregt.

»Am Apparat.«

»Einen Augenblick bitte.«

Sie wartete. Verwischte Geräusche drangen an ihr Ohr, dann herrschte Ruhe. Der Telefondienst wurde immer unzuverlässiger. Sie wartete geraume Zeit. Schließlich sagte eine unpersönliche Frauenstimme: »Legen Sie bitte auf. Wir melden uns, sobald Ihr Gespräch kommt.«

Sie legte den Hörer auf und ging zurück zur Tür. Sie hatte die Hand noch auf der Klinke, als das Telefon abermals schrillte. Schnell lief sie zurück.

»Hallo?«

Eine Männerstimme erklang: »Warmsley Vale, Nummer 34? Miss Lynn Marchmont wird aus London verlangt.«

»Ja, am Apparat.«

»Einen Augenblick bitte.« Und gleich darauf, leiser: »Sie können sprechen.«

Und dann kam Davids Stimme. »Bist du’s, Lynn?«

»David!«

»Ich musste dich sprechen.«

»Ja…«

»Lynn, ich glaube, es ist besser, ich mache mich aus dem Staub…«

»Was meinst du damit?«

»Ich verlasse England. Es hat ja doch alles keinen Sinn, Lynn. Du und ich – wir passen nicht zueinander. Du bist ein lieber Kerl, Lynn, du verdienst etwas Besseres als mich. Ich kann’s nicht ändern, ich war immer so – Verantwortungsgefühl liegt mir nicht. Und ich fürchte, so werde ich mein Leben lang bleiben. Ich würde mir steif und fest vornehmen, mich zu bessern, solide und ehrenhaft zu werden – und das Ende vom Lied wäre, dass du unglücklich bist und ich der gleiche unstete Geselle geblieben bin, der ich war. Nein, Lynn, heirate Rowley. Bei ihm wirst du nie eine Stunde der Angst oder Unruhe kennen lernen, während dein Leben an meiner Seite die Hölle wäre.«

Lynn stand da, den Hörer am Ohr. Sie gab keinen Ton von sich.

»Lynn! Bist du noch da?«

»Ja, ich bin da.«

»Du sagst ja gar nichts.«

»Was ist da zu sagen?«

»Lynn…?«

»Ja.«

Sonderbar, wie sie trotz der Entfernung seine Erregung verspürte, die Spannung, in der er sich befand.

David sagte mit unterdrückter Stimme: »Ach, hol doch alles der Teufel!«, und warf den Hörer auf die Gabel.

In diesem Augenblick kam Mrs Marchmont aus dem Wohnzimmer und fragte: »War das –?«

»Eine falsche Nummer«, wehrte Lynn alle weiteren Fragen ab und lief rasch hinauf in ihr Zimmer.



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