20


Das Telefon klingelte, und Lynn eilte an den Apparat. »Lynn?«

Es war Rowley.

»Rowley?« – Ein fremder Ton klang in Lynns Stimme mit.

»Was ist los mit dir?«, erkundigte sich Rowley. »Man sieht dich ja gar nicht mehr.«

»Ach, die Zeit verfliegt nur so, ich weiß es selbst nicht. Man muss sich für alles anstellen, am Morgen für Fisch und am Nachmittag für ein Stückchen klebrigen Kuchen, und im Handumdrehen ist so ein Tag herum. Das ist das gemütliche Leben daheim heutzutage.«

»Ich muss dich sehen. Etwas Wichtiges.«

»Was gibt’s denn?«

»Gute Nachrichten. Komm zum oberen Hügel. Wir pflügen dort.«

Gute Nachrichten? Nachdenklich hängte Lynn ein. Was bezeichnete Rowley Cloade wohl als eine gute Nachricht? Vielleicht hatte er den jungen Stier zu einem besseren Preis als vorgesehen verkaufen können?

Nein, es musste etwas Bedeutenderes sein als das. Sie machte sich auf den Weg. Als sie sich dem bezeichneten Hügel näherte, kletterte Rowley vom Traktor und kam ihr entgegen.

»Tag, Lynn.«

»Tag, Rowley. Nanu… du siehst ja ganz verändert aus!«

»Das will ich meinen. Ich habe auch allen Grund dazu. Das Blatt hat sich gewendet, und zwar diesmal zu unserem Vorteil, Lynn.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Erinnerst du dich an einen gewissen Hercule Poirot, von dem Onkel Jeremy einmal erzählte?«

»Hercule Poirot?« Lynn überlegte. »Mir ist, als hätte ich den Namen schon gehört.«

»Es liegt bereits einige Zeit zurück. Es war noch während des Krieges. Und Onkel Jeremy kam aus diesem Mausoleum von einem Club, dem er angehört, und erzählte von mehreren Leuten, die er dort getroffen hatte. Vor allem von diesem sonderbaren kleinen Mann. Trägt ausgefallene Kleidung und einen komischen Schnurrbart, aber er ist nicht auf den Kopf gefallen. Franzose oder Belgier wird er wohl sein.«

Lynn schien es zu dämmern.

»Ist er nicht ein Detektiv?«

»Stimmt. Und jetzt paß gut auf, Lynn. Ich weiß nicht wieso, aber mir ging es einfach nicht aus dem Kopf, dass der Mann, der im ›Hirschen‹ ermordet worden ist, Robert Underhay sein könnte. Rosaleens erster Mann.«

Lynn lachte.

»Bloß, weil er sich Enoch Arden genannt hat, verdächtigst du ihn? Das ist doch verrückt.«

»So verrückt nun auch wieder nicht, meine Liebe. Inspektor Spence hat scheint’s nicht viel anders gedacht, denn er brachte Rosaleen her, damit sie sich den Toten anschaut und ihn identifiziert. Sie behauptet allerdings steif und fest, es sei nicht ihr erster Mann.«

»Dann ist doch erwiesen, dass dein Argwohn unbegründet war.«

»Damit hätte man sich abgefunden, wäre ich nicht hartnäckig geblieben«, erklärte Rowley fest.

»Wieso? Was hast du denn gemacht?«

»Ich suchte diesen Hercule Poirot auf und fragte ihn, ob er nicht jemanden aufspüren könne, der Robert Underhay gekannt hat. Und was soll ich dir sagen? Wie ein Zauberer Kaninchen aus dem Hut produziert, brachte dieser Poirot im Handumdrehen einen Mann zum Vorschein, der mit Robert Underhay gut befreundet war. Ein ehemaliger Offizier namens Porter. Und dieser Porter war ganz sicher – aber das behalte bitte für dich, Lynn –, dass der Tote Robert Underhay ist.«

»Was?« Lynn trat einen Schritt zurück.

Sie starrte Rowley ungläubig an.

»Robert Underhay, jawohl. Wir haben gewonnen, Lynn. Jetzt haben diese Schwindler das Nachsehen.«

»Welche Schwindler?«

»Hunter und seine Schwester. Sie können sehen, wo sie bleiben. Aus der Traum. Rosaleen bekommt Gordons Geld nicht in die Finger. Wir bekommen es. Diese Entdeckung beweist klar, dass Rosaleen nicht Witwe war und darum auch nicht wieder heiraten konnte, und demnach ist das Testament rechtskräftig, das Gordon als Junggeselle gemacht hatte. Laut diesem Testament wird das Geld unter uns geteilt. Und ich bekomme ein Viertel. Wenn Robert Underhay noch am Leben war, als Rosaleen Gordon heiratete, war diese Heirat ungültig. Begreifst du nicht?«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher. Nun kommt alles so, wie Gordon es gewollt hätte. Es ist wieder, wie es früher war, bevor sich dieses Schwindlerpaar hier einnistete.«

Wieder wie früher? Kaum, dachte Lynn. Wie wollte man Geschehenes mit einem Federstrich löschen? Geschehenes ließ sich nicht ungeschehen machen.

»Was soll aus ihnen werden?«

»Hm?«

Lynn merkte, dass Rowley diese Seite der Angelegenheit überhaupt nicht bedacht hatte.

»Was weiß ich…«, wehrte er ungeduldig ab. »Sie werden wohl dorthin zurückgehen, wo sie hergekommen sind.«

Langsam dämmerte ihm, was sie meinte.

»Ich denke, Rosaleen handelte in gutem Glauben, als sie Gordon heiratete. Sie war sicher überzeugt, ihr erster Mann sei tot. Es ist nicht ihr Fehler. Nein, du hast Recht. Wir müssen uns um sie kümmern. Vielleicht kann man ihr eine monatliche Summe aussetzen. Wir müssen das gemeinsam besprechen.«

»Du magst sie, nicht wahr?«

»Sie ist ein liebes Geschöpf«, gab Rowley bedächtig zu. »Und sie versteht etwas von Landwirtschaft.«

»Ich verstehe nichts davon«, meinte Lynn.

»Du wirst es lernen«, erwiderte Rowley liebevoll.

»Und was wird aus David?«, fragte Lynn leise.

»Der soll sich zum Teufel scheren. Was ging ihn Onkel Gordons Geld überhaupt an? Er heftete sich wie eine Klette an seine Schwester und nutzte sie aus. Ein Schmarotzer.«

»Das ist nicht wahr, Rowley. Jetzt bist du ungerecht. David ist kein Schmarotzer, ein Abenteurer vielleicht – «

»Und ein skrupelloser Mörder.«

»Das glaube ich nicht! Das glaube ich nicht!«

»Wer sonst soll Underhay ermordet haben? Hunter war hier an dem betreffenden Tag. Er kam mit dem Halb-sechs-Uhr-Zug. Ich hatte unten am Bahnhof etwas in Empfang zu nehmen und sah ihn von weitem.«

»Er fuhr an jenem Abend nach London zurück«, entgegnete Lynn heftig.

»Ja, nachdem er Underhay getötet hatte«, versetzte Rowley triumphierend.

»Wie kannst du nur eine solche Behauptung aufstellen, Rowley. Um welche Zeit wurde Underhay denn ermordet?«

»Genau weiß ich’s nicht.« Rowley besann sich. »Und vor der Verhandlung morgen werden wir es auch kaum erfahren, denke ich. – Es wird wohl zwischen neun und zehn Uhr abends gewesen sein.«

»David hat den 9-Uhr-20-Zug nach London noch erreicht«, versetzte Lynn eifrig.

»Woher willst du das wissen, Lynn?«

»Weil ich ihn zufällig traf, als er zum Bahnhof rannte.«

»Und woher weißt du, dass er den Zug noch erreichte?«

»Weil er mich später von London aus angerufen hat.«

»Was hat der Kerl dich anzurufen?«, grollte Rowley. »Das passt mir nicht, Lynn, ich sage dir – «

»Ach, reg dich nicht auf, Rowley, es hat nicht das Geringste zu bedeuten. Es beweist aber, dass er den Zug noch erwischt hat.«

»Er hatte übergenug Zeit, den Mord zu begehen und dann zum Bahnhof zu laufen.«

»Unmöglich, wenn Arden nach neun Uhr ermordet worden ist.«

»Vielleicht wurde er kurz vor neun Uhr ermordet.«

Rowleys Stimme klang nicht mehr ganz so sicher. Seine Theorie war erschüttert worden.

Lynn schloss die Augen. Entsprach Rowleys Verdacht der Wahrheit? War David vom »Hirschen«, hergerannt gekommen, ein Mörder, der vom Tatort floh, als er sie küsste? Seine sonderbar euphorische Stimmung fiel ihr ein, die verhaltene Erregung, in der er sich befunden hatte. War dies die Nachwirkung eines Mordes gewesen? Und war es David Hunter zuzutrauen, dass er einen Menschen ermordet, der ihm nie ein Leid zugefügt hatte? Nur, weil er zwischen Rosaleen und einem großen Vermögen stand?

»Warum hätte David Hunter Underhay ermorden sollen?«, murmelte sie, aber es klang wenig überzeugend.

»Wie kannst du nur fragen, Lynn! Ich habe dir doch eben erklärt, dass wir Onkel Gordons Geld bekommen, wenn sich beweisen lässt, dass Underhay noch lebt oder jedenfalls zur Zeit der Eheschließung von Rosaleen und Gordon Cloade noch gelebt hat. Außerdem versuchte Underhay, David zu erpressen.«

Das ist etwas anderes, dachte Lynn. Mit einem Erpresser würde David nicht viel Federlesens machen. Es ließ sich vorstellen, dass er, in Wut gebracht, zuschlug. Und die Erregung nach der Tat, der kurze Atem, seine hastige, fast ärgerliche Zärtlichkeit ihr gegenüber und später dann die Bemerkung: »Ich mache mich besser aus dem Staub.« Ja, es passte alles zusammen.

»Was ist dir, Lynn? Fühlst du dich nicht wohl?«

Wie aus weiter Ferne drang Rowleys Stimme an ihr Ohr.

»Was soll mit mir sein? Nichts.«

»Dann mach kein so bedrücktes Gesicht. Stell dir vor, jetzt können wir wenigstens ein paar Maschinen anschaffen, die uns eine Menge Arbeit ersparen. Es wird ein ganz anderer Zug in den Betrieb kommen. Du sollst es schön haben, Lynn…«

Er sprach von ihrem zukünftigen Heim, von dem Haus, in dem sie mit ihm leben würde…

Und an einem Morgen zu früher Stunde würde David Hunter am Galgen…

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